Danach ließ Luke sich gut einen Monat lang nicht mehr blicken. Erst, als der erste Herbstregen fiel, schob sich sein schlanker Körper wieder durch die klimpernden Perlenketten, die bald einem schweren Vorhang weichen würden. Ich bemerkte ihn nicht sofort, sondern hörte nur seine leise Stimme, die mit der aufgeregten Nico sprach. Dennoch schlug mein Herz sofort schneller. Zumindest wusste ich jetzt, dass das nicht von dem Ecstasy allein kam; Ich hatte schon seit gestern nichts mehr genommen. Obwohl ich eigentlich aufhören wollte. Verdammt, ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so schnell verlieben könnte; sofern man hierbei von Liebe sprechen konnte. Allerdings könnte das Herzklopfen auch daher kommen, dass ich mich für mein Verhalten bei unserem letzten Treffen schäme. Das war nicht wirklich angemessen.
Hinter einem dünnen Plastikvorhang war ich gerade dabei, einer Kundin ein Tattoo zu stechen. Es war ein Schriftzug, durchflochten mit diversen Blumen. Außen waren die Blüten Blau und Violett, bei den Buchstaben aber sollten die Farben zu einem warmen orangerot werden. Ein Motiv, das ich eigens für Jessica angefertigt hatte.
Jessica Stitz war eine junge Frau Ende zwanzig, die vielleicht hübsch sein könnte, wenn man ihr nicht deutlich ansehen würde, dass das Leben ihr nicht gut mitgespielt hatte. Die Wangen waren eingefallen, als ob zu viele Tränen die Haut mit sich hinab gezogen hätten, und vom Frustfressen hatte sich ein kleiner Speckring um ihren an sich schlanken Bauch angesammelt. Dennoch war sie alles andere als hässlich. Sie hatte eine niedliche Stupsnase und bewegte sich würdevoll, nahezu grazil, als würde sie nichts von den zusätzlichen Kilos wissen. Alle negativen Dinge fegte sie mit einem Lächeln weg, doch wahrscheinlich wurde sie öfter und tiefer verletzt, als sie zugeben wollte.
Sie war schon oft hier gewesen, und all ihre Tattoos habe ich ihr gestochen. Es waren verschiedene Motive; Angefangen bei einer kleinen Rune hinter dem Ohr, deren Bedeutung ich nicht kenne, über eine Comicfigur am Gesäß, bis hin zu dieser aufwändigen Zeichnung. Inzwischen dürfte gut die Hälfte ihrer Hülle von Tinte durchsetzt sein. Ich habe nie gewagt, den genaueren Sinn dahinter zu verstehen oder gar danach zu fragen, das war schließlich auch nicht meine Aufgabe. Ich brachte ihr die Motive lediglich unter die Haut, während wir in angenehmen Schweigen beieinander waren, meistens mit einer leisen Hintergrundmusik, die nicht dazu gemacht wurde, leise gespielt zu werden.
"Ich brauche mal 'ne Pause", sagte sie, als ich gerade bei der Hälfte angekommen war.
Ich nahm mir zwei Sekunden, um die Linie zu Ende zu stechen, dann legte ich meine Utensilien zur Seite und lehnte mich zurück. "Alles klar", antwortete ich, indem ich meine Arme streckte, "Willst du einen Kaffee haben?"
"Gerne", säuselte sie und hievte sich von der Liege. Man sah ihr an, dass die frische Wunde noch schmerzte. Mir würde es leid tun, wäre ich nicht bereits an solches Verhalten gewöhnt. Trotz des Schmerzes an ihrem Schulterblatt warf sie sich eine dünne Jacke über und schob den Vorhang zur Seite. In dem kurzen Moment, in dem er gegen die Metallstange schwang, konnte ich ihn sehen. Er saß mit Nico an dem schmalen Tisch, der am Fenster stand. Von der plötzlichen Bewegung erschrocken, zuckte er von einer kauernden Haltung in eine aufrechte Position, der Kopf drehte sich ruckartig zu mir. In dem kurzen Moment, in dem der Vorhang gegen die Metallstange schwang, traf sich unser Blick und kurz kam es mir so vor, als würde er ewig dauern.
Bis Jessica grüßend die Hand hob. "Hi", lächelte sie und setzte sich auf den gepolsterten Sessel neben Luke. "Was dagegen, wenn ich eine rauche?"
Luke schüttelte langsam den Kopf und sackte zurück in seine kauernde Position. Er erinnerte mich ein wenig an eine Puppe, die niemand mehr haben wollte und weggeworfen wurde.
"Ich mache einen Kaffee", erklärte ich kurz, "Wollt ihr auch einen?"
Nico deutete auf die Theke. "Meine Tasse steht da." Während ich das Gefäß holte, ließ sie ihren Blick langsam und genüsslich über Jessica wandern. "Was sticht er dir denn heute?", fragte sie und schaffte es irgendwie, diese Frage anzüglich klingen zu lassen. Ich glaube, der einzige Grund, weshalb Jessica und Nico noch nicht in der Kiste gelandet waren, war der, dass sie einfach eine zu gute Kundin war und Nico das nicht ruinieren wollte.
"Blumen", antwortete Jessica abgelenkt, während sie ihre Zigarette anzündete. "Mit 'nem Spruch drauf." Es tat schon ein wenig weh, dass sie meine kunstvolle Arbeit so schlicht beschrieb. Aber naja, nicht meine Baustelle. Ich stach nur, im Endeffekt konnte sie damit machen, was sie wollte.
"Was für ein Spruch denn?", setzte Nico ihren erotisch angehauchten Smalltalk fort.
Rauch erfüllte die Luft, und ich sah, wie Luke vergeblich versuchte, sein Husten zu unterdrücken. Er drehte sich um und starrte mich mit einem kritischen Blick an. "Wolltest du nicht Kaffee holen?", fragte er barsch.
Mein Blick wanderte von ihm runter zur Tasse. "Ja", bestätigte ich, ohne mich zu bewegen.
Luke seufzte. "Schon gut, ich hole ihn selbst." Damit sprang er von seinem Sessel runter und schlurfte an mir vorbei zur Küche.
Verdattert folgte ich ihm. Warum sprach er auf einmal so viel? Vorhin war er doch noch scheuer als ein Feldhase gewesen. Andererseits war mir das nur Recht. Das machte die gesamte Situation zumindest ein bisschen weniger merkwürdig.
Obwohl er gerade noch sehr selbstbewusst gegangen war, drehte er sich nun leicht hilflos zu mir um. "... Wo habt ihr eure Tassen?", fragte er beschämt.
Mir entfuhr ein belustigtes Schnauben. "In dem Schrank da." Ich lehnte mich an die Tür, während ich mir Luke noch einmal ansah. Er trug noch immer die Sachen, die ich ihm vor über einem Monat gegeben hatte, und sein Haar war wieder total zerzaust. Außerdem war er wirklich dürr. "Brauchst du neue Klamotten?", fragte ich mit gerunzelter Stirn.
Überrascht drehte er sich um, zwei Tassen in den Händen. "Was?"
"Kleidung. Anziehsachen. Du hast immer noch meine Sachen an."
Er sah an sich hinab. "Eh... Nein. Also, ja, aber nicht von dir, also schon, ich meine, nicht wegen dir, ich will nur keine Belastung sein, ..." Seine Stimme wurde immer dünner, bis er schließlich den Kopf hängen ließ und schwieg.
Ich musste Lachen. "Du bist niedlich", kicherte ich, und als ich mich wieder beruhigt habe, fügte hinzu: "Ich hole dir eben ein paar Sachen. Die da kann ich waschen, dann kannst du sie später noch mal tragen."
Hinter seiner blonden Mähne konnte ich sehen, dass Luke knallrot anlief. "Danke", nuschelte er und füllte den Kaffee um.
Der Rest des Nachmittages verlief ziemlich ereignislos. Luke servierte den Kaffee wie ein Profi und zog ein zweites Mal meine Klamotten an, nachdem ich ihn dazu überredet hatte, wenigstens kurz zu duschen. Nico flirtete unablässig weiter mit Jessica, die halbherzig versuchte, sie zu ignorieren, aber eben auch nur halbherzig. Als die Zigarette geraucht und der Kaffee getrunken war, ging ich wieder an die Arbeit, wurde aber wie erwartet nicht fertig, weshalb ich mich mit Jessica auf einen weiteren Termin einigte.
"Wo ist Luke?", fragte ich Nico, nachdem meine Kundin sich verabschiedet hatte. Sein Gitarrenkoffer stand noch im Flur, also konnte er nicht weg sein.
Nico zuckte mit den Schultern. "Er war müde, also habe ich ihm die Wohnungsschlüssel gegeben."
"Einfach so!?", schoss es aus mir heraus. "Du kennst ihn doch gar nicht!" Das war verantwortungslos. Gut, gerade ich sollte nicht von Verantwortung sprechen, aber Nico war immer die Vernünftigere von uns gewesen. Und jemand Fremdem einfach so die Schlüssel zur Wohnung zu geben war definitiv nicht vernünftig, auch wenn dieser Fremder sehr, sehr süß war.
Ein wissendes Grinsen schlich sich auf Nicos Lippen und sie lehnte sich ein wenig vor. "Als ob du etwas anderes getan hättest. Ich mache mir ehrlich gesagt mehr Sorgen darum, dass du etwas anstellst. Luke ist in Ordnung. Wo ist dein Vertrauen in die Menschheit?"
"Hab ich für Ecstasy verkauft. Nein, Spaß. Ich gucke mal nach ihm. Nicht, dass er was mitgehen lässt."
"Als ob. Nicht alle Straßenkinder sind gleich kriminell."
Missbilligend zog ich eine Braue hoch. "Als ob du nie geklaut hast."
Nico verzog den Mund. Ihre Finger klopften auf die Armlehne. "Guter Konter", flüsterte sie, die Stimme kaum mehr als ein Krächzen. "Hab ich aber nie gerne gemacht."
"Aber du hast es getan." Ein verletzter Ausdruck zierte ihr Gesicht, das sie von mir abwendete. "Sorry. Das war nicht nett", fügte ich leise hinzu, "Ich kann mir echt nicht vorstellen, wie es da ist."
"Kannst du nicht", bestätigte sie und sich grinste mich wieder wissend an, wie ich sie kannte. "Jetzt geh mal zu deinem Darling hoch. Er wartet bestimmt schon sehnsüchtig."
Ich nickte nur und drehte mich um, damit sie meine errötenden Wangen nicht sah. Den Weg nach oben in die Wohnung begleitete mich der Gedanke an Luke, der in meinem Bett liegt, das nasse Haar, das das Laken feucht macht, das übergroße Shirt, das an seinem Bauch ein wenig hochrutscht... Mit meinem Kopfschütteln scheuchte ich die Bilder weg, während ich die Tür aufstieß. Die durfte ich nicht einmal zum Wichsen benutzen, dafür ist er Nico zu wichtig.
"Luke?", rief ich. Keine Antwort, also ging ich tiefer in die Wohnung. Stieß Nicos Zimmertür auf, die von der Küche, dann meine. Okay, in meinem Zimmer war er schon mal nicht. Schade. Dann blieb nur noch das Wohnzimmer. "Luke?", sagte ich leise. "Bist du hier?" Der Fernseher flimmerte leise, es lief irgendeine Sitcom auf Super RTL. Auf unserem abgewetzten Sofa, das mit dem Rücken zur Tür stand, konnte ich einen blonden Haarbüschel ausmachen. Unwillkürlich musste ich lächeln. "Hey. Luke." Ich ging um die Couch herum, und da lag er. Die Beine angewinkelt, die Arme um sich geschlungen, den Kopf auf die Lehne gebettet. Sein Mund war leicht geöffnet. Ich wusste nicht, ob ich jemals etwas so Friedliches, so Verletzliches gesehen hatte. Ein paar Sekunden gönnte ich mir noch diesen Anblick, bevor ich eine kuschelige Decke aus dem Schrank holte und über ihn ausbreitete. Wer wusste schon, wann er das letzte mal warm und behütet schlafen konnte? Ich wollte jedenfalls auf ihn aufpassen. Das war der zweite Entschluss, den ich für ihn fasste.