Es dauerte nicht mehr lange, bis auch Nico in die Küche flatterte. Auf ihrem Rücken trug sie eine andere junge Frau mit kurzen brauen Haaren. Kichernd versteckte sie ihr Gesicht in ihrem Nacken, und auch Nico sah zur Abwechslung mal wieder einigermaßen gut gelaunt aus. "Hallo, Luke", grinste sie ihm zu, woraufhin dieser vor Schreck fast vom Stuhl fiel. "Lange nicht gesehen!" Es lag keinerlei Sarkasmus in ihrer Stimme, was der Situation entsprechend recht ungewöhnlich für sie war. Die Braunhaarige muss wirklich gut im Bett gewesen sein.
Luke hingegen war anzusehen, dass er heillos überfordert war. Er konnte Nico gar nicht richtig ins Gesicht sehen, und er zitterte so stark, dass er etwas Kaffee verschüttete, woraufhin er die Tasse verlegen abstellte. "Hi, Nico", stammelte er, während er zurück zu seinem Platz strauchelte.
Mit einem lauten Lachen setzte Nico ihre Liebhaberin ab, wobei sie fast selbst hinfiel, gab ihr einen Klaps auf den Po und sagte mit einem Zwinkern: "Geh doch schon mal nach vorne. Ich mache dir Kaffee und komme dann nach."
Die Braunhaarige drehte sich um, schlang ihr die Arme um den Hals und raunte mit großen Augen: "Aber dann werde ich dich doch vermissen!" So muss es aussehen, wenn man jemanden begehrt. Ihr aufkeimendes Verlangen war fast schon greifbar und ich kam nicht umhin, so etwas wie Neid zu verspüren.
"Ich beeile mich." Nico küsste sie kurz auf den Mund und entwand sich der Umarmung. Die andere kicherte leise, während sie ging. Schlagartig veränderte sich die Stimmung im Raum. Nico drehte den Kopf zu Luke, musterte ihn mit einem langen, kritischen Blick. Mir lief ein Schauer über den Rücken. "Luke", wiederholte Nico langsam, während sie auf ihn zuging und sich über ihn beugte. "Wo zum Teufel bist du gewesen!?" Ihre Stimme klang rau, sie zitterte ein wenig. Ich konnte nicht wirklich einordnen, ob sie jetzt lieber schreien oder weinen würde, und sie wohl auch nicht.
Luke sah verlegen zur Seite. "Es tut mir leid..."
"Wo bist du gewesen, du beschissener Gestankskünstler!?" Jetzt schrie Nico. Also wollte sie doch nicht weinen, obwohl ich etwas in ihren Augen glitzern sah.
Luke sah verwirrt aus. "Ge..sta.... Ich habe doch geduscht!"
Sie seufzte und lehnte sich an die Küchenzeile ihm gegenüber. "Das hilft jetzt auch nicht. Luke, warum bist du abgehauen? Und wo warst du? Wir machen uns Sorgen um dich, du Eumel!"
"Müsst ihr nicht", antwortete Luke mit einem Schulterzucken. "Ich kenne mich da aus. Und jetzt bin ich ja wieder da."
"Wir haben wochenlang nach dir gesucht!" Mit dem Handballen drückte sich Nico gegen ihr rechtes Auge, anscheinend kamen ihr jetzt doch die Tränen. "Du kannst doch nicht einfach so abhauen, ohne irgendein Wort zu hinterlassen, und dann komplett verschwinden..."
"Kann ich doch, offensichtlich", meinte Luke. Ich war überrascht, wie sicher er plötzlich klang. "Ich bin frei. Ich kann tun und lassen, was ich will. Deswegen mache ich all das doch, ich will mich nicht festlegen, und ich habe nicht vor, sowas jemals zu tun." Er presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. "Also hau mir ab mit deiner blöden Fürsorge. Ich brauche das nicht. Leg dir doch ein Blag zu, wenn du Mütterchen spielen willst."
Für ein paar Sekunden gefror die Zeit. Nico starrte Luke ins Gesicht, fassungslos, verletzt, eine Träne rollte ihr über die Wange. "Fick dich", zischte sie, und noch bevor sie Worte gänzlich ausgesprochen waren, stürmte sie aus der Küche.
Ich sah ihr hinterher, genauso wie Luke, der sich jetzt durch die Haare fuhr. "Ich bin ein Idiot", murmelte er und stand auf. "Danke für den Kaffee. Ich gehe jetzt wohl besser."
"Und bleibst wieder für drei Monate weg?" Die Worte waren schneller gesprochen, als ich über sie nachdenken konnte.
"Nein. Wahrscheinlich. Keine Ahnung." Er starrte auf den Boden. "Nico will mich nicht mehr hier haben."
"Quatsch", antwortete ich. "Sie ist nur sehr emotional. Die letzten Monate waren ziemlich kompliziert für sie und du bist ihr wichtiger, als sie zugeben kann. Sie will nur sicher sein, dass es dir gut geht." Sprach ich gerade noch von Nico oder schon von mir?
"Ich weiß." Er gab einen tiefen Seufzer von sich und kratzte sich im Nacken. "Also, ich denke mir sowas schon. Aber warum sagt sie dann solche Sachen zu mir?"
Ich muss kurz überlegen, bevor ich antworte. "Warum hast du denn das alles gesagt?"
"Sie hat mich Gestankskünstler genannt."
"Und du hast sie als überfürsorgliche Möchtegern-Mutter bezeichnet."
"Ich komme halt nicht gut mit Menschen klar." Er zog die Schultern hoch, bis sein Gesicht zur Hälfte in meinem Pulli verschwand.
"Du musst ja nicht mit allen Menschen klar kommen. Nur mit Nico und mir." Ich grinste ihn vergnügt an. "Wir zwingen dich zu nichts. Außer vielleicht, dass du dich ab und an hier meldest."
"Mache ich doch."
"Öfter als alle drei Monate."
"Also alle zwei?" Er grinste mich frech an. "Hab verstanden."
"Bitte nicht", lachte ich, beruhigte mich aber schnell wieder. "Ich rede mit Nico. Wie wäre es, wenn wir jetzt erst mal hoch gehen und einen Film gucken? Wir machen es uns auf der Couch bequem und du entspannst dich endlich." Ja, super Simon, du hast gerade im Prinzip gesagt, dass du ihn flachlegen willst. Viel Spaß dabei, dich da wieder raus zu reden.
"Das klingt toll", sagte Luke erleichtert. "Welchen Film können wir denn gucken?"
"Was du willst", antwortete ich verdattert. Hatte er das gerade wirklich nicht verstanden? Oder hatte er es verstanden, fand es aber völlig in Ordnung? Es war nicht so, dass ich nicht mit ihm schlafen würde, wenn er wollte, versteht sich. Aber er wirkte auf mich so zerbrechlich wie eine Glasfigur, und mit dem Hinweis von Nico war mir bereits klar, dass es bei ihm besonders wichtig ist, seine Grenzen zu wahren. Und bei Sex liegt eindeutig eine Grenze, zu der ich ihn nicht drängen wollte. Ich wollte, dass er den ersten Schritt machte, damit ich mir sicher sein konnte, nichts falsch zu machen.
"Ich habe Lust auf Disney", sagte Luke, während er hinter mir die schmale Treppe nach oben ging. "irgendetwas wie Mulan oder Merida oder so."
"Genau genommen ist Merida kein Disney Film", meinte ich spontan aus meinem Gedankenstrom herausgerissen, "der wurde von Pixar gedreht."
"Ist doch dasselbe", maulte Luke und stieß mich leicht in den Rücken.
Ich schloss die Wohnung auf. Mein Herz pochte mir bis zum Hals mit der Frage, was gleich passieren würde. Wie ich es drehte und wendete, ich konnte nicht einschätzen, ob Luke während des Filmes an mich gekuschelt einschlafen würde, ob er sich in die andere Ecke der Couch kauern würde, oder ob er das täte, woran ich nicht zu träumen wagte. Ich wäre mit allem zufrieden, mit dem einen mehr, mit anderem weniger. Nichts desto trotz hielt ich ihm die Tür mit einer kleinen Verneigung auf, wie ein Gentleman. "Willkommen zurück in unserem kleinen -"
"Es stinkt", unterbrach er mich. "Wann habt ihr hier zuletzt geputzt?"