Vitae öffnete benommen ihre Augen. Sie brauchte kurz, bis ihr Blick nicht mehr verschwommen war, doch dann erkannte sie, dass sich drei Wesen über sie beugten. Eines hatte Katzenohren, das zweite fedrige Flügel und das dritte spitze Ohren. Es waren eindeutig die Kreationen ihrer Freunde. Ein Werbiest, ein Erzengel und ein Waldgeist. "Sie wird wach", flüstert der Erzengel. "Hätte ich gar nicht bemerkt Tomoko", antwortete der Waldgeist. "Hör auf Hiroki, sie hat es doch nur festgestellt", meinte das Werbiest. "Tut mir leid Marilyn", entschuldigte sich Hiroki schnell. Vitae setzte sich auf und die drei taumelten zurück. Schnell knieten sie nieder und senkten ihre Köpfe. "Seid gegrüßt Lady Vitae. Es ist eine große Ehre, Euch zu begegnen", meinte Tomoko. Vitae sagte nichts, sie sah die drei nur an. Das waren lebende Wesen. Sprechende Wesen. Sie hatte geglaubt, dass sie nie wieder mit jemandem reden würde. Nein…da war doch dieses Wesen gewesen. Es hatte sie aufgehoben und dann…dann erinnerte sie sich nicht mehr. "Wenn Ihr stark genug seid, dann würde Lord Omnix Euch gerne im Thronsaal treffen", unterbrach Hiroki ihre Gedanken. Omnix…natürlich, so hatte sich das Wesen ja genannt. "Denkt Ihr, dass Ihr aufstehen könnt?", fragte Marilyn und sie nickte langsam. So wurde sie schließlich durch Gänge aus weißem Marmor geführt und durch Alleen von Bäumen, die in gigantischen Hallen standen. Licht fiel durch die gläsernen Stellen der Decke und ließ das frische, blaue Wasser, welches in unzähligen Brünnen plätscherte, in der Sonne glitzern. Das musste ein Traum sein. Niemals hätte Vitae gedacht, dass sie eine solche Pracht nochmal sehen würde. Ein großes weißgoldenes Tor wurde geöffnet und gab den Blick in eine mit Säulen bestückte Halle frei. An den Säulen hingen blaue Banner mit einem Auge darauf. Die Decke war mit einer wunderschönen Malerei verziert, welche zehn Wesen bei der Erschaffung der Welt zeigte. Am Ende des riesigen Raumes befand sich ein Thron unter einem großen Fenster, auf dem ein blau leuchtendes Wesen saß. In seinem Körper spiegelten sich die Sterne des Nachthimmels wieder und aus seinem Kopf wuchsen vier Hörner, ein weiteres Paar kam aus seinen Schultern. Mit seinem einen Auge beobachtete es sie, als sie hereinkamen, bis sie vor seinem Thron zum Stehen kamen. Die drei Begleiter Vitaes knieten nieder und Vitae machte es ihnen schnell nach. Sie hatte immer noch keine Ahnung, wo sie war, doch sie erkannte, dass ihr Gastgeber um ein Vielfaches mächtiger war als sie, darum wollte sie ihn lieber nicht verärgern. "Lasst uns alleine", befahl Omnix und die drei standen auf, verbeugten sich leicht und verließen die Halle. Die Wachen an dem Tor schlugen mit den Griffen ihrer goldenen Lanzen zweimal auf den Boden und taten es ihnen dann gleich. Nun waren sie alleine.
"Erhebt Euch ruhig!", meinte Omnix und Vitae sah zögernd zu ihm hoch. "Nur zu", ermutigte er sie und sie stand auf. "Lasst mich Euch zuerst willkommen heißen. Ihr befindet Euch in meiner Obhut in der fliegenden Festung Skyfortress. Ihr würdet es vielleicht als einen Ort in B-56 bezeichnen." Vitae sah ihn überrascht an. "Woher wisst Ihr davon? Wie habt Ihr mich hierhergebracht?", fragte sie aufgeregt. "Sieh an, Ihr könnt ja doch reden", kicherte Omnix und legte einen kleinen Apparat auf die Armlehne seines Throns. "Seid gegrüßt Lady Vitae", ertönte eine Stimme aus dem Gerät. "Y!", rief sie überrascht. "Wir werden Euch alles erklären", meinte Omnix. Und so geschah es. Omnix erzählte ihr von sich, wie er in diese Welt gekommen war und wie er sie schließlich gefunden hatte. Er erzählte ihr die Geschichte von B-56, was sich alles zugetragen hatte und dass die Zeit in den beiden Welten offenbar nicht gleich verging. Er erzählte ihr von der Legende der alten Götter und wie er sie genutzt hatte, um die Welt in eine bessere Zukunft zu leiten. Vitaes Augen wurden größer und größer. "Ihr sagt, dass Ihr hierhergeboren wurdet?", fragte sie und er nickte. "Faszinierend. Ich habe noch nie von einem Wesen wie Euch gehört", murmelte sie. "Ihr habt diese Nachricht aufgenommen, die ich in der anderen Welt gehört habe, stimmt’s?", fragte er nun und Vitae nickte. "Warum seid ihr dann nicht durch das Portal geflohen?" "Ich hätte es niemals geschafft. Ich sperrte mich in den unteren Teilen der Stadt ein und lud von dort die Nachricht hoch. Mutierte Lebewesen durchstreiften alle höheren Ebenen und oft drangen sie sogar nach unten vor. Jedes Mal, wenn ich meine Quarantänezone verlassen habe, um Nahrung zu sammeln, musste ich aufpassen, dass ich sie nicht auf mich aufmerksam machte", erklärte sie ihm. Der Reinkarnitor hörte ihr aufmerksam zu. "Die Strahlung brachte letzten Endes auch mich fast um. Wenn Ihr nicht gekommen wärt…" Sie verstummte. Omnix sah sie kurz an, dann stellte er ihr eine Frage: "Was wollt Ihr nun tun?" Vitae sah ihn nachdenklich an. Sie hatte sich damit abgefunden, dass sie alleine sterben würde und nun…nun hatte sie eine zweite Chance von diesem Wesen bekommen. "Ich weiß es nicht", antwortete sie. "Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte…bleibt hier. Bleibt in Skyfortress." Sie sah ihn an. Dieses Wesen wurde nicht von ihnen erschaffen. Es verehrte sie nicht und bezeichnete sie auch nicht als Göttin. Und trotzdem wollte es ihr helfen. "Warum tut Ihr das?", fragte sie ihn. "Warum nicht?", lautete die überraschende Antwort. Omnix' Auge leuchtete auf und der Thronsaal wurde von dreidimensionalen Bildern gefüllt. Vitae sah ein schwarzhaariges Mädchen, welches starb, sie sah Armeen, die gegeneinander prallten, sie sah Welten vorbeiziehen, ein rosahaariges Mädchen, welches in einem flammenden Gebäude lag, Personen auftauchen und verschwinden und am Ende sah sie, wie eine jüngere Version des Werbiestmädchens, welches sie zuvor aufgeweckt hatte, dastand und sie groß ansah. Das Bild bewegte sich nicht weiter und Omnix trat neben das durchsichtige Abbild des Mädchens. "Ich lernte ganz zum Beginn, dass jedes Leben wertvoll ist", meinte er, während er das Bild betrachtete. "Alles, was ich erlebt habe, was Ihr gerade gesehen habt, basiert auf dieser Grundlage, nach der ich lebe. Ich hatte das große Glück, dass ich meine Gefühle behalten habe, als ich dieses…Ding wurde. Und ich werde sie einsetzen, um denen, die Hilfe brauchen, zu helfen. Auch Euch Vitae." Die Frau erkannte plötzlich, dass dieses Wesen tatsächlich weitaus älter war, als es aussah. Wahrscheinlich sogar um ein Vielfaches älter als sie selbst. Es war weiser als sie und doch neugierig, wie ein Kind. Vitae war sich sicher, dass sie noch nie jemanden wie ihn getroffen hatte und es sicher auch niemals mehr tun würde. Dieses Wesen war etwas anderes. Es hatte keine begrenzte Zeit, oder begrenzte Kraft. Es war ein… "Ich bin kein Gott", unterbrach Omnix ihre Gedanken. "Das ist ein Titel, den ich angenommen habe, um der Welt zu helfen und den ich auch nicht aufgeben werde, aber ich weiß, dass er mir ebenso wenig wie Euch zusteht." Das Bild des Mädchens verblasste und er musterte sie nachdenklich. "Ich frage Euch nochmal. Was wollt Ihr nun tun?"