Unwohl stapfte Hermine hinter Harry her durch den Schnee. Sie waren durch den Vielsafttrank als Muggel getarnt, trotzdem behagte es ihr nicht, ohne jeden Schutz durch Godric's Hollow zu wandern. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Schnee liegen würde, und ihr ganzer Plan, unter dem Tarnumhang versteckt durch das Dorf zu gehen, war dahin.
Von Ferne drang ein Weihnachtslied an ihre Ohren. Ihr Blick wanderte die leeren Straßen auf und ab, als sähe sie zum ersten Mal die wirkliche Welt. Sie hatten so viele Wochen im Wald verbracht, ohne Kontakt nach außen, ohne Zeitung, ohne die Tage zu zählen, dass es ihnen offensichtlich entgangen war.
„Harry", flüsterte sie leise, „ich glaube, heute ist Heilig Abend."
Harry blieb stehen und folgte ihrer ausgestreckten Hand, mit der sie auf eine festlich geschmückte und erleuchtete Kirche am Ende der Straße deutete.
„Du hast Recht", murmelte er zurück.
Sie hörte den Chor nun klarer, der gerade die letzte Strophe von Sille Nacht anstimmte. Für einen Moment standen sie einfach nur in der verschneiten, verlassenen Straße und lauschten. Erinnerungen kamen in Hermine hoch. Sie fühlte sich an ihre Kindheit erinnert, wie sie mit ihren Eltern vor dem Weihnachtsbaum gesessen hatte, eine CD mit Weihnachtsliedern aufgelegt, und dabei Geschenke ausgepackt hatte. Ihr war warm und sie spürte die kindliche Freude. Ihre Eltern lächelten sie zufrieden und stolz an.
Tränen sammelten sich in ihren Augen, als sie daran dachte, dass sie ihre Eltern vielleicht nie wieder sehen würde. Ihre Gedanken wanderten weiter zum letzten Jahr, als sie in Hogwarts geblieben war und mit Draco Weihnachten gefeiert hatte. Sie hatten miteinander Tee getrunken und er hatte ihr eine unvergessliche Nacht geschenkt. Obwohl sie auch da schon nicht mehr in festlicher Stimmung gewesen war, hatte die Weihnacht für sie doch ihren ganz eigenen Zauber gehabt.
Es war nur ein Jahr her, aber es kam ihr wie ein halbes Leben vor. Hier stand sie in der Kälte, folgte einer Spur, von der sie nicht einmal wusste, ob sie wirklich zu Gryffindors Schwert führen würde, und hatte niemanden außer Harry an ihrer Seite. Ron war weg. Ihre Eltern waren ohne Erinnerung an sie in Australien. Draco war entweder in Hogwarts oder bei seinen Eltern zu Hause.
Rasch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatten keine Zeit, sentimental zu werden. Ein Blick zu Harry zeigte ihr, dass er ebenso von dem Moment ergriffen war. Sie wollte ihn ungerne aus dem Erinnerungen reißen, die sich in seinen leuchtenden Augen spiegelten, doch sie mussten weiter. Sanft legte sie ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zurück in die Realität zu holen.
„Wir müssen weiter", sagte sie leise, darum bemüht, so viel Wärme und Verständnis wie möglich in ihre Stimme zu legen.
Harry zuckte zusammen und trat von ihrer Berührung weg: „Ich weiß."
Ohne sie anzuschauen stapfte er weiter, steuerte zielstrebig auf den Friedhof neben der Kirche zu. Grimmig folgte Hermine ihm. Sie konnte verstehen, dass es schwer für ihn war, ausgerechnet heute in Godric's Hollow zu sein, wo seine Eltern gelebt hatten und ermordet worden waren, doch sie konnte nichts dafür. Sie hatte nicht gewusst, dass heute Heilig Abend war. Obwohl Ron nun schon seit Wochen weg war, war Harry noch immer kühl zu ihr. Sie fragte sich, ob er insgeheim ihr vorwarf, dass Ron sie verlassen hatte.
Schniefend folgte sie ihm auf den Friedhof. Verschneite Gräber standen in Reihe, einige schon Jahrhunderte alt. Sie sah, wie Harry die Gräber mechanisch absuchte, ganz offensichtlich in der Hoffnung, den Grabstein seiner Eltern zu finden. Sie schritt langsamer die Reihen entlang und nahm sich Zeit, die einzelnen Grabsteine zu bewundern.
Ihr Blick fiel auf einen bekannten Namen. Sie schluckte. Sollte sie Harry darauf aufmerksam machen? Er war sowieso schon angespannt, er musste nicht noch mehr Grund haben, sich aufzuregen. Andererseits würde er es sicher wissen wollen.
„Harry, hier!", rief sie, während sie ein wenig mehr Schnee wegkratzte, um die Namen deutlich hervorzubringen.
Er kam zu ihr gelaufen, offensichtlich in dem Denken, dass sie seine Eltern gefunden hatte. Als er sah, wessen Grab sie wirklich gefunden hatte, erstarrte er: „Kendra Dumbledore? Und Ariana?"
Sein Gesicht lag im Schatten, doch seine ganze Haltung verriet, wie sehr es gerade in ihm arbeitete. Soweit Hermine wusste, hatte Dumbledore ihm nie erzählt, dass er aus demselben Dorf wie Harry stammte. Vorsichtig setzte sie an: „Bist du sicher, dass er nie erwähnt hat-?"
„Ja. Suchen wir weiter."
Seine Antwort war knapp und ruppig. In seinen Augen stand unverhohlene Wut und Hermine fragte sich, ob sie das nicht doch besser für sich behalten hätte. Während Harry weiter in großer Hast von Grab zu Grab schritt, ließ sie sich Zeit. Falls Harry hier seine Eltern finden würde, würde er vermutlich alleine sein wollen. Sie war hier überflüssig. Es gab nichts, was sie zu ihm sagen oder für ihn tun konnte.
Ein sehr alt wirkender Stein tauchte in der Reihe auf, über den Hermine beinahe hinweg gesehen hätte. Stirnrunzelnd schaute sie erneut hin. Irgendetwas an den verwitterten Gravierungen kam ihr bekannt vor. Langsam hockte sie sich hin und entfernte Schnee und Dreck.
Das merkwürdige dreieckige Symbol, das sie in den Märchen von Beedle dem Barden gefunden hatte. Warum fand sie es ausgerechnet hier wieder, auf dem Friedhof in einem Dorf, in dem schon immer Zauberer gelebt hatten? War es Zufall? Harry hatte gesagt, dass das Grindlewalds Zeichen gewesen war. Das Zeichen, das er in die Wände von Durmstrang gekratzt hatte, kurz bevor er rausgeschmissen worden war. Wieso war es in einem Märchenbuch und auf einem uralten Grabstein zu finden?
Mühsam entzifferte sie die übrigen Buchstaben: „Ignotus ... Peverell?"
Sie schaute kurz hoch, doch Harry war nach wie vor nicht ansprechbar. Sie bezweifelte, dass er sich für ihren Fund interessieren würde. War er am Ende nur deswegen mit nach Godric's Hollow gekommen, weil er das Grab seiner Eltern besuchen wollte? Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Sie war unfair zu ihm. Keiner von ihnen wollte die Horkruxe so unbedingt zerstören wie er. Keiner von ihnen wollte das Schwert von Gryffindor so dringend finden wie er. Dass er seine Eltern besuchen wollte, konnte sie ihm kaum verübeln.
Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie, dass Harry das Grab seiner Eltern offensichtlich gefunden hatte. Er stand vor einem großen Grabstein, die Hände zu Fäusten geballt, und starrte hinunter. Leise trat sie an ihn heran, darum bemüht, ihn nicht aus seinen Gedanken zu reißen oder anderweitig zu stören. Sie wusste nicht, was in ihm vorging, doch sie konnte Tränen in seinen Augen glitzern sehen.
Unbeholfen ergriff sie seine Hand. Was sagte man in so einer Situation? Konnte sie überhaupt irgendetwas sagen? Harry reagierte nicht auf ihre Geste, er stand einfach nur weiter stumm da und sah hinab.
Einer Eingebung folgend zog Hermine ihren Zauberstab und erschuf einen Kranz aus Christrosen in der Luft. Mit einem schwachen Lächeln ergriff Harry den Kranz, hockte sich hin und legte ihn sachte auf dem Grab ab: „Danke."
Sie legte ihm ermutigend eine Hand auf die Schulter. Sie wusste, wie furchtbar es sich anfühlte, die eigenen Eltern zu verlieren, aber wenigstens hatte sie viele Erinnerungen an ihre eigenen und wusste, dass sie noch lebten. Harrys Schmerz und seine Wut auf die ganze Welt mussten gerade überwältigend für ihn sein.
Schließlich, nach einer viel zu langen Zeit, war Harry endlich bereit, den Friedhof zu verlassen, um sich dem eigentlich Zweck ihres Besuches hier zu widmen: Herausfinden, ob Bathilda Bagshot noch hier lebte, und wenn ja, ob Dumbledore das Schwert bei ihr versteckt hatte.
Sie traten gerade auf die Straße zurück, da wurden sie auf eine gebückte Gestalt aufmerksam, die sie merkwürdig eindringlich musterte. Hermine wusste augenblicklich, dass das kein Muggel sein konnte. Angst stieg in ihr hoch. Hatte Voldemort wirklich Späher in Godric's Hollow platziert, weil er damit gerechnet hatte, dass Harry hier früher oder später auftauchen würde? Aber woher sollten die wissen, dass sich hinter den zwei älteren Muggeln in Wirklichkeit Harry Potter und Hermine Granger verbargen?
Fragen über Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum, doch Harry schien nicht halb so skeptisch wie sie. Stattdessen trat er einen Schritt weiter auf die Figur zu, die sich bei näherem Hinsehen als alte Dame entpuppte, und rief: „Sind Sie Bathilda Bagshot?"
Die Frau nickte, dann winkte sie ihnen zu, drehte sich um, und ging mit langsamen, schleppenden Schritten davon. Harry packte sie am Arm und zog sie hinter sich her. Verwirrung und Zweifel machten sich in Hermine breit. Woher sollte diese Frau wissen, dass sie Zauberer und Hexe waren? Und selbst wenn sie Bathilda Bagshot war, warum sollte sie zwei gewöhnliche Menschen ansprechen und sie bitten, ihr zu folgen? Sie konnte nicht wissen, wer sie waren, das war schlicht unmöglich.
Sie hatte das deutliche Gefühl, dass etwas an der ganzen Situation nicht stimmte, doch Harry war zu fixiert, um ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen. Den Zauberstab bereit und so aufmerksam wie sie nur konnte, folgte Hermine ihnen.
Die alte Hexe führte sie durch einige Straßen zu einem alten Haus, dessen Tür sie mit einiger Mühe aufschloss. Als Hermine nach Harry eintrat, empfing sie ein übler Gestank. Sie wusste, dass alte Leute einen unangenehmen Geruch ausströmen konnten, doch das hier roch bestialisch. Es war, als würde sie den Tod selbst riechen. Dunkelheit hüllte das Haus in Geheimnisse und verbarg die Ursache des Gestanks. Noch immer hatte die alte Hexe nicht mehr getan, als zu nicken und zu winken. Am liebsten hätte Hermine Harry gesagt, dass sie besser wieder gehen sollten, doch sein entschlossener Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass mit ihm gerade nicht zu reden war. Er schien sich sicher, dass dies Bathilda Bagshot war, und dass sie das Schwert hier hatte.
Plötzlich warf die alte Hexe ihr einen bösen Blick zu. Hermine wusste nicht, was es war, aber irgendetwas in den Augen der Frau ließ ihr eine Gänsehaut über den Rücken werfen. Sie hörte ein leises Wispern, dann drehte Harry sich zu ihr um: „Sie will, dass ich mit ihr hoch gehe. Nur ich."
„Harry, ich glaube nicht...", setzte sie an, doch Harry war schon mit der Hexe aus dem Raum getreten.
Fluchend sah Hermine ihnen nach. Wieso konnte Harry nicht ein einziges Mal nachdenken? Ja, seine Instinkte waren gut und er war ein begnadeter Zauberer, aber das hier roch nach einer Falle. Immerhin zeigten die Bilder an den Wänden und auf dem Kaminsims, dass dies wirklich die Wohnung von Bathilda Bagshot war.
Ihr Blick fiel auf eine Fotografie, die einen sehr jungen Dumbledore zusammen mit einem anderen jungen, gutaussehenden Mann zeigte. Irgendwo hatte sie den Mann schon einmal gesehen, da war Hermine sich sicher. Es musste ein Freund von Dumbledore sein aus der Zeit, als er noch hier in Godric's Hollow gewohnt hatte. War er vielleicht ebenso berühmt wie Dumbledore und sie kannte ihn daher?
Lautes Gerumpel und Schreie rissen Hermine aus ihrer Starre. Das war Harry, der da schrie! Eisige Panik erfasste sie. Also war es wirklich eine Falle gewesen!
Das Bild immer noch in der linken Hand, ihren Zauberstab gezückt in der anderen, rannte Hermine die Treppe hinauf und folgte den Kampfgeräuschen. Als sie durch die Tür in das Schlafzimmer trat, offenbarte sich ihr das ganze Ausmaß des Schreckens: Harry war in einen Kampf mit jener Schlange verstrickt, die nur Nagini sein konnte. Von Bathilda Bagshot fehlte jede Spur.
„Er kommt! Hermine, er kommt!", kreischte Harry panisch.
Er musste nicht mehr sagen, sie verstand sofort, was er meinte. Wenn die Schlange hier war, konnte Voldemort nicht weit sein. Sie ließ die Fotografie fallen und zielte auf die Schlange, die sich mit unermesslicher Kraft an Harry klammerte. Adrenalin rauschte durch ihre Adern. Mit einem gezielten Spruch gelang es ihr, die Schlange von Harry zu lösen, doch der Kampf war damit noch nicht vorbei. Immer wieder schnappte das riesige Maul nach ihm, während Harry rücklings auf dem Bett lag und sich strampelnd wehrte.
Und plötzlich erstarrten seine Bewegungen. Mit leeren Augen blickte er zur Decke, zuckte unkontrolliert, aber wehrte sich nicht länger gegen die Schlange. Panik drohte sie zu verschlingen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Blindlings schleuderte sie weitere Flüche gegen die Schlange, um sie weg von Harry und dem Bett zu treiben. Verzweifelt griff sie nach seinem Arm und zog ihn weg, doch er reagierte überhaupt nicht auf sie.
Augenblicklich wurde Hermine klar, dass sie ihn niemals hier wegtragen konnte. Von unten drangen plötzlich neue Geräusche hoch. Irgendjemand war hier und steuerte zielstrebig auf die Treppe zu. Sie musste nicht nachschauen, um zu wissen, wer es war. Eisige Kälte ergriff von ihr Besitz, während Hermine klar wurde, dass sie in wenigen Augenblicken von Angesicht zu Angesicht Voldemort gegenüber stehen würde. Harry war noch immer weggetreten.
Panisch sprach sie einen Levicorpus auf ihn, um ihn aus dem Raum und weg von der Schlange zu bringen. Mit Mühe schaffte sie es aus dem Zimmer und hinaus auf den Flur. Ihr Blick fiel nach unten zum Treppenabsatz.
Hochgewachsen, mit blassem Gesicht und unmenschlichen Gesichtszügen, gekleidet in einen weiten, schwarzen Umhang, stand Voldemort, den Zauberstab gezückt und auf sie gerichtet.
Für einen Herzschlag schien die Welt stillzustehen und alle Geräusche zu verstummen. Sie starrte in die roten Augen des Monsters vor ihr.
Dann, von irgendwoher meldete sich ihr Verstand zurück. Mit dem letzten Bisschen Kraft, das sie noch hatte, apparierte Hermine sie weg.