"Bevor wir da jetzt hineingehen muss ich Euch noch warnen. Der Hüter dieser Bibliothek ist etwas…naja…exzentrisch", warnte Tomoko und sah dabei sehr nervös aus. Sie standen vor der großen Bibliothek, die sich auf einem der Hügel der schwebenden Insel befand. "Ich bin schon mit vielen exzentrischen Leuten ausgekommen", meinte Omnix. "Er ist nicht nur exzentrisch, er ist unfassbar intelligent und stark. Ich habe ihn in noch keinem Kampf oder Spiel besiegen können." Omnix lachte. "Sehr gut. Ich mag Herausforderungen." Damit öffnete er kurzentschlossen die Türe des Gebäudes. Was er dann sah, verschlug ihm fast die Sprache. Reihen um Reihen an Bücherregalen türmten sich bis unter die Decke und an den Wänden standen Glasvitrinen mit ganz besonders wertvollen Artefakten. Die Bücher waren alle fein säuberlich sortiert und sahen aus, als würde sie jeden Tag gepflegt werden. In der Mitte der Bibliothek tat sich ein Platz mit einem Teich auf, in dessen Mitte wiederum eine kleine Insel lag, auf der sich ein alter Baum aus dem Boden erhob. Omnix bemerkte jetzt erst, dass die Äste des Baumes auch die Decke der Bibliothek bildeten. Staunend sah er sich um. Er wusste, dass diese Bibliothek bei weitem nicht so viel Wissen wie der Bibliotheksturm von Cogito enthalten konnte und dennoch wirkte sie viel eindrucksvoller, als die Behausung der Muse. Er trat näher an den Baum heran und bemerkte etwas. Eine Gestalt saß auf einer der riesigen Wurzeln des Baumes und spielte auf einer kleinen Flöte. Als er genauer hinsah konnte er erkennen, dass es sich um einen Jungen handelte. Omnix schätzte ihn auf ungefähr sechszehn Jahre, also genauso alt wie Marilyn. Er trug eine kurze grüne Hose, ein ärmelloses grünes Oberteil, jeweils einen goldenen Armreif an den Oberarmen, fingerlose grüne Handschuhe und ein grünes Stirnband, welches seine strubbeligen braunen Haare in Schach hielt. Alles in allem sah er aus, wie ein typischer Lausejunge, wären da nicht seine elfenartigen spitzen Ohren und seine Beine, welche von Haut nach unten langsam zu Rinde übergingen, weshalb er auch keine Schuhe trug. "Ein Waldgeist", stellte Omnix fest. Der Junge hörte auf, auf seiner Flöte zu spielen und grinste ihn an. "Besuch", meinte er amüsiert. "Es ist sehr lange her, seit sich das letzte Mal jemand dem heiligen Baum genähert hat und fast als mein Mittagessen geendet wäre. Leider war ich ein wenig zu langsam." Omnix trat näher. "An mir beißt du dir die Zähne aus", meinte der Reinkarnitor und das Grinsen des Waldgeistes wurde noch breiter. "Was zu beweisen wäre. Mein Name ist Hiroki und ich bin der Hüter dieses Baumes und damit auch dieser Bibliothek", stellte er sich vor und neigte leicht den Kopf. "Wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?" "Ich bin Omnix, der Oberste der alten Götter." "Ein alter Gott? Wie interessant", murmelte der Waldgeist. "Es ist wahr, er hat die drei Prüfungen mit dem Verstand eines alten Gottes gemeistert", bestätigte Tomoko. "Königin Tomoko, Ihr bürgt für dieses Wesen?", fragte Hiroki überrascht. "Keine Königin", besserte Tomoko ihn leise aus und senkte etwas beschämt den Kopf. "Nicht mehr. Er ist jetzt König." Sie erzählte ihm von der Wette, was dazu führte, dass der Waldgeist fast ausflippte. "Du hast deine Position bei so einem bescheuerten Spiel aufgegeben? Sag mal spinnst du vollkommen Tomoko?", rief er. "Ich konnte nicht ablehnen! Du bist es doch, der sonst immer so dämliche Wetten eingeht und jetzt tadelst du mich dafür?", antwortete sie ihm laut. "Die beiden wirken plötzlich aber viel vertrauter", meinte Marilyn leise und Omnix kicherte. "Ich habe das Risiko immer gering gehalten! Aber du musstest gleich dein ganzes Leben aufs Spiel setzen!", rechtfertigte sich Hiroki. "Ich unterbreche ja nur ungern, aber ich habe hier immer noch etwas zu tun", meinte Omnix. Tomoko drehte sich sofort zu ihm um und verbeugte sich leicht. "Natürlich, verzeiht mein Lord", entschuldigte sie sich und Hiroki sah sie fassungslos an. "Wie konntet Ihr Tomoko nur auf so einen Zustand reduzieren?", flüsterte er und Omnix sah ihn mit seinem Auge belustigt an. "Ein Deal mit einem alten Gott oder einem jungen Gott ist absolut", meinte er. "Aber keine Sorge, sie tut es nicht, weil der Deal sie dazu zwingt. Zumindest noch nicht. Wenn sie sich jemals gegen mich stellen wollen würde, dann würde der Deal sie davon abhalten", erklärte er ihm. "Und was wollt Ihr jetzt hier?", fragte Hiroki. "Lesen", antwortete der lebende Nachthimmel und der Waldgeist zuckte überrascht zurück. Mit so einer einfachen Antwort hatte er nicht gerechnet. "Wozu sonst ist eine Bibliothek da?", fragte Omnix. "D-da habt Ihr wohl recht", murmelte der Junge. "Aber ich werde meine Bücher nicht einfach so hergeben, wie Tomoko ihr Königreich. Und ich habe noch nie verloren." "Gut. Ich habe aber keine Lust mehr auf langweilige Kämpfe oder ewig dauernde Prüfungen. Machen wir es doch zu etwas Besonderem und spielen Schere, Stein, Papier." Hiroki ging beinahe das Stirnband hoch. "W-was?", stotterte er. "Ihr denkt, dass ich meinen gesamten Lebensinhalt bei einem Schere, Stein, Papier aufs Spiel setze?" Omnix lachte. "Es ist ein reines Glücksspiel. Naja, für dich diesmal nicht, denn ich werde nur Papier nehmen." Der Junge sah den Reinkarnitor an, als hätte er gerade Gold gespuckt. "Wenn ich irgendetwas anderes nehme und dich damit besiege, dann steht es unentschieden, weil wir nach meiner Papier-Regel ja beide verloren hätten. Wenn wir beide dasselbe Symbol nehmen, dann ist ebenfalls unentschieden, es sei denn ich nehme etwas anderes als Papier, dann habe ich auch verloren und du hast gewonnen. Wenn du mich besiegst, dann lasse ich dich und deine Bibliothek für immer in Ruhe. Wenn ich dich besiege, dann gehören alle deine Bücher mir." "Und bei einem Unentschieden?" "Ich werde friedlich abziehen, wenn du das wünscht. Im Gegenzug tust du mir einen kleinen Gefallen, so haben wir beide etwas davon." "Zugriff auf ein paar meiner Bücher nehme ich an, oder?", fragte Hiroki und Omnix Auge blinkte neckend. "Ihr wollt es also wirklich wissen? Schön, ich nehme die Herausforderung an."
Die beiden saßen sich gegenüber. ‚So ein Narr. Wenn er denkt, dass dieses Spiel reine Glückssache ist, dann hat er sich aber sehr getäuscht. Er hat versprochen, dass er nur Papier nimmt, das Ganze kann er nicht brechen, sonst würde es nach seinen eigenen Regeln unentschieden stehen, oder er würde sogar verlieren. Also werde ich Stein oder Schere nehmen. Mit Schere habe ich die besten Chancen, entweder gewinne ich, oder es wird unentschieden. Mit Stein gewinne ich entweder oder ich verliere. Er will mich also austricksen, dass ich Schere nehme und selbst Stein nehmen, so dass wir beide etwas für den anderen tun müssten. Ich möchte aber kein einziges meiner Bücher hergeben. Also werde ich wohl trotzdem Stein nehmen, so wie er und ihn so überlisten.‘ Er sah den Reinkarnitor an. Doch irgendetwas stimmte nicht. Omnix erwiderte seinen Blick mit einer solchen Sicherheit, dass es Hiroki kalt den Rücken runter lief. Irgendetwas an diesem Bick war beängstigend. Es war, als würde er jemanden ansehen, der nichts mehr zu verlieren hätte und bereit wäre, alles zu riskieren. ‚Er…er wird wirklich Papier nehmen? Dann wollte er die ganze Zeit nur, dass ich denke, dass er Stein nimmt? Ich werde mich nicht austricksen lassen. Ich nehme doch lieber Schere.‘ Die beiden nickten sich zu, um zu zeigen, dass sie bereit waren. "Schere, Stein, Papier!", riefen sie und formten ihre Symbole.
Hiroki sah ungläubig auf die Hand seines Gegners. Dort vor ihm war ein Stein. Omnix hatte also tatsächlich gegen seine Regel verstoßen und gegen ihn gewonnen. Gleichzeitig hatte er damit verloren und es stand unentschieden. "Überrascht?", fragte das sternenübersäte Wesen. "Ich wusste, dass du Stein wählen wolltest. Deine erste Vermutung, dass ich Stein nehmen würde, war goldrichtig, aber mein Blick hat dich umgestimmt, nicht wahr?" Der Waldgeist sah ihn fassungslos an. "Kommen wir nun zu dem Gefallen", meinte Omnix. "Gut, nehmt Euch ein paar Bücher und verschwindet dann", meinte Hiroki seufzend. "Aber, aber, ich habe doch nie gesagt, dass ich Bücher möchte", besserte Omnix ihn aus. "Was? Doch, das habt Ihr, ich habe sogar extra nachgefragt!", widersprach der Junge. "Stimmt, aber habe ich deine Frage beantwortet?" Hiroki dachte zurück. Er hatte ihm mit dem Auge zugeblinkt, mehr nicht. Wie konnte er nur so dumm sein und das als Zustimmung deuten? "Der Gefallen ist folgender: Ich möchte, dass du mich unterstützt und ich in deiner Bibliothek gerne gesehen bin", verlangte Omnix. "A-aber Ihr sagtet, dass ihr friedlich abziehen würdet!" "Ich sagte, dass ich das tun würde, wenn du das wünschen würdest. Aber das tust du nicht mehr, habe ich recht?" Hiroki brach zusammen. Ein Deal mit einem Gott, egal ob alt oder jung, war absolut. Von Anfang an hatte er die Regeln so gesetzt, dass er gewinnen würde. Omnix hatte recht. Er wollte ihn nicht mehr vertreiben, er wollte ihm helfen, so wie er es verlangt hatte. Die ganze Zeit hatte er auf ein Unentschieden zugespielt und alles genau geplant, um ihn loyal zu machen. "N-nein…mein Lord", stotterte er. "Ich will nicht, dass Ihr geht. Bitte, tut was auch immer Ihr wollt. Diese Bibliothek und ich gehören Euch." Es war vorbei. Und obwohl er noch immer sauer war, dass er verloren hatte, so war er doch irgendwie erleichtert, dass jemand Würdiges, der ihn ehrlich besiegt hatte, nun sein Meister war.