Schon gestern Abend hatte ich kaum in den Schlaf gefunden.
Warum?
Ganz einfach, weil ich IHN heute treffen würde. Ganz spontan und kurzfristig. Mein Chef hatte mir kurz vor Feierabend eine Mail zukommen lassen, dass ich heute früh um neun Uhr mit IHM zum Frühstück verabredet war und das Interview währenddessen und eine geraume Zeit danach stattfinden würde.
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ich würde heute eine lebende Legende treffen. Einen Mann, der seit mehr als fünfzig Jahren nicht mehr als Frau lebte und es durchgezogen hatte, trotz aller Widrigkeiten. Einen Mann, dem in dieser Zeit zumindest den Gerüchten nach so viel Leid widerfahren war und der trotzdem nicht aufgegeben hatte und sein Leben so gelebt hatte, wie er es für richtig hielt.
Ich war lange Zeit bei meinen Recherchen nur auf Gerüchte gestoßen, dass es da eine Person gab, die schon so lange als Mann lebte, ihr Leben aber als Frau gestartet hatte. Gerüchte, dass sie, also die Person, selbst in den schweren Zeiten offen so gelebt hatte, trotz des Wissens, wie gefährlich das für sie war.
Nervös betrachtete ich mich im Spiegel. Saßen meine Kleider? Und das MakeUp? Verdeckte mein Schal meinen Adamsapfel? Eigentlich war das alles Routine für mich, aber heute wollte ich einfach besonders gut aussehen. Ich war trotz der kurzen Nacht früher aufgestanden, um mir die Haare zu machen, sprich mir Locken zu drehen.
Mit zittrigen Händen zog ich meinen Lidstrich noch einmal neu, bevor ich zufrieden war.
Eine halbe Stunde später schob ich die Tür auf. Da saß ER. Ein älterer, gut gekleideter Herr. Lachfalten im Gesicht, aber der Blick in den Augen war das, was mich am Meisten faszinierte. Da waren Weisheit zu sehen, ebenso wie Vorsicht und tief sitzender Schmerz.
Mit sicheren Schritten ging ich auf ihn zu und streckte ihm meine Hand entgegen. Er stand auf, ganz wie der Gentleman der er war.
"Guten Morgen, Herr Schmidt", begrüßte ich ihn mit einem Lächeln. Ich ignorierte, dass meine Stimme noch immer so tief und männlich klang. So lange war ich selbst noch nicht in Transition, daher hatte sich da noch nichts getan.
Er küsste charmant meinen Handrücken, musterte mich einen Moment lang und erwiderte dann das Lächeln.
"Guten Morgen, Frau Beyer", erwiderte er. Seine Stimme klang angenehm, warm und weicher, als ich es erwartet hatte.
Wir setzten uns und einen Moment später kam der Kellner und erkundigte sich nach unserer Bestellung. Dabei war ihm anzusehen, wie unwohl er sich fühlte. Allerdings war er nicht unfreundlich, also sprachen weder ich noch Herr Schmidt ihn darauf an, sondern gaben nur unsere Bestellung ab, die wenig später von einer jungen Frau gebracht wurde, die sich aufrichtig für ihren Kollegen entschuldigte.
"Nicht doch, Liebes. Er war nicht unhöflich, sondern hat sich nur unwohl gefühlt. Es ist alles in Ordnung", sprach Herr Schmidt, bevor ich etwas sagen konnte. Fasziniert beobachtete ich, wie er diese unangenehme Situation für uns beide meisterte.
Als wir wieder allein am Tisch waren, sah er mich warm an.
"Ich hatte heute mit allem gerechnet, wenn ich ehrlich bin, aber nicht mit jemandem, der im Grunde genommen in der selben Situation wie ich selbst ist.", gab er zu.
Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe.
"Sie sind eine Legende in gewissen Kreisen, Herr Schmidt. Ich wollte sie schon seit Jahren treffen und mein Chef hat es mir möglich gemacht", gab ich zu, bevor ich fortfuhr: "Obwohl ich keine Ahnung habe, wie er das geschafft hat. Sie haben Interviews immer abgelehnt."
Herr Schmidt lächelte und trank einen Schluck Orangensaft. "Oh, das war ganz einfach. Mein Sohn hat mich einfach gefragt, ob ich mit ihnen Frühstücken gehen und ein paar Fragen beantworten würde", sagte er einen Moment später.
Ich verschluckte mich an meinem eigenen Saft und hustete einen Moment, bevor ich ihn ungläubig ansah.
"Ihr Sohn?", flüsterte ich atemlos.
Herr Schmidt nickte. "Mein Sohn. Von mir ausgetragen und geboren", bestätigte er. In seinem Blick lagen Stolz und Schmerz so dicht beieinander, dass ich mich nicht traute weiter zu fragen. Vielleicht würde Herr Schmidt von selbst erzählen, aber ich würde so ein offensichtlich schmerzliches Thema nicht anrühren.
Stattdessen ging ich anders vor, als ich es geplant hatte.
"Würden sie mir von sich erzählen?", fragte ich und statt dem "Was wollen sie wissen?", mit dem die meisten Menschen geantwortet hätten, begann Herr Schmidt mit einfach seine Geschichte zu erzählen.
"Ich wurde 1949 als Henrietta Meyer-Schmitt geboren …"