„Vielen Dank euch allen.“ Damit schließt Nessa Bärenreiter, die Vorsteherin des Firuntempels, die Geweihtenkonferenz.
Ich bin froh, diese vierteljährliche Besprechung hinter mich gebracht zu haben. Das nächste Mal drücke ich die Teilnahme wieder einem anderen meiner Glaubensgeschwister aufs Auge!
Außenstehende glauben immer, die Geweihten aller zwölfgöttlichen Kirchen müssten sich bezüglich der meisten Fragen einig sein – immerhin verehren wir dasselbe Pantheon. Doch die Aspekte der verschiedenen Götter sind so divers, dass ich das Gefühl habe, wir würden jede Gelegenheit zu einem inbrünstigen Streit mit Begeisterung ergreifen.
Erleichtert trete ich hinaus auf die Straße.
„Das war wieder mal was, nicht wahr?“, ertönt brummend Hals Stimme schräg hinter mir.
Ich drehe erfreut den Kopf in seine Richtung, als er mit langen Schritten zu mir aufschließt. „Oh ja. Und dann auch noch mit Nessa als Moderatorin! Wenn wir uns schon in die Haare kriegen, dann doch bitte mit ein bisschen Emotion in der Diskussion, damit es wenigstens unterhaltsam ist!“ Im Firuntempel, dem Gastgeber des gerade beendeten Treffens, herrschen die Regeln des Meisters der Disziplin. Das wirkt sich auch sehr auf die Stimmung der Teilnehmer aus.
Hal grinst breit. „Kannst du dir die Diener des Lehrers der Gelassenheit aufgebracht vorstellen?“
„Bei den Zwölfen, nein!“ Der Gedanke lässt mich auflachen, und auch Hal stimmt dröhnend in mein Lachen ein. Gut, dass wir schon weit genug vom Firuntempel entfernt sind, sodass uns dort keiner mehr hören kann. Aber so unhöflich es ist – es ist nun mal auch lustig, und mit Hal darf ich mich amüsieren, ohne darauf achten zu müssen, keiner von zwei Parteien zu nahe zu treten. Es tut gut, sich gelegentlich Phex‘ Aspekt des Humors zu widmen und nicht immer nur dem des Handels.
„Wollen wir noch ein Bier trinken?“, fragt Hal und deutet auf ein Gasthaus zwei Straßenecken weiter. „Ich bezahle diesmal!“
Ich nehme die Einladung sehr gerne an. Viel zu selten kommen wir beide dazu, uns in Ruhe miteinander zu unterhalten, da darf man solche Gelegenheiten nicht verstreichen lassen!
In der Nähe eines der offenen Fenster finden wir einen Tisch für zwei. Gut gelaunt stoßen wir miteinander an und lachen noch eine Weile über die verschiedenen Begebenheiten und Anekdoten des heutigen Abends. So ernst das Thema auch war – eine Empfehlung an den Herzog bezüglich einer ganzen Liste von Fragen der Moral –, es gab auch ausreichend viele in der Rückschau lustige Momente. Anders wären diese Sitzungen auch nicht zu ertragen!
Nach einiger Zeit treten vier Personen vom Tresen weg und greifen nach Instrumenten, die ich bislang völlig übersehen habe. Die Musik, die sie anstimmen, lädt sogleich einige Paare zum Tanz auf die freie Fläche, die zu schaffen einige Stühle und Tische beiseite geräumt wurden.
Hal reckt den Hals und schaut auf die Tänzer, als suche er jemanden.
„Ist dir in meiner Gesellschaft langweilig? Hoffst du auf eine freie Dame?“, necke ich ihn freundschaftlich.
Er grinst mich an. „Oh nein, Rako. Ich suche nach deinem Schützling.“
Die Verwirrung muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Hals dröhnendes Lachen übertönt für einen Augenblick die Musik, als er mich ansieht.
„Wusstest du nicht, dass er ab und zu abends ausgeht?“, fragt er mich.
Ich hebe die Schultern. „Ausgehen, ja. Aber ich dachte immer ... Bist du dir sicher, dass er tanzt? Talfan? Mein Akoluth Talfan?“
Wieder lacht Hal, diesmal so lange, dass er sich am Ende Tränen aus den Augenwinkeln wischen muss.
„Oh, bei den Zwölfen, Rako! Ich wusste nicht, dass du davon überhaupt nichts weißt!“
Leicht beleidigt verschränke ich die Arme vor der Brust. „Und ich wusste nicht, dass du dich für diese Art Tratsch interessierst!“
Jetzt lächelt Hal geheimnisvoll. „Manchmal erfährt man die interessantesten Dinge, wenn die Leute glauben, sie interessierten dich nicht, Rako. Und nur, weil mein Hauptaugenmerk nicht auf solcherlei Dingen liegt, heißt das ja nicht, dass ich nichts davon mitbekomme oder gar verfolge! Außerdem ist Talfan seit unserem Training ja auch mein Schüler.“
Ich kann seinen Argumenten nichts entgegensetzen und strecke seufzend die Waffen. „Nun gut, nun gut. Also – was hast du erfahren? Mit wem, bei Phex, geht Talfan tanzen?“ Ich kann es mir immer noch nicht so wirklich vorstellen.
„Die Frage ist viel eher, wer mit ihm tanzen geht“, belehrt Hal mich mit amüsiert blitzenden Augen. „Eine Akoluthin aus dem Phextempel bringt ihn immer mal wieder in die Gasthäuser, in denen Musik gespielt wird. So eine Hübsche mit langen, dunkelbraunen Locken und einem Muttermal hier.“
Er deutet mit dem Zeigefinger in sein Gesicht, und sofort wird mir klar, von wem er redet: Isidra!
Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Das hätte ich nie für möglich gehalten“, murmle ich erstaunt.
Hal sieht mich ernst an. „Du meinst, weil er niemanden in seiner Nähe duldet, außer im Kampftraining?“
Wortlos nicke ich.
„Ich glaube, die Akoluthin lässt ihm kaum eine andere Wahl. Sie ist wirklich überzeugend, und auch, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass er auf ihre Annäherungsversuche eingeht, mag er ihre Gesellschaft. Sie reden und lachen viel, und obwohl sie sich ziemlich sicher mehr erhofft, hat sie an diesen Abenden viel Spaß.“ Hals sanftes Lächeln offenbart eine mir bis dahin gänzlich unbekannte Seite an dem kriegerischen Geweihten.
„Ich habe es immer noch nicht ganz verstanden“, erwidere ich mit gerunzelter Stirn. „Reden, lachen, das glaube ich alles, denn dabei ist ja in der Regel ein Tisch Abstand zwischen den beiden. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie das mit dem Tanzen klappen soll!“
Hal schürzt die Lippen und zuckt mit den Schultern. „Solche Tänze tanzen sie nicht“, erklärt er und weist mit einer Kopfbewegung gen Tanzfläche, auf der sich die Paare gerade eng aneinandergeschmiegt zum langsamen Rhythmus der Musik wiegen. „Eher die, bei denen man sich nur an den Händen greifen muss.“
Ungläubig lächelnd schüttle ich wieder den Kopf. „Das ist trotzdem ganz erstaunlich!“ Hoffnung wallt in mir auf. Wenn Talfan es schafft, tanzen zu gehen, ist es nicht unmöglich, dass er eines Tages auch eine Gefährtin findet! Vielleicht ja sogar Isidra? Sie ist klug und freundlich. Ich könnte mir die beiden gut zusammen vorstellen.
„Wovon tagträumst du?“, fragt Hal mich schmunzelnd.
Ich werfe ihm ein entschuldigendes Lächeln zu. „Verzeih. Ich hatte mich der Hoffnung hingegeben, dass Talfan seine Angst und seine Überforderung, die, wie ich glaube, der Grund für seinen gelegentlichen Jähzorn ist, doch überwinden kann. Vielleicht ist Isidra ja genau die Person, die er braucht!“
Nachdenklich wiegt Hal den Kopf. „Ich weiß nicht“, dämpft er meine Hoffnungen. „Ich glaube, dass es vielmehr die Meditationsübungen sind, die du ihn gelehrt hast, die ihm gegen seine Überforderung helfen.“ Er lächelt, als er mein Erstaunen bemerkt. „Er hat mir davon erzählt, Rako. Er schätzt dich sehr, weißt du?“
„Wann habt ihr über Meditation geredet?“ Ich bin viel zu verblüfft, um auf Hals Frage einzugehen.
Er lacht kurz auf. „Einige Fechtübungen sind, wenn man sie langsam und präzise durchführt, wie körperliche Meditation. Das habe ich ihm gesagt, und da bemerkte er erfreut, dass er dann jetzt beide Formen erlernt, die geistige von dir und die körperliche von mir.“
Das Grinsen auf meinem Gesicht will, genau wie das faszinierte Kopfschütteln, gar nicht mehr aufhören. „Nie hätte ich gedacht, dass ich heute solche Dinge erfahre!“
Dann realisiere ich, was Hal noch gesagt hat, und sehe ihn ernst an. „Er schätzt dich auch sehr, Hal. Ich glaube, dass er in eurem Training viel von dem Frust, den er wegen seiner Überforderung verspürt, abbaut. Das hilft ihm, ruhiger zu bleiben. Er ist nach dem Training immer regelrecht entspannt.“
Hal lächelt versonnen und sieht in seinen Krug.
Ich leere mein Bier. „Bitte entschuldige mich, alter Freund. Ich muss unbedingt Turike berichten, was du mir erzählt hast! Sie wird sich unglaublich freuen!“ Ob sie mir überhaupt glauben wird?
Auch Hal trinkt den letzten Schluck. „Kein Problem. Es war mir eine Freude, wie immer – und dich überrascht zu haben, hat mir den Abend besonders versüßt! Sag daheim viele Grüße!“
Wir verabschieden uns mit einer herzlichen Umarmung, dann eile ich nach Hause. Ich platze fast vor Vorfreude – Turike wird staunen!