Talfan hat eindeutig etwas auf dem Herzen. Turike wirft mir einen auffordernden Blick zu, als sie sich vom Tisch erhebt, um die Kinder ins Bett zu bringen. Ihre Botschaft ist klar: Ich soll mit ihm reden, und ich nicke kaum merklich, um ihr zu zeigen, dass ich verstanden habe.
Während sie sich von Talfan verabschiedet, hole ich zwei Becher und eine Flasche Wein – meine Standardausrüstung, wenn ich meinen Akoluthen zum Reden bringen will. Alkohol lässt ihn deutlich ungezwungener werden, senkt die Schilde, die er um seine Gefühle und Gedanken errichtet hat.
Eine Weile sitzen wir schweigend da und genießen den Wein – ich will ihm die Gelegenheit geben, mir von sich aus zu erzählen, was los ist.
Es dauert einige Zeit, bis er das einvernehmliche Schweigen bricht, das zwischen uns herrscht. “Warum tragen du und Turike verschiedene Nachnamen?”
Ich hatte nicht wirklich erwartet, dass er sofort mit der Sprache herausrückt, aber diese Frage überrascht mich doch. “Weil wir keinen Traviabund eingegangen sind”, erkläre ich das Offensichtliche.
Er sieht mich nicht an, sondern hält den Blick auf seinen fast leeren Becher gesenkt. “Warum nicht?”
Was, bei Phex, hat dieses Thema mit seinen Sorgen zu tun? Ist er verliebt? Er wirkt eher bedrückt.
“Phex- und Tsageweihte gehen selten einen Traviabund ein”, erkläre ich, “Beide Götter stehen unter anderem für die Freiheit der Sterblichen. Ein Traviabund ist einer der bindendsten Schwüre, die es gibt – würdest du dich freiwillig den Rest deines Lebens verpflichten wollen?”
Nun hebt er doch den Blick. Die Intensität seiner Augen zeugt davon, dass er auf dem Weg zu der Frage ist, die ihn wirklich beschäftigt. Ich bin außerordentlich gespannt, worauf das hier hinausläuft.
“Und was ist mit euren Kindern? Ohne Traviabund werden sie in Rechtsfragen nicht als deine Nachkommen anerkannt. Aber du liebst sie doch – wie kannst du ihnen so etwas antun?”
Oh, ihr Götter! Hat er etwa ... das kann nicht sein. Dafür müsste er einer Frau ja wahrhaftig nahekommen. Oder etwa doch? Er geht regelmäßig mit Isidra tanzen ...
“Natürlich werden sie als meine Kinder anerkannt, Talfan. Nach ihrer Geburt habe ich vor Zeugen erklärt, alle Rechte und Pflichten der Vaterschaft zu übernehmen. Sie sind die einzige wahre Verpflichtung, die ich in meinem Leben habe, und selbstverständlich liebe ich sie. Erwachsene erklären sich gegenseitig ihre Liebe und arbeiten daran, sie zu pflegen und zu erhalten, auch, wenn es keine Garantie dafür gibt. Doch die Liebe zu Kindern ist unverbrüchlich.”
Er leckt sich nervös über die Lippen, und mein Herz schlägt bis zum Hals. Er ist Phexens Aspekt der Spionage wesentlich mehr zugetan als dem des reinen Handels – was für Konsequenzen hätte es, wenn er sich nun an diese Gegend hier binden müsste? Wäre er als offener Geweihter glücklich? Wäre er überhaupt geeignet? Es erfordert viel Umgang mit Menschen …
“Für die Götter sind wir wie Kindern, nicht wahr?”
Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich schließe für einen Moment erleichtert die Augen, sende ein stilles Dankgebet an Phex, bevor ich ihn wieder ansehe. “Ja, Talfan. Für die Götter sind wir so etwas wie Kinder.”
“Warum strafen sie uns dann? Warum straft man Kinder, die man eigentlich liebt?” Seine Hände sind zu Fäusten geballt und er starrt mich unverwandt an. Meine Antwort ist ihm unglaublich wichtig.
Wie kann ich das so erklären, dass er, der zuhause nur Strafe erfahren hat, das versteht? Und fragt er hier wirklich nach den Göttern oder doch nach seinem Vater?
Ich erwäge meine Worte sorgfältig, nehme mir Zeit, sie im Geiste zu formulieren, obwohl sein fragender Blick drängend ist. “Um sie zu lehren, Talfan. Zuerst erklärt man ihnen, was sie nicht tun dürfen. Natürlich genügt das nicht immer. Man erklärt es ein zweites Mal, vielleicht noch mehrere weitere Male. Doch wenn Ermahnungen zu nichts führen oder das Fehlverhalten nicht wiederholt werden darf, weil es beispielsweise gefährlich ist, verhängt man Strafen. Sie bleiben besser im Gedächtnis haften als bloße Worte. Es ist zu ihrem eigenen Besten.”
Er schluckt. “Zu ihrem eigenen Besten”, wiederholt er leise. Dann sieht er mir direkt in die Augen. “Verzeiht man Fehler, nachdem die Strafe abgeleistet wurde?”
Haben die Götter ihm etwas auferlegt, das er als Strafe ansieht? Ich frage nicht nach, noch nicht. “Kindern verzeiht man letztendlich immer. Sie sind Kinder. Wenn man allerdings erwachsen geworden ist, muss man sich den Konsequenzen seiner Taten bewusst stellen – dazu gehört auch, Strafen für Fehlverhalten auf sich zu nehmen. Und ja, anderen Erwachsenen fällt es leichter, Fehler zu vergeben, wenn der Täter eine Strafe erhalten und dadurch Buße getan hat. Kinder lernen auch das von ihren Eltern.” – ‘... wenn auch nicht in solchem Umfang, denn letztendlich verzeiht man seinen Kindern unglaublich viel’, füge ich im Geiste hinzu. Laut werde ich das nicht äußern – nicht ihm gegenüber, der von seinem Vater nichts verziehen bekam.
Er nickt nachdenklich, sagt aber nichts. Geistesabwesend dreht er den leeren Weinbecher in seinen Händen.
Ich gebe ihm einige Minuten Zeit, doch als er keine Anstalten macht, weiterzusprechen, ergreife ich wieder das Wort. “Was ist los?”, erkundige ich mich behutsam. “Wurdest du für etwas bestraft? Wurde jemand anderes bestraft und du erwägst, ihm zu verzeihen?”
Ich hebe die Weinflasche, als Angebot, ihm nachzuschenken, und er hält den Becher still, um es mir zu ermöglichen. Ich wünschte, er würde sich mir ohne Alkohol öffnen können, doch vielleicht ist das zu viel verlangt – es ist jetzt schon eine gewaltige Verbesserung zu früher, als er fast gar nicht mit mir sprach.
“Ich werde nicht mehr mit Tjeika sprechen”, erklärt er nach einer Weile. Mehr sagt er dazu nicht, doch in kann in seinem Gesicht lesen, dass es ihm damit ernst ist.
Ich werde nicht versuchen, ihn umzustimmen, und nicke nur. Was hat sie wohl gesagt, das ihn so aufgewühlt hat? Ich tippe darauf, dass es etwas über seinen Vater war. Und vielleicht auch etwas, das er als Strafe der Götter ansieht. Aber ich dringe nicht weiter in ihn.
“Das Training bei Hal wirst du aber fortführen?”, frage ich.
Jetzt ist es an ihm, nur zu nicken. Dann überrascht er mich.
„Danke, Rako. Für die vielen Dinge, die du mir vermittelt hast. Tjeika macht ihre Sache nicht schlecht, aber sie interpretiert Dinge in mich hinein ...“ Er beendet den Satz nicht, sondern schüttelt nur seufzend den Kopf.
Ich lächle. Er schuldet mir keine Erklärung und hat dennoch mehr von seinen Gedanken preisgegeben als nötig. “Danke für dein Vertrauen”, erwidere ich schlicht und proste ihm zu.
Er schenkt mir eines seiner seltenen ehrlichen Lächeln und prostet zurück „Das hast du dir verdient, Rako.“
Unser Gespräch hat sein Problem nicht gelöst, ihm aber ein gutes Stück weitergeholfen. Davon bin ich überzeugt, als er mich an diesem Abend verlässt.