Javert und Nazir begleiten uns nach unten in die Schankstube, wo sie sich von uns verabschieden. Die Herzlichkeit der drei untereinander beeindruckt mich – durch das Heimatgefühl, das sie mir vermitteln, fühle ich mich auf seltsame Art in ihren Kreis aufgenommen. Als Nazir mir viel Spaß beim Training wünscht und mir zum Abschied sanft seine Hand auf den Arm legt, überkommt mich zum ersten Mal keine Angst bei einer solchen Berührung. Dennoch ist sie mir unangenehm. Nazir spürt das sofort, denn noch bevor ich einen Schritt beiseitetreten kann, ist seine Hand so selbstverständlich wieder verschwunden, wie sie sich zuvor auf meinen Arm gelegt hatte. Der Respekt, den Rahjageweihte vor den Wünschen ihres Gegenübers haben, beeindruckt mich immer wieder. Lächelnd erwidere ich den Abschiedsgruß und gehe mit der Kavalierin, die sich mir auf dem Weg als Selma Ballurat vorstellt, zum Training.
Wir fechten lange, sodass es spät ist, als wir gut gelaunt wieder im Gasthaus eintreffen. Es war großartig, wieder einmal mit einer versierten Fechtmeisterin zu üben – zu Beginn war ich überrascht, wie abgestumpft einige meiner Fähigkeiten inzwischen waren! Doch kaum, dass ich mich wieder eins mit meinem Rapier fühlte, waren unsere Übungsduelle nahezu ausgeglichen. Selma brachte mir zwei neue Formen bei, so wie ich ihr zu meiner Freude ebenfalls etwas zeigen konnte, das sie nicht kannte.
Wir gehen direkt hinauf zu dem gemieteten Zimmer, wo Nazir und Javert uns bereits erwarten. Eigentlich hatte ich vor, Selma nur zurückzubegleiten, den beiden anderen eine gute Nacht zu wünschen und mich in den Tempel zurückzuziehen, doch irgendetwas lässt mich zögern, als ich die drei ansehe.
„Setz dich, Talfan“, lädt Nazir mich ein und deutet auf eine Ecke des Raums, der mit fast allen verfügbaren Kissen in eine gemütliche Sitzgelegenheit verwandelt wurde. Der Anblick ist so verlockend, dass ich der Einladung ohne weiteres Nachdenken Folge leiste und mich in die weichen Kissen sinken lasse. Woher der Becher mit Wein in meiner Hand kommt, kann ich beim besten Willen nicht sagen.
Träge lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Javert und Selma unterhalten sich angeregt über das Training, wobei Selma ihm von der Parade erzählt, die sie von mir gelernt hat. Völlig ungeniert zieht sie sich dabei die verschwitzte Kleidung aus, beginnt, sich an der Waschschüssel zu waschen, und lacht, als Javert ihr dabei zur Hand geht. Auch er beginnt, sich auszuziehen und zu waschen.
„Du hast keine Gefährtin, oder?“
Erst, als Nazir mich anspricht, bemerke ich, dass ich die beiden angestarrt habe, und wende beschämt den Blick ab. „Nein“, antworte ich verlegen.
„Auch keinen Gefährten?“ Nazirs neugieriger Blick findet meinen und hält ihn. Irgendetwas in seinen dunklen Augen verhindert, dass ich mich abwenden kann.
„Nein“, antworte ich leise. Woher weiß er, dass das für mich eine valide Option wäre?
Sein Blick fixiert mich weiterhin. Doch obwohl er mich gefangen hält, herrscht eine seltsame Vertrautheit zwischen uns – entgegen all meinen Erwartungen fühle ich mich wohl dabei, mit Nazir über solche Dinge zu sprechen. Liegt es daran, dass er Rahja dient? Oder verbindet uns unsere Herkunft aus dem Süden?
Zu meiner Überraschung höre ich mich fragen: „Selma und Javert ... sie sind deine Gefährten, oder?“
Ein Lächeln erhellt Nazirs Züge. „Ja“, bestätigt er erfreut. „Ich wusste, du würdest das verstehen.“ Nach einem Moment des Schweigens fährt er fort. „Warum bist du allein? Hier gibt es sicherlich einige Personen, die dich attraktiv finden. Hast du dich mit keiner davon je eingelassen?“
Schon das Wort „eingelassen“ erzeugt eine Mischung aus Verlangen und Furcht in mir, die sich als Gänsehaut auf meinem Körper widerspiegelt. „Ich ...“ Wie kann ich das nur erklären?
„Bist du nicht daran interessiert, mit anderen das Bett zu teilen?“
Mein Blick verrät ihm wohl meine Verblüffung, denn er lacht, bevor er sich erklärt. „Es gibt Personen, die keinerlei Verlangen danach verspüren. Manche von ihnen verabscheuen es, anderen ist es egal, einige sehen gerne zu und wieder andere lassen sich sogar gern auf einen Partner ein, wenn sie ihn lieben und derjenige das Liebesspiel initiiert. Ich hatte mich gefragt, ob du so jemand sein könntest. Die Götter erschaffen uns Sterbliche in allen Variationen.“
Was er mir offenbart, ist mir neu. Ich kann mir nicht vorstellen, das Verlangen nicht zu verspüren, das mich beim Anblick so mancher unbekleideter Person oft überfällt. „Ich empfinde das Verlangen durchaus. Aber ... ich kann das nicht. Ich ertrage es nicht, wenn andere mir zu nahe kommen.“
Nazir hebt neugierig die Augenbrauen. „Körperlich oder seelisch?“
Überrascht denke ich nach. So habe ich mir diese Frage noch nie gestellt. „Körperlich“, antworte ich nach einer kurzen Pause. „Seelisch weiß ich es nicht. Damit habe ich keine Erfahrungen.“
Verstehen blitzt in Nazirs Augen auf. „Das ist es also.“ Er lächelt zufrieden, als habe er ein Geheimnis gelüftet. Mein Geheimnis. Aber was soll das sein? Stirnrunzelnd warte ich auf eine Erläuterung.
Er schmunzelt. „Genau, wie es Sterbliche gibt, die gar kein Bedürfnis nach körperlicher Vereinigung verspüren, gibt es welche, die sehr, sehr lange brauchen, bis sie dieses Verlangen empfinden. So selten, dass manche von ihnen nur einmal im Leben einen Partner finden – und andere gar nicht. Und genau dasselbe gilt für romantische Gefühle. Einige Sterbliche empfinden sie nicht – und andere erst, nachdem sie eine enge Beziehung zu jemandem aufgebaut haben. Vielleicht gehörst du zu einer dieser Gruppen.“ Dann wird sein Blick ernst. „Aber was hat es mit deiner Abneigung gegen Berührungen auf sich?“
Ich bin von seinen Ausführungen so fasziniert, dass ich seine Frage ignoriere und wieder zu Nazirs Gefährten hinübersehe, die immer noch an der Waschschüssel stehen. „Was empfindest du für sie?“
Kaum, dass er zu ihnen hinübersieht, erscheint ein Lächeln auf Nazirs Lippen. „Ich liebe sie. Und ich teile gern das Bett mit ihnen. So wie sie mit mir und auch untereinander.“
Erst jetzt wird mir klar, warum ich zu Nazir geschickt wurde, als ich die Kavaliere suchte. Sie haben keine separaten Zimmer. Sie schlafen alle hier. Alle drei.
Die Wirkung des Weins und der fehlende Schlaf der letzten Nacht machen meine Gedanken träge und langsam. Ich sollte dringend zurück in den Tempel. Ich brauche Schlaf ...
„Was hast du erlebt, dass du Berührungen meidest?“ Nazirs Stimme ist leise und sanft, und ich bin viel zu beschäftigt damit, meine Augen offen zu halten, um Widerstand gegen seine Fragen zu zeigen.
„Nähe endet immer im Schmerz“, murmle ich mühsam. Der Raum um mich beginnt, zu verschwimmen, und ich kann kaum noch gegen die Müdigkeit ankämpfen. „Schläge, Nazir. Tritte. Wenn ich nicht aufpasse, tötet er mich das nächste Mal vielleicht mit seinem Stock ... dabei habe ich doch gar nichts getan ... oder? Ich bin nicht, wie er es erwartet hat ...“
Nazir nimmt mir behutsam den Weinbecher aus der Hand. „Schlaf, Talfan. Du hast es nötig. Du kannst hierbleiben heute Nacht. Niemand wird dich hier anrühren. Hier bist du vollkommen sicher.“
Seine letzten Worte höre ich nur als fernes Echo, so sehr zwingt mich die Müdigkeit in die Knie. Am Rande nehme ich wahr, wie Nazir mich rückwärts in die Kissen dirigiert, eine Decke über mich breitet und sich erhebt.
„Er ist ein Rahjageweihter“, flüstert eine sanfte Stimme in meinem Kopf. Ruhe und ein Gefühl von Sicherheit hüllen mich ein, während Boron mich in seine Arme zieht. „Rahjageweihte tun nie etwas, was der andere nicht will.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen lasse ich mich endlich von Boron entführen.