Dass Talfan am Praiostag mit uns zu Abend isst, ist uns allen inzwischen zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit geworden. Danja vergöttert ihn regelrecht, was Turike und mich so manchen amüsierten Blick tauschen lässt, und auch Arlin scheint sich in seiner Gegenwart sehr wohl zu fühlen.
Auch Talfan selbst taut richtiggehend auf, wenn er unser Haus betritt. Zwar hält er sich im Tempel nicht mehr so auffällig von den anderen Geweihten und Akoluthen fern, doch das ehrliche Lächeln, das ich zuhause ab und zu beobachten kann, habe ich dort noch nie gesehen.
Einerseits freue ich mich, dass der Plan, ihm zu einem Vertrauten zu werden, funktioniert hat, andererseits hatte ich mir gewünscht, dass er dadurch auch zu anderen Personen weniger Distanz hält. Doch vielleicht bin ich einfach zu ungeduldig – manche Dinge brauchen Zeit, und es sind nur wenige Wochen, kaum Monate, vergangen. Dennoch erkenne ich den abweisenden, zurückgezogenen Akoluthen, der im Winter bei uns ankam, kaum wieder, wenn er lachend mit meiner Tochter Fangen spielt oder mit meiner Gefährtin plaudernd hilft, Geschirr auf dem Tisch zu verteilen.
Ich setze gerade den Topf auf dem Tisch ab, den ich vom Herd geholt habe, während die anderen sich bereits gesetzt haben. Turike reicht mir zuerst Talfans, dann meinen Teller, bevor sie auch ihren eigenen füllen lässt. Dann spricht sie ihr übliches Dankgebet an Travia und Peraine, bevor das beginnt, was ich inzwischen nur noch als Raubtierfütterung bezeichne: Danja und Arlin bekommen Eintopf.
Danja besteht schon seit geraumer Zeit auf einen eigenen Teller und isst glücklicherweise schon ausreichend präzise, dass man das Haus nach dem Essen nicht sofort renovieren muss.
Arlin hat feste Nahrung jedoch erst vor Kurzem für sich entdeckt und lässt keinem von uns Ruhe, bis wir ihm nicht genau von dem abgeben, was wir gerade essen, ob es ihm schmeckt oder nicht. Wir haben oft also nur die Wahl zwischen empörtem Gekreische oder der besagten Renovierung.
Heute ist Arlin müde und quengelig, was die Raubtierfütterung noch schwieriger macht als üblich. Ich vermittle einige Zeit im Kampf zwischen dem Kleinen und meinem Löffel, bis Turike zumindest so viel gegessen hat, dass sie nicht mehr allzu hungrig ist. Dann übernimmt sie unser kleines Monster, sodass ich endlich etwas noch halbwegs Warmes in den Bauch bekomme.
Danja ist in der Zeit längst fertig und hat Talfan in ihr neues Lieblingsspiel verstrickt. Überall findet sie ihrer Ansicht nach geeignete Stöcke und übt das Fechten, seit sie irgendwo aufgeschnappt hat, dass Talfan das auch tue. Der hilft ihr gerne, aus ihrer Stockauswahl die wahrlich tauglichen Exemplare herauszusuchen, und zeigt ihr einfache Übungen, die sie sicherlich eines Tages zum gefürchtetsten Kind des ganzen Viertels werden lassen. Da er ihr stets einschärft, dass man den Stock nur beim Üben zum Angreifen verwenden darf, haben weder Turike noch ich etwas gegen Danjas neues Lieblingsspiel einzuwenden. Heute sind wir sogar recht froh, dass Talfan Danja noch eine Weile beschäftigt, als Arlin endlich satt ist.
„Es wird Zeit fürs Bett“, sagt Turike nach einer Weile und setzt Danjas Übungsabend damit ein Ende. Die nutzt die Ablenkung, um Talfan, der zu uns herübergesehen hat, ihren Stock in die Seite zu bohren.
Sein gequältes Aufstöhnen, Zusammenfahren und sich Krümmen schockieren sie ebenso wie Turike. Mir fällt in diesem Moment siedendheiß ein, dass Talfan sich zwei Rippen gebrochen hat – er hat es im Spiel mit Danja so erfolgreich verborgen, dass ich es glatt vergessen hatte.
Rasch eile ich zu meiner Tochter und schließe sie in die Arme, damit sie spürt, dass nichts Schlimmes geschehen ist. Eingeschüchtert und ratlos drückt sie sich an mich, und ich streiche ihr beruhigend über den Kopf.
„Alles in Ordnung, meine Kleine“, sage ich in ruhigem Ton. „Talfan hat sich weh getan, und du hast aus Versehen genau die Stelle getroffen. Aber schau, es wird schon wieder besser.“
Mit Tränen in den Augen wendet sie zögernd ihren Kopf in seine Richtung, als er sich gerade wieder aufrichtet und ihr ein schwaches, aber aufrichtiges Lächeln schenkt.
„Nicht schlimm“, versichert er ihr leicht gepresst. „Schau, wieder in Ordnung.“ Mit diesen Worten hebt er die Hände und dreht die schmerzende Stelle in ihre Richtung.
„Willst du selbst nachschauen?“, fragt er sie, jetzt wieder mit ganz ruhiger Stimme. „Komm her, du kannst gucken!“
Innerlich seufzend gebe ich Danja frei, damit sie zu ihm hinüberlaufen kann. Während er ihre kleinen Hände vorsichtig über die fragliche Stelle seines Hemds führt, denke ich nach.
Wie schaffe ich es nur, dass auch meine Nähe ihm kein Unbehagen mehr bereitet? Erst, seitdem ich Talfan besser kennengelernt habe, fällt mir auf, wie sehr Körperkontakt die Bindung zwischen Menschen stärkt. Turike, Kryptild, Hal, selbst andere Leute, mit denen ich nicht so gut befreundet bin, berühre ich bei unseren Begegnungen, meist unbewusst, wenn es sich nicht um die Begrüßung oder Verabschiedung handelt. Eine beruhigend auf den Arm gelegte Hand, ein amüsierter Ellbogenstoß, ein aufmunterndes Schulterklopfen – auf all das zu verzichten, ist erstaunlich schwierig.
Danja hat sich überzeugt, dass sie Talfan nichts getan hat, und lässt sich endlich von uns ins Bett bringen.
„Was ist dir geschehen?“, fragt Turike besorgt, kaum, dass wir wieder bei ihm sind.
Ich sehe ihr an, dass auch sie ihre Sorge um sein Wohlergehen gerne durch eine Berührung ausdrücken würde, doch sie hält sich zurück – nicht zuletzt, weil Talfan hinter seinem Stuhl steht und die Hände auf dessen Lehne gestützt hat, um ein Hindernis zwischen ihm und uns zu haben. Der Anblick stimmt mich wieder ein wenig traurig.
Beschämt senkt er den Kopf. „Ich habe mir zwei Rippen gebrochen“, murmelt er leise.
Turike setzt sich, und ich tue es ihr gleich, um auch Talfan die Möglichkeit zu geben, endlich den Stuhl loszulassen.
„Wie ist das passiert?“, fragt Turike weiter. „Hat dein Esel dich getreten?“
Talfan lacht auf, verzieht dann das Gesicht, legt eine Hand auf die schmerzende Seite und lässt sich ebenfalls wieder auf seinen Stuhl sinken. Betrübt schüttelt er dann den Kopf. „Ich hab mich mit ein paar Leuten geschlagen“, gesteht er. Leichte Röte überzieht sein Gesicht. Ich weiß, dass es ihm peinlich ist, wenn er die Beherrschung verliert.
„Warum?“ Turikes große Augen sind verblüfft und verständnislos.
Er zuckt unsicher mit den Schultern und sein Gesicht nimmt einen noch tieferen Rotton an. „Ich weiß auch nicht ... Sie haben mich in die Ecke gedrängt. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen ... und dann hab ich einen von ihnen verletzt.“ Seine Stimme ist gegen Ende kaum noch hörbar, und er fährt sich in einer verzweifelten Geste mit einer Hand durch die Haare. „Ich wollte das nicht“, erklärt er dann vehement.
Turike sieht ihn streng an. „Warum tust du es dann? Das ist nicht das erste Mal, nicht wahr? Rako hat es mir nie im Detail erzählt, aber ich habe Ohren und viele Bekannte.“
Ich beobachte die beiden fasziniert. Auch ich habe mir diese Fragen schon oft gestellt, manchmal sogar Talfan gefragt, doch bislang habe ich keine Erklärung erhalten, die mich zufriedenstellen würde. Wird Turike gelingen, was mir bisher versagt blieb?
Talfan windet sich unter ihrem Blick, doch er antwortet nicht. Er würde gern die Flucht vor diesem Gespräch ergreifen, ich sehe es ihm an, doch sein Respekt vor Turike hindert ihn – noch.
Plötzlich zeichnet sich Verstehen auf Turikes Zügen ab. Erstaunt sieht sie ihn an.
„Danach geht es dir besser, nicht wahr?“ Nun ist ihre Stimme sanft.
Talfan nickt stumm.
„Lässt du so deine innere Unruhe heraus?“
Ich verstehe ihre Frage nicht wirklich, aber Talfan scheint zu wissen, wovon sie spricht. Endlich begegnet er ihrem Blick.
„Bringt es dir innere Ruhe zurück?“ Turike lässt nicht locker, drängt auf eine Antwort.
„Ja“, gesteht er, und Scham färbt seine Wangen erneut.
„Dann ist die Lösung einfach“, verkündet Turike und lässt ihren Blick zwischen uns wandern. „Rako – lehre ihn meditieren!“
Verblüfft starre ich meine Gefährtin an.
„Welche innere Unruhe?“, frage ich verwirrt.
Turike verdreht die Augen. „Das ist jetzt unwichtig“, wischt sie meine Frage beiseite. „Unterrichte ihn einfach – es wird helfen!“ Mit den Augen teilt sie mir mit, dass sie mir später auf die Sprünge helfen wird, wenn Talfan nicht mehr hier ist.
Talfans hoffnungsvolle Stimme lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Kann es das?“
Auf Turikes aufforderndes Nicken hin antworte ich: „Ja, das kann es. Ich lehre es dich – gleich morgen fangen wir damit an, gegen Mittag im Tempel.“ Aufmunternd lächle ich. „Du wirst sehen – es ist gar nicht so schwierig.“
Als er sich verabschiedet und uns verlassen hat, wende ich mich umgehend an Turike, um meine Neugier zu befriedigen.
„Was treibt ihn denn jetzt immer zu seinen Gewaltausbrüchen?“
Turike lächelt. „Er selbst, Rako. Du sagst doch immer, dass er seine Emotionen zurückhält, sogar unterdrückt. Das muss sich auf Dauer ja anstauen. Merkst du nicht, wie viel besser es ihm immer geht, wenn er hier war, mit uns ein wenig lachen und reden konnte, mit Danja und Arlin kuscheln? Das würde ihm alles helfen – aber er hat niemanden außer uns. Er bräuchte so dringend eine Gefährtin.“
Einen Moment lang starre ich ins Leere, als die verschiedenen Informationen sich in meinem Kopf zu einem Gesamtbild fügen. Er ist wirklich mehr er selbst, wenn er hier bei uns ist. Danja und Arlin sind wirklich die Einzigen, die ihm Körperkontakt schenken – bei den Zwölfen, er bräuchte wirklich eine Gefährtin! Tatsächlich war er in den letzten Wochen, seitdem er uns regelmäßiger besuchen kommt, wesentlich seltener in Schlägereien verwickelt.
Zu meditieren könnte ihm wirklich helfen, mehr innere Ruhe zu finden.
Lachend schließe ich Turike in die Arme und drücke ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
„Du bist ein Genie, meine Liebste!“, rufe ich strahlend und freue mich über ihr amüsiertes Lachen.
„Danke“, sage ich, als ich ihr wieder in die Augen sehe. „Ich versuche schon so lange, herauszufinden, wie ich ihm wirklich helfen kann. Kryptild, Hal, Tjeika ... sie alle tragen ihren Teil bei, und ich habe mich so nutzlos gefühlt.“
Liebevoll legt sie mir eine Hand auf die Wange. „Aber du hast das doch alles initiiert, Rako. Ohne dich würde niemand von ihnen etwas für ihn tun, vergiss das nicht.“
Lächelnd ergreife ich ihre Hand und gebe einen Kuss darauf. „Dennoch fühlt es sich großartig an, auch selbst etwas tun zu können. Wie kann ich dir dafür danken?“
Mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck sieht sie zu mir auf und drückt ihren Körper leicht gegen meinen. „Die Kinder schlafen, unser Gast ist fort ... ich hätte da schon eine Idee ...“
Oh ... wie Recht sie hat – wir sollten diese sich selten bietende Gelegenheit zur Zweisamkeit nutzen! Voll Vorfreude lege ich zärtlich meine Lippen auf ihre und lasse mich langsam von ihr in Richtung unseres Schlafzimmers ziehen.