Mit einem zufriedenen Seufzen schiebe ich meinen Teller von mir.
“Das war wirklich köstlich, Turike”, stimmt Kryptild meinem wortlosen Lob des Essens zu.
Turike lächelt und erwidert: “Das lag an den frischen Zutaten, die du mir aus dem Garten mitgebracht hast!”
Die beiden geben einander Komplimente stets zurück, doch für den Augenblick lassen sie es gut sein und sehen mich erwartungsvoll an. Sie wissen beide, dass wir eigentlich hier sitzen, um uns zu unterhalten, und das gemeinsame Abendessen nur ein angenehmer Auftakt war.
“Ich habe endlich mehr über unseren Akoluthen erfahren”, beginne ich das Gespräch. “Talfan”, verbessere ich mich rasch mit einem Blick in Turikes Richtung, die daraufhin leicht schmunzelt. “Ich weiß jetzt, wer er ist, woher er stammt und was ihn hierher getrieben hat. Ich weiß sogar, warum er gelegentlich mit Verletzungen bei dir vorstellig wird”, adressiere ich Kryptild.
Dann zögere ich weiterzusprechen. Wie viel von dem, was er mir anvertraut hat, kann ich guten Gewissens weitergeben?
Turike deutet meine Unentschlossenheit wie immer richtig. Beruhigend legt sie ihre Hand auf meine und sieht mir in die Augen. “Du musst uns nichts davon erzählen, Rako. Dein Wort genügt uns – wenn du sagst, wir können ihm helfen, glauben wir dir. Was schlägst du vor?”
Kryptild lächelt. “Ich bin zwar außerordentlich neugierig, aber natürlich stimme ich ihr zu. Ich hoffe einfach, eines Tages doch zu erfahren, worum es diesem Jungen eigentlich geht.”
Über genau diese Frage habe ich auch schon nachgedacht. Auch, wenn er sich im Tempel nicht unter die anderen mischt, bleibt er doch bei uns, geht den Perainegeweihten zwar aus dem Weg, beobachtet sie aber eifrig, sucht Anschluss in Tavernen und schaut Kindern beim Spielen zu.
“Es geht ihm darum, eine Gemeinschaft zu finden, zu der er gehören kann, glaube ich”, erkläre ich ihr nachdenklich. Ich bin mir meiner Interpretation auch nicht völlig sicher. “Was er jetzt auf jeden Fall braucht, ist jemanden, dem er vertrauen kann. Aber das Konzept ist ihm anscheinend neu … ohne ein Hindernis zwischen ihm und einer anderen Person erträgt er es noch nicht einmal, wenn sie ihm näher als zwei Schritt kommt.”
Die beiden runzeln konzentriert die Stirn, als sie über meine Worte nachdenken. Ein Lächeln huscht über meine Züge – sie sind sich in vielem wirklich ähnlich, die beiden wichtigsten Vertrauten in meinem Leben.
Turikes Züge verfinstern sich, als sie begreift, was meine Worte bedeuten. Sie steht Travia so nahe, dass ich mich schon häufig gewundert habe, dass sie nie den Weg einer Geweihten eingeschlagen hat, und dass Talfan bei seiner Familie nicht die Liebe und das Vertrauen erfahren hat, das Kindern zusteht, empört sie.
Kryptild hingegen wirkt etwas nachdenklicher. Dann wendet sie sich mit einer Frage an mich: “Was ist mit den Göttern? Er ist Akoluth.” Damit hat sie den Finger präzise in die Wunde gelegt, die auch mir Schmerz bereitet.
“Er hat sich Phex aufgrund eines Handels angeschlossen”, gestehe ich betrübt.
Kryptild wirkt leicht beunruhigt.
Ich verstehe ihre Reaktion. “Ich weiß nicht, wie groß sein Vertrauen in die Zwölfe wirklich ist. Ich werde in meinen Unterweisungen mehr darauf eingehen und so hoffentlich mehr erfahren.”
Niemand sagt etwas, und nachdenkliches Schweigen breitet sich zwischen uns aus.
“Es scheint mir, als habe Phex ihn zu uns gesendet”, ergreife ich wieder das Wort. “Er soll hier lernen, und ich werde ihn in Phex’ Sinne unterweisen. Auch interessiert er sich ja offenbar sehr für dein Pflanzenwissen, Kryptild – wenn du ihm wirkliche Lehrstunden geben könntest, würde ihm das sicherlich sehr gefallen. Außerdem würde ich ihn gerne Vertrauen lehren, in Götter wie in Menschen … aber ich glaube, dazu bedarf es zunächst einer Person, die sich auf Seelenheilkunde versteht. Könnt ihr vielleicht jemanden empfehlen?”
“Tjeika”, sagt Turike nach einem Moment des Schweigens. “Sie hat sich mit ihrer einfühlenden Art in den letzten Jahren einen Namen gemacht.”
Dann sieht sie mich an, ihre Augen strahlen Mitgefühl und Wärme aus. “Bring ihn doch auch zu uns. Vielleicht ist es gut, wenn er sich nicht nur mit Zwölfgöttergeweihten umgibt. Normales Familienleben zu beobachten hilft ihm möglicherweise.”
Sollte ich ihn zu mir nach Hause einladen, ihn in die Nähe der drei Menschen bringen, die mir am meisten bedeuten? Was, wenn er sich nicht kontrollieren kann, Turike oder gar Danja oder Arlin in seinem Weg stehen? Angst legt sich um meine Brust wie ein kalter Metallreif, und ich schüttle den Kopf.
“Nein”, erkläre ich mit rauer Stimme. “Noch nicht.” Vielleicht später, wenn ich das Gefühl habe, er sei keine Gefahr mehr für meine Familie.
Die Sorge, die ich ausstrahle, hindert Turike daran, einen weiteren Vorstoß zu wagen. Sie ist so ein gütiger Mensch, ich weiß, dass sie ihm helfen möchte – aber nicht um den möglichen Preis, von dem sie nichts weiß und auch nichts erfahren soll. Sie vertraut meinem Urteil – das genügt ihr fürs Erste.