Unkenntnis schützt vor Strafe nicht, wie ich gerade wieder einmal feststellen muss.
Dabei bin ich nicht einmal verantwortlich für meine Unkenntnis. Ich kann nicht lesen. Es ist nicht so, dass ich mich je geweigert habe es zu lernen oder das ich dumm bin. Die Buchstaben ergeben für meinen Kopf einfach keinen Sinn. Ich sehe sie. Erkenne ihre Form, aber ich verbinde nichts mit ihnen. Sie stehen in keinerlei Zusammenhang zueinander.
Ich habe mehrere Leute auf der Straße angesprochen und darum gebeten mir das Schild vorzulesen, aber sie alle haben nur gelacht, den Kopf geschüttelt und sind weiter gegangen ohne mir zu helfen. Also habe ich meinen Weg fortgesetzt. Nicht wissend, ob mir eine Strafe oder Gefahr droht.
Und jetzt bin ich hier, klammere mich an einen dicken Ast, während ein paar Meter unter mir zwei Rottweiler zähnefletschend und bellend kreisen und mich ansehen, als wäre ich ihre nächste Mahlzeit.
Ich rufe um Hilfe. Flehe regelrecht danach, aber niemand kommt.
Ich weiß nicht, wie lange ich mich hier noch halten kann, aber ich glaube wirklich relevant ist das nicht mehr.
Sobald ich falle, ist es aus. Wenn ich den Sturz überlebe, werden die Hunde meinem Leben ein Ende bereiten.
Der Gedanke lässt mich merkwürdig ruhig werden.
Ich weiß zwar auch nicht, was mich nach dem Tod erwartet, aber zum ersten Mal habe ich vor meiner Unkenntnis keine Angst. Einfach weil dann das Lachen, das Fingerzeigen und die abfälligen Bemerkungen über meinen Intellekt aufhören. All die Dinge, die mir wehtun, werden nicht mehr da sein.
Ein Lächeln zeigt sich trotz der Situation auf meinen Lippen und ich bin fast geneigt loszulassen.
Der Ast, an dem ich hänge, knarzt unter meinem Gewicht.
Vielleicht bricht er, bevor ich eine Entscheidung treffen kann.
Dann aber wird die Entscheidung für mich getroffen.
Die Hunde werden zurückgepfiffen und eine warme Stimme sagt mir, dass ich runterkommen kann.
Der Mann, der die Hunde zurückgerufen hat, hilft mir vom Baum und umarmt meinen vor Angst zitternden Körper. Ich klammere mich instinktiv an ihm fest und Tränen rinnen mir über die Wangen.
Mit ruhigen Worten versucht er mich zu beruhigen und nach einer Weile gelingt es mir auch ruhiger zu atmen.
Er fragt mich, ob ich das Schild nicht gesehen habe, das vor den Hunden warnt.
Unsicher gestehe ich, dass ich nicht lesen kann und dass die Leute, die ich um Hilfe gebeten habe, lachend weitergegangen sind.
Auf die Frage, warum genau ich hierlang gegangen bin, erkläre ich, dass dies der Weg war, der mir am Telefon für meine neue Stelle beschrieben worden war.
Seine Augen leuchten mit einem Mal auf.
"Dann bist du Mikaela? Die neue Haushälterin?", fragt er mich.
Ich nicke unsicher.
"Freut mich dich kennen zu lernen. Ich bin Matteo, der Hofverwalter", sagt er und führt mich zu einem Haus, welches hinter einer hohen Hecke verborgen ist. "Geh einfach rein. Du wirst schon erwartet."
Ich folge der Anweisung und wische mir mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen, streiche meine Kleider glatt. Ich hoffe mein Ausflug auf den Baum hat mich nicht zu viel Zeit gekostet. Ich werde es gleich erfahren.