Oger, der (Substantiv, maskulin):
Menschenähnlicher Unhold, überliefert in Märchen oder Sagen. Zeichnet sich durch enorme Körpergröße, bis zum doppelten eines ausgewachsenen Mannes, und Kraft aus. Hässlich und kontaktscheu, gewalttätig, aggressiv und dumm. Eine Vorliebe für Menschenfleisch, am liebsten von Kindern, wird überliefert. Die tatsächliche Existenz dieser Geschöpfe ist umstritten.
Kompendium der modernen Mythen, M bis O
Valerius sah mich durchdringend an, forschend, ungeduldig.
„Also, einen Moment bitte. Du willst mir also sagen, wenn man deinen Bruder hier reizt – kann er uns überhaupt verstehen?“, ihr Blick flackerte kurz in Morgs Richtung, der abwesend dem Gespräch lauschte, „dann verfällt er in eine Art Blutrausch und haut alles kurz und klein. Und selbst du, wo ihr euch doch einen Körper teilt, kannst ihn nicht aufhalten?“
„Ja, Hoheit. Der Rausch, Razsh’ek in unserer Sprache, ist ein ungewolltes Geschenk der Keszz an unser Volk. Ich will nicht behaupten, dass wir früher, vor ihnen, Gewalt explizit verabscheut haben; einen gewissen Hang, Konflikte mit den Fäusten zu lösen, hatten wir schon immer. Aber nie so. Der Razsh’ek beutet gnadenlos diesen Charakterzug aus und verstärkt ihn ums Vielfache.“
„Effektivere Soldaten“, murmelte Valerius und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie überlegte einen Moment, blinzelte dann aber ihren Gedanken fort. „Nun gut. Wir waren gerade bei dem kleinen Dörfchen Augul und dem armen Gregor. Was glaubst du, welch eine Lawine an“, sie räusperte sich vornehm, „Unrat losbricht, wenn ein – entschuldige bitte die Wortwahl, sie ist nicht die meine – Monster über eines meiner Dörfer herfällt? Nächtelange Krisensitzungen, Mobilmachung der Streitkräfte, und und und. Du machst dir keine Vorstellung! Sprich, ich weiß alles über Augul. Aber es ist interessant, deine Perspektive zu hören. Bitte fahr‘ fort.“
Und das tat ich.
***
Vielleicht sollte ich mit meiner Geschichte ein wenig früher ansetzen. Mehr Kontext erleichtert es sicherlich, Verständnis für meine Situation zu empfinden. Denn die Vorkommnisse mit Gregor, dem Bürgermeister – so nennt man den Vorsteher eines Dorfes, habe ich in der Zwischenzeit gelernt – waren ja lediglich der Auftakt zu der beinahe schon schicksalhaften Verkettung von Ereignissen, die sich in der Folge entspinnen sollten.
Und an dieser Stelle bitte ich nochmals um Verzeihung: Ich habe das alles nicht gewollt. Morg sicherlich auch nicht, aber er hat sich eben ein bisschen schwer im Griff. Und wenn er sich eingesperrt fühlt und obendrein noch Hunger hat, ist er nun mal nicht er selbst. Das habe ich dem Bürgermeister wohl mehr als deutlich klargemacht. Genaugenommen geht die Eskalation der Dinge somit genauso auf sein Konto wie der Umstand, dass er von der schweren Eisenkette entzweigeteilt wurde; das hat er sich selber zuzuschreiben. Schande über ihn.
Aber ich schweife ab. Kontext. Vielleicht beginne ich daher mit einer Frage: Was ist der Sinn des Lebens? Der ist sicherlich für jeden unterschiedlich und keine festgeschriebene, unverrückbare Gewissheit. Ich kann mir beispielsweise gut vorstellen, welchen Sinn Morg in seinem Leben sieht. Wenn der mit einem vor Fett triefenden Wildschwein im Mund an einem warmen Feuer sitzt, ist er restlos glücklich. Dasselbe gilt übrigens für den Rest meiner Sippschaft. Wir Oger, wie ihr Menschen uns nennt, sind also im Grunde sehr simple Zeitgenossen und einfach zufriedenzustellen. Gebt uns einen dunklen, schummrigen Wald ohne allzu viel Sonnenlicht und ihr werdet nie Probleme mit uns haben, vorausgesetzt, ihr lasst uns in Ruhe.
Das Problem sind also weniger wir mit unserem Lebenswandel, sondern vielmehr die anderen. Hätten alle Lebewesen dieselbe Vorstellung vom Sinn des Lebens, würden wir alle mehr oder weniger friedlich miteinander auskommen. Nun befinden wir uns aber in einer Lage, in der offensichtlich ist, dass wir uns nicht gegenseitig in Ruhe gelassen haben. Vielleicht führe ich diesen Punkt einfach näher aus, um zu verdeutlichen, was ich meine.
Dass etwas an mir anders ist, als an meinen anderen Artgenossen habe ich das erste Mal richtig begriffen, als ich volljährig geworden bin. Tchor'fan, das Volljährigkeitsfest, wird ein Mal im Sonnenzyklus begangen und alle Jungen und Mädchen, die zwanzig Zyklen überlebt haben, werden zum Mann beziehungsweise zur Frau erhoben. Es ist ein riesiger Spaß, den ganzen Tag über wird bis zur Ohnmacht miteinander gekämpft, werden Beutetiere gejagt und verspeist und nach Sonnenuntergang besaufen sich alle zu wilden Trommelrhythmen. Wie gesagt, ein Riesenspaß, so lange man daran teilnehmen darf. Denn ich durfte es nicht – und folglich Morg auch nicht.
Es ist eine lange Geschichte, daher sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass es nicht allzu viele zweiköpfige Oger gibt – genaugenommen keinen einzigen in der Geschichte unseres Volks – und wenn dessen eine Hälfte dann auch noch derartig anders ist, so wie ich, dann erregt das Misstrauen.
"Hallo, Doz'Cho!", sagte eines der Mädchen zu mir, als ich abseits des lichterloh brennenden Lagerfeuers den anderen beim Feiern zuschaute. Morg war schon lange eingeschlafen, sein Kopf ruhte auf unserer Brust, aus seinem Mund lief ein dünner Speichelfaden und bildete einen nassen Fleck auf unserer Robe. Das Trinkhorn, in dem vor einiger Zeit noch Wurzelbrand gewesen war, war ihm schon längst aus der schlaffen Hand geglitten.
"Nenn' mich nicht so!", entgegnete ich und hoffte, mein Blick transportiere ausreichend Missbilligung.
"Hm? Wie soll ich dich nicht nennen?", rumpelte sie und ließ sich schwer neben mir ins Gras fallen. Ich schaute zu ihr rüber. Sie war wunderschön, der Schwarm aller meiner Altersgenossen: Ihren kahlen Kopf krönte ein einzelner, wilder Schopf feuerroten Haars, ihr wohlproportioniertes Gesicht zierte eine im gleichen Farbton gehaltene Tätowierung und unter buschigen Augenbrauen schauten ihre tiefschwarzen Augen hervor. Zor'a, die Tochter des Häuptlings. Schnell wandte ich meinen Blick ab, ich wollte mir keine Hoffnung machen. Selbstredend war auch ich ihr hoffnungslos verfallen.
"Na... Doz'Cho", murmelte ich.
Sie lachte tief, sodass ihr gewaltiger Bauch rhythmisch ins Schwingen geriet, und boxte mich grob in die Rippen. "Warum? Du bist doch ein Zweischädel!"
Mein Blick huschte zu Morg rüber, der nach wie vor laut schnarchte. "Momentan wohl eher O'Cho", erwiderte ich und grinste schief. Sie lächelte aufrichtig zurück, sodass ihre zierlichen Reißzähne hervorblitzten. "Warum bist du nicht bei den anderen?", wollte ich wissen und deutete auf das in der Lagermitte lodernde Feuer. Entferntes Johlen und Grunzen drang zu uns herüber. Die Stimmung war auf dem Höhepunkt.
Zor'a zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, was feine Muskelstränge unter ihrer dicken Haut hervortreten ließ. "Weiß nicht. Die ganzen Jungen da... die langweilen mich. Die sind alle gleich." Sie machte eine kurze Pause und sah mich eindringlich an. "Nicht so wie du."
"Ja ja, ich weiß. Bin eben ein Doz'Cho, schon klar."
Sie schüttelte eilig den Kopf, sodass ihr Haarschopf umherwirbelte. "Nee, das meine ich nicht. Du bist so... schlau. Schlauer als die alle zusammen. Schlauer als ich. Der Älteste Schat‘un sagt, es gibt eine Legende, die von dir spricht."
Ein dünnes Lachen entfuhr mir. "Schon klar. Und worum es in der Legende geht, hat er dir das auch erzählt?"
"Nee", antwortete sie und grunzte ratlos.
"Geht bestimmt um einen Sonderling, der seinen Stamm ins Verderben stürzt."
Mit einem Mal spürte ich ihre Hand, die grob an meinem Bart zog und mich so zwang, sie anzuschauen. Ich spürte Hitze in meine Wangen steigen, die Berührung ihrer Hand kribbelte auf meiner Haut. "Ich glaube nicht, dass du ein Sonderling bist. Ich finde dich... interessant. Und schön."
"Du findest... was!?", stotterte ich völlig überrumpelt. Zor'a hatte in ihrem ganzen Leben vielleicht drei Sätze mit mir gesprochen und ganz plötzlich gestand sie mir, dass sie genauso fühlte wie ich? Zor'a, die sich jeden einzelnen Jungen des Stamms hätte aussuchen können, nimmt mich, den Zweischädel, den Außenseiter? Die Aufregung schnürte mir die Kehle zu.
Sie kicherte mit tiefer Stimme und blickte mir tief in die Augen. Ich glaubte, sie müsste mein Herz pochen hören, derartig laut dröhnte es in meinen Ohren. Sie nickte lächelnd und näherte sich mir ganz langsam. Schließlich schloss sie die Augen – und küsste mich! Rau, grob, wild, magisch. Sehnsüchtig erwiderte ich ihren Kuss, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich tun musste. Sie war das erste Mädchen, das ich küsste. Ich schloss die Augen und ließ mich ganz darauf ein, ließ sie die Führung übernehmen, da sie eindeutig mehr Erfahrung in diesen Dingen hatte. Ich spürte ihre Hand auf meiner Brust, spürte, wie sie mich streichelte und sich tastend meinen Körper hinabarbeitete. Mein Blut war eine kochende, brodelnde Flüssigkeit, ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Zielsicher schob sie schließlich ihre Hand zwischen die lockeren Stoffwickeln meiner Hose und fand, wonach sie gesucht hatte. Atemlos stöhnte ich leise auf.
Mit einem Mal unterbrach sie den Kuss und sah mich mit einem zufriedenen, seltsam kühlen Blick an. Ihr Lächeln hatte nichts Leidenschaftliches mehr, eher etwas Triumphierendes.
"Aha", stellte sie nüchtern fest, löste ihre Hand und zog sie unter meiner Robe hervor.
"Was... wie...? Was meinst du mit 'Aha'?", stotterte ich verwirrt. Panik wallte in mir auf.
"Nichts. Hab' gewonnen", prahlte sie mit einem breiten Grinsen und sprang aus dem Gras auf.
"Zor'a, wo willst du hin?", schnaufte ich und versuchte, mich ebenfalls aufzuraffen. Hektisch fummelte ich an meiner Hose herum.
"Keine Sorge, bleib ruhig hier. Ich gehe rüber, da bist du eh nicht willkommen. Bis dann, Doz'Cho." Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging gemächlich in Richtung des Feuers, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Ich blieb zurück, so verletzt wie ein Oger nur sein kann. Sie hatte mich nur vorgeführt! Und ich Narr, obwohl ich es von Anfang an geahnt hatte, habe mich einer kindischen Schwärmerei hingegeben. Als Außenseiter, als Doz'Cho, war ich Ausgrenzung und Schikane gewohnt, doch der Schmerz dieser Erfahrung überstrahlte alles andere an Intensität.
Zor'a wurde von den anderen mit lautem Grölen und Applaus begrüßt, irgendjemand fragte sie etwas. Sie nickte heiter und deutete eine Verbeugung an, was ihr erneute Zurufe einbrachte. Dann wurde es still und alle hingen gebannt abwartend an ihren Lippen, bis sie schließlich etwas verkündete, das wie 'Nein, da unten ist er kein Doz'Cho' klang. Alle brachen in lautes Gelächter aus, einige schielten zu mir herüber. Dann machte sich Zor'a daran, Schweinekeulen von den anderen einzusammeln. Wahrscheinlich ihr Wetteinsatz.
Warum ich diese Erinnerung teile, obwohl sie so offensichtlich schmerzhaft ist? Nun, das war der Moment, in dem wir aus unserer Welt gerissen wurden. So wenig perfekt und grausam sie manches Mal war, stellte sie doch unser Zuhause dar. An diesem Abend hörten wir auf, Kinder von Tÿl zu sein, wie wir uns in unserer eigenen Sprache nennen. An jenem Abend wurden wir zu dem, was die Menschen Oger nennen. Denn als die Feier zu Ende gegangen, das Feuer heruntergebrannt, der letzte Wurzelbrand ausgetrunken war, und mein Selbstmitleid mich in den Schlaf getrieben hatte, kamen die Keszz.
Wie beschreibe ich am besten, was ich selbst kaum verstehe? Vielleicht fange ich bei ihrem Aussehen an: Die Keszz sind Lebewesen, wie ich sie bis zu dem Tag noch nie zuvor gesehen hatte. Die kamen nicht aus unserer Welt, so viel stand fest. Woher jedoch, das weiß ich bis heute nicht. Ihr Aussehen lässt sich am ehesten mit den Tieren vergleichen, die ihr Menschen Wespen nennt. Also, wenn diese Wespen etwa so groß wie ein Mensch wären. Und keine Flügel, wesentlich größeren Beißwerkzeuge, und anstelle der gelb-schwarzen Färbungen allerlei unterschiedliche Farbkombinationen hätten. Was sie jedoch so gefährlich machte, zu Eroberern von Welten, war ihre Fähigkeit, den Willen ihrer Gegner zu brechen, sie zu geistlosen Sklaven zu machen. So wächst ihr Schwarm mit jeder weiteren Welt, die sie erobern, weiter an. Doch am besten wird es sein, wenn ich die Ereignisse der Nacht schildere, um die Gefahr dieser Bestien zu verdeutlichen.
Ich zog mich nach der Bloßstellung durch Zor'a früh in meine kleine Hütte zurück. Dass ich keine Lust mehr auf Gesellschaft hatte, ist wohl nicht schwer nachzuvollziehen. Ich sah meine Mutter und meine kleine Schwester friedlich in der dunklen Ecke schlafen und schlich mich zu meinem Bett, wo ich sofort in einen beschämten, erschöpften Schlaf fiel.
Als ich herausgerissen wurde, war es noch dunkel, ich erkannte wenig. Zunächst war ich mir nicht sicher, ob mir meine Sinne einen Streich spielten, doch als ich fühlte, dass auch Morg wach war, wurde ich stutzig.
"Waaas?", murmelte Morg verschlafen und richtete sich ein Stück weit auf.
"Pscht", zischte ich und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Von der anderen Seite der kleinen Hütte, wo der Rest meiner Familie in dem gemeinsamen Bett schlief, hörte ich Rascheln und eine Art gurgeln.
"Grom?", flüsterte Morg beinahe ängstlich. Und auch mich hatte ein beklemmendes Gefühl ergriffen.
"Hallo? Mutter?", rief ich leise in die Dunkelheit. Als ich keine Antwort erhielt, schnappte ich mir eilig den Feuerstein und entzündete die Fackel, die am Eingang in der Halterung hing. Ich schwang die kleine Flamme in Richtung des Betts und erstarrte in der Bewegung.
Auf dem Bett hockte ein sechsbeiniges, bizarr aussehendes Wesen, das seine gewaltigen Klauen in die Körper meiner Mutter getrieben hatte. Daneben lag meine Schwester, ihre offenen Augen an die Decke gerichtet. Erst allmählich wurde ich mir des vielen Bluts gewahr, das in dicken Fäden vom hölzernen Bett heruntertroff. Wie in Zeitlupe ließ das Scheusal von seinem Opfern ab und wendete seinen langen, knorrigen Schädel mir zu. Ein scharrendes Knarzen entfuhr ihm, als es seine blutüberströmten Kauwerkzeuge öffnete und schloss. Ich fühlte meine Beine und meinen Arm taub werden, spürte Morg die Kontrolle an sich reißen. Ich ließ es willentlich geschehen, war zu sehr geschockt von dem Anblick der toten Körper. Ich zog mich zurück und ließ ihn machen.
"Neeeeein!", schrie Morg, sodass die Wände der Holzhütte erzitterten, und stürzte sich mit einem gewaltigen Satz auf das Wesen. Mit bloßen Händen hieb er auf die panzerharte, knochige Außenhaut des Wesens ein, brach vor Wut tobend Gliedmaßen entzwei, hieb mit brutalen Faustschlägen Löcher in dessen Panzer. Das Wesen, so glaubte ich zu erkennen, war völlig überrascht ob der Gegenwehr, es hatte den fatalen Fehler begangen, Morg zu unterschätzen. Zu spät entschied es, dass es sich in Lebensgefahr befand.
Als ich allmählich in meinen Körper zurückströmte, überraschte ich Morg dabei, wie er wieder und wieder mit seiner Faust in den schon völlig zu Brei zertrümmerten Schädel des Wesens hieb.
"Bruder", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Morg, komm, es ist tot." Ich legte meine Hand auf seine und bewegte ihn allmählich dazu, innezuhalten. Ich schaute zu ihm herüber und blickte in sein völlig tränenverschmiertes Auge, das vor Zorn und Trauer gleichzeitig glühte.
"Ma-?", stotterte er mit schluchzender Stimme. Noch während ich ihn so gut es eben ging zu umarmen und Trost zu spenden versuchte – und meine eigene Trauer und Wut dabei ausblendete – brachen draußen dutzendfach Schreie und Kampfgeräusche aus.
Ich umklammerte seinen Kopf und sah ihn eindringlich an. "Es war nicht allein, da sind noch andere. Da draußen. Wir müssen helfen!" Sein Blick huschte unsicher zu den zwei Körpern zurück, die in den blutigen Fellen lagen. "Morg, trauern später, jetzt helfen!", drang ich auf ihn ein.
Schließlich nickte er träge, aber mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck. Ich sprang entschieden auf, schnappte mir den mächtigen, groben Holzknüppel, der an der Wand lehnte, und stieß die Tür auf. Draußen war Chaos ausgebrochen: Einige der Zelte und Hütten standen in Flammen, überall verstreut lagen tote Körper herum. Körper, die einst lebendige Mitglieder meines Stammes gewesen waren. Hier und dort sah ich einige der Scheusale, ähnlich dem in unserer Hütte, die sich über die Leichen hermachten und sie geflissentlich ausweideten – oder noch schlimmere Dinge mit ihnen taten. Übelkeit stieg in mir auf, als Wellen von Wut, Panik, Ekel und Angst durch meinen Körper rollten. Ich fühlte mich wie erstarrt, konnte die Eindrücke kaum verarbeiten. Zwischen den Behausungen huschten vom Feuerschein erzeugte grotesk zitternde Schatten hin und her. Dämonische Rufe hallten durch den dichten Wald, immer wieder unterbrochen von panischen Schreien meiner Leute.
Ich spürte Morg nach der Kontrolle greifen und ließ es geschehen. Er war in diesen Situationen häufig der Pragmatischere – wenn wir hier wie angewurzelt stehen blieben, würden wir der nächstbesten Kreatur zum Opfer fallen. Pragmatismus hieß in der Situation übrigens, das Morg sich wie ein Wahnsinniger und mit wild schwingendem Knüppel auf das nächstbeste Scheusal warf, das gerade Un'ro, unserem Nachbarn, die scharfen Klauen in die Brust stoßen wollte. Mit einem markerschütternden Schrei warf er sich auf die Kreatur und ließ erst von ihr ab, als von ihr kaum mehr als gelber Brei übriggeblieben war. Ich wohnte der ganzen Szene ein wenig abseits, entrückt, bei, eher als Zuschauer. Dabei war es doch auch mein Körper, den Morg dort in Gefahr brachte.
"Ich danke dir, Morg", keuchte Un'ro außer Atem.
"Morg, sieh mich an!", rief ich zu meiner Linken. Mit einem wilden Gesichtsausdruck und beinahe schwarz unterlaufenem Auge starrte Morg zu mir herüber.
"Waaas!", rief er.
"Beruhig' dich. Wir können es nicht mit allen aufnehmen, dafür sind es zu viele! Hast du verstanden?"
Wie um mich eines Besseren zu belehren, holte er fast beiläufig mit dem gewaltigen Holzprügel aus und drosch ihn einem auf uns zurasenden Scheusal mitten auf den Kopf. Mit einem lauten Knacks brachen ihm im vollen Lauf die Beine unter dem Körper weg und es kam schlitternd vor meinen Füßen zum Liegen. Morg holte noch zwei Mal weit aus und ging sicher, dass es auch dort liegenblieb. Er schaute mich erneut an. "Verstanden."
Ich spürte langsam die Kontrolle in meinen Arm zurückkehren. Wir verbargen uns eilig zusammen mit Un'ro zwischen zwei Hütten und hofften so, unentdeckt zu bleiben.
"Hast du eine Ahnung, was das für... Kreaturen sind?", fragte ich Un'ro.
"Keine. Bin von den Schreien aufgewacht und wollte nachgucken. Da ist schon eines dieser Viecher über mich hergefallen. Wenn ihr nicht gewesen wärt..." Er ließ den Rest des Gedankens unausgesprochen. Der Geruch von verbranntem Holz und frischem Blut driftete zu uns herüber.
"Bei Tÿl, was können wir nur-", murmelte ich, als ich etwas entdeckte. "Seht mal, da drüben!" Am Rande unseres kleinen Dorfes hatten die Kreaturen die Überlebenden unseres Stammes zusammengepfercht. "Es sieht aus, als würden sie Gefangene machen wollen. Das bedeutet, dass das keine hirnlosen Bestien sind... sondern denken können!"
Morg und Un'ro sahen mich gleichermaßen verwirrt an. "Hört zu", fuhr ich fort, "das ist eine gute Neuigkeit. Das heißt, wir haben noch eine Chance, die anderen zu retten. Aber wir müssen auf der Hut sein, denn unser Gegner ist soeben ein ganzes Stück gefährlicher geworden." Die beiden nickten folgsam, als ich ihnen meinen Plan erklärte.
Einige Zeit später befanden wir uns, unentdeckt und gut verborgen, in dem dichten Wald nicht weit entfernt von unserem Stamm. Oder dem, was von unserem Stamm übriggeblieben war. Das Morden hatte zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns aus dem Dorf fortgeschlichen hatten, bereits aufgehört und die Scheusale waren dazu übergegangen, alle Überlebenden zusammenzutreiben. Wir waren die Einzigen, soweit ich es erkennen konnte, die den Klauen der Kreaturen entkommen waren. Doch wir waren entschlossen, uns nicht kampflos zu ergeben. Wir würden unsere Freunde, Bekannten und Familien befreien, hatten wir doch die Ortskenntnis auf unserer Seite. Und ich hatte schon eine recht genaue Vorstellung davon, wo wir zuschlagen würden.
Selbstredend wusste ich nicht, was diese Kreaturen mit ihren Gefangenen vorhatten oder wo sie sie hinbringen würden, jedoch war unser Dorf auf dem einzigen trockenen Flecken weit und breit errichtet worden, der umgeben war von gefährlichen Morasten und verschlungenen Gewächsen. Es gab nur einen einzigen halbwegs sicheren Zugang, einen leicht erhöht gelegenen Pfad, der sich durch dieses grünbraune Labyrinth schlängelte. Nur über diesen Pfad würden derart viele von uns gleichzeitig abgeführt werden können. Und entlang dieses Pfades gab es eine schmale Stelle, die wir die Seufzenden Tümpel nannten. Dort wollten wir es versuchen.
Etwa zur Mittagszeit des nächsten Tages lagen wir auf der Lauer und erwarteten die Kolonne der Gefangenen. Morg und ich hielten uns in einem dichten Gestrüpp keine zehn Schritte abseits des Weges verborgen, während Un'ro auf der gegenüberliegenden Seite in einiger Entfernung wartete. Zu beiden Seiten des schmalen Trampelpfades erstreckten sich über hunderte von Schritten tiefschwarze, stinkende Schlammtümpel, aus denen in regelmäßigen Abständen träge Gasblasen an die Oberfläche traten. Wenn diese platzten, machten sie jedes Mal ein seufzendes Geräusch, woher auch der Name des Ortes stammte. Es war ein tückischer Ort, perfekt für unseren Hinterhalt. Hartnäckige Nebelbänke verstärkten den gespenstischen Eindruck, sodass unsere Angreifer hoffentlich glaubten, sie würden von mehr als nur zwei Ogern überfallen.
In der Ferne hörten wir schließlich das seltsame Pfeifen der Kreaturen und bald darauf tauchten auch die ersten Umrisse aus dem trüben Nebel auf. Mit hängenden Köpfen schleppten sie sich betrübt voran, ihre Niederlage und Trauer zeichneten sich sichtbar auf ihren Gesichtern ab. Ich zählte an die einhundert Oger, was etwa die Hälfte unseres Stammes bedeutete. Was dem Rest zugestoßen war, mochte ich mir nicht ausmalen. Ein leises Wimmern verriet mir, dass es Morg ganz ähnlich ging. Ohne meinen Blick abzuwenden, rieb ich mit meinem Kopf leicht an seinem, was ihn ein wenig beruhigte. Unsere Familien waren in Fünfergruppen aufgeteilt, die von je einer Kreatur bewacht wurden. Inklusive Vor- und Nachhut standen wir also etwa zwei Dutzend dieser Kreaturen gegenüber. Keine unlösbare Aufgabe. Ich umklammerte den Holzknüppel noch ein wenig fester.
Als die Kolonne auf unserer Höhe war, brach Un'ro wie verabredet durch das Dickicht jenseits der Tümpel, etwa fünfzig Schritt entfernt. Dabei machte er einen Krawall, der selbst Morg im Tiefschlaf aufgeweckt hätte. Wie erwartet erregte er so die Aufmerksamkeit unserer Häscher, die sich durch Pfeif- und Knackgeräusche blitzschnell zu verständigen schienen. Zwei von ihnen jagten auf Un'ro zu, ihre scharfen Klauen hinterließen tiefe Abdrücke im schlammigen Untergrund.
"Kommt schon, ihr Sümpfe, helft uns. Diese Eindringlinge greifen auch euch an", wisperte ich zu mir selbst. Und es kam, wie ich es erhofft hatte: Die beiden Scheusale versanken mit ihren spitzen Beinen tief im erstbesten Tümpel, ihre Gliedmaßen verschwanden bis zum Körper in der übelriechenden Brühe. Ein panisches Schnattern entfuhr den beiden, wahrscheinlich eine Art Hilferuf. Mein Blick wanderte zu ihren verbliebenen Artgenossen, die teils nicht weiter als zehn Schritte von mir entfernt standen. Sie schauten zu ihren beiden hilflosen Kameraden und legten beinahe abwägend die Köpfe, wenn man sie so nennen konnte, schief. Wie einstudiert preschten sechs von ihnen los, ignorierten ihre hilflosen Genossen, die gerade dabei waren, elendig zu versinken. Diese sechs jedoch hatten offenbar dazugelernt: Sie gingen nicht unbekümmert vor, sondern umgingen sorgfältig die Tümpel und hielten sich möglichst auf den schmalen, trockenen Streifen dazwischen. So kamen sie nur langsam voran – aber sie kamen voran! Es war eine Frage der Zeit, bevor sie Un'ro erreichen würden.
Die Kolonne war in der Zwischenzeit zum Stehen gekommen. Die verbleibenden Kreaturen verfolgten mit ihren Blicken gebannt ihre Kameraden, die sich durch den Morast arbeiteten.
Genau wie geplant, dachte ich und machte mich bereit. Ich spürte, wie auch Morg unruhig wurde. Mit einem letzten Blick vergewisserte ich mich, dass die Wachen weit genug in den Morast hineingestiefelt waren, und schlug zu.
So leise wie möglich sprang ich aus meinem Versteck hervor und legte drei riesige Sätze hin, die uns bis zum Weg beförderten. Die Wachen links und rechts von uns hatten uns noch nicht bemerkt.
"Auf ihn", rief ich und erstarrte in der Bewegung. Mein Körper gehorchte mir nicht. „Bruder, auf den da rechts!“ Ich spürte, wie er nach links strebte, in die entgegengesetzte Richtung. Das Resultat war, dass wir uns gar nicht bewegten.
„Ja, rechts!“, bestätigte Morg.
„Das andere rechts!“, brüllte ich ihn an.
Die Wächter hatten uns längst bemerkt und wendeten sich uns zu.
„Oh... ups...!“
„Egal. Schnapp sie dir!“
Er nickte wild und warf sich in den Kampf. Aus vollem Lauf hieb er dem unvorbereiteten Scheusal den riesigen Knüppel auf das, was wahrscheinlich sein Kopf war. Mit einem ekelerregenden Geräusch platzte der auf und verteilte gelben Inhalt auf dem Weg.
"Mooorg!", grunzte er zufrieden.
"Gut, jetzt ich!", rief ich und spürte Gefühl in meinen Körper zurückkehren. Hastig zog ich den kleinen Dolch unter meiner Robe hervor und durchschnitt die Fesseln der umstehenden Gefangenen. Ich schaute in völlig verdutzte Gesichter, die verwirrt auf die von ihren Händen gleitenden Fasern starrten.
"Na los, los! Macht schon! Wehrt euch, wir brechen aus!", versuchte ich sie aus ihrer Paralyse zu reißen. Ich kramte hastig das zuvor abseits des Weges verborgene Bündel hervor und warf es ihnen vor die Füße.
"Sie kommen!", brummte Morg laut. Die verbleibenden Wachen hatten sich von der Überraschung erholt und drängten sich nun an der Kolonne vorbei in unsere Richtung.
"Da sind Knüppel drin, helft uns!", rief ich den anderen zu, während Morg erneut die Kontrolle übernahm und sich auf die nächste Kreatur stürzte. Bedauerlicherweise ließ die sich nicht derart übertölpeln und war vorbereitet. Mit flinken Bewegungen wich sie unseren groben Hieben aus und Morg hatte sichtbar Schwierigkeiten, ihre Gegenangriffe zu parieren. Während er beschäftigt war, wandte ich mich um und sah weitere Wachen sich uns von hinten nähern.
"Mach' schon! Die kommen!"
Doch Morg war dabei, zunehmend in Bedrängnis zu geraten. Weder er noch ich hatten Erfahrung in Kämpfen auf Leben und Tod, und die aufwallende Panik machte ihm zu schaffen, das spürte ich. Hektisch blickte ich mich erneut um und begriff angsterfüllt, dass eine der Wachen sich zum Sprung bereitmachte – und abhob. Ich starrte in seine vielfachen Facettenaugen, die, wenn sie Emotionen hätten zeigen können, sicherlich hämisch geschaut hätten. Ich beobachtete es dabei, wie es seine schleimigen Fangklauen bereitmachte und ausfuhr. Wir waren erledigt.
Oder zumindest dachte ich das, denn kurz bevor die Kreatur ihre blitzenden Fänge in unseren Körper treiben konnte, sah ich aus dem Augenwinkel etwas durch die Luft zischen und in den Körper des Wächters krachen. Noch in der Luft zerbrach die gepanzerte Haut des Wesens durch den gewaltigen Hieb und ein Schwall gelben Bluts ergoss sich über mich. Verdutzt schaute ich mich um und blickte Mil'ol, dem ich kurz vorher die Fesseln durchtrennt hatte, in das grinsende Gesicht.
"Keinen Augenblick zu früh", keuchte ich.
Er nickte mir dankbar zu und ging dann Morg zur Hilfe. Andere Gefangene hatten bereits damit begonnen, weitere Fesseln zu lösen und sich mit Knüppeln zu bewaffnen.
Einige Zeit später hatten wir mit allen Wächtern kurzen Prozess gemacht. Diejenigen, die sich lebend aus den Tümpeln hatten befreien können, empfingen unsere Knüppel. Irgendwann tauchte auch Un'ro völlig schlammbeschmiert aus dem Unterholz auf.
"Das war gute Arbeit! Unser Plan hat funktioniert!", empfing ich ihn lachend.
"Dein Plan, Grom", beglückwünschte er mich und gab mir eine freundschaftliche Kopfnuss.
"Ohne dich wären wir alle verloren gewesen, Grom", sagte jemand hinter mir. Ich drehte mich um und blickte in Gol'dars Auge, einer unserer Stammesältesten. Sie lächelte mich dankbar an, während sie mit einer Handbewegung den gesamten Stamm einzuschließen schien.
"Nun, ähm...", stammelte ich, überrascht von der plötzlichen Aufmerksamkeit. Alle starrten mich an. "Es war nicht mein, sondern unser Plan. Und außerdem, ähm, sollten wir nicht von hier verschwinden? Vielleicht gibt es von denen noch mehr!"
"Gute Idee. Wohin?"
"Ich... weiß nicht! Ihr seid doch die Ältesten, ihr müsst das bestimmen!", beschwor ich sie. Dass ich auf einmal für den gesamten Stamm die Entscheidungen treffen sollte, flößte mir Angst ein und überforderte mich.
Doch sie schüttelte entschieden den Kopf. "Nein. Ich bin die letzte des Ältestenrats und ich kann in dieser Lage keine Entscheidung treffen. Du hast bewiesen, dass du das Zeug dazu hast. Entscheide, wir folgen dir." Nickende Köpfe allenthalben.
"Dann... ähm... also wir sollten vielleicht nicht ins Dorf zurück?" Wortlose Zustimmung. "Und wir sollten die Überreste der Wächter in den Tümpeln versenken, um unsere Spuren zu verwischen." Einige machten sich eifrig daran, die zertrümmerten Überreste der Kreaturen in den Schlamm zu werfen, der sie glücklich seufzend verschlang.
"Nun gut", rief ich, als nichts von unseren Häschern mehr zu sehen war. "Dann, ähm, folgt mir!" Ich setzte mich an die Spitze unseres Stammes und ging in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren.
"Morg", flüsterte ich. "Was sollen wir tun? Wohin?"
Er sah zu mir herüber und gab mir eine sanfte, ermutigende Kopfnuss. Das war alles.
"Na danke für deinen Rat", seufzte ich und blickte wieder geradeaus.
"Ich hab Hunger", hörte ich ihn schließlich maulen.
"Ach, muss das-" Ich unterbrach mich. "Nein, du hast recht." Ich schaute ihn wieder an, sicherlich erleichtert. "Du hast völlig recht. Ich habe auch Hunger. Das machen wir: wir suchen uns erstmal was zu essen. Ich danke dir!"
Ein stumpfes, glückliches Lachen brach aus ihm hervor. Manchmal sollte man sich vielleicht um die naheliegenden Dinge zuerst kümmern. Wir erreichten das Ende der Seufzenden Tümpel. Von hier aus befand sich abseits des Weges wieder trockenes Land und wir würden uns abseits in die dichten Wälder schlagen können. Dort würden uns die Kreaturen niemals finden.
"Du, Grom?", hörte ich auf einmal jemanden neben mir. Ich drehte mich um und sah Zor'a, die zu mir aufgeschlossen hatte.
Ohne eine Antwort zu geben wandte ich mich wieder dem Weg zu.
"Ich weiß, dass ich nicht nett zu dir war." Ich schnaubte abfällig. Und doch beschleunigte sich mein Herzschlag, meine Wangen fingen Feuer. Verdammter Narr! Aus den Augenwinkeln sah ich ein flüchtiges Lächeln Zor’as Lippen umspielen. Sie hatte mich durchschaut. "Ich möchte mich entschuldigen. Ich habe dich unterschätzt. Was du heute für uns getan hast, keiner dieser anderen Versager hätte den Mut dazu gehabt."
Ich spürte Morgs Blick zwischen ihr und mir verwirrt hin und her schwirren, hatte er doch den Abend mit ihr völlig verschlafen.
"Lass es gut sein. Was auch immer du versuchst zu erreichen, es ist sinnlos. Ich glaube nicht, dass ich... dass ich dir je wieder vertrauen kann", murmelte ich.
Sie nickte verständnisvoll, aber alles andere als bereit, aufzugeben. "Verstehe. Und du hast recht. Alles was ich will ist, dass da kein böses Blut zwischen uns ist."
"Zor'a-“ Etwas erregte meine Aufmerksamkeit entlang unseres Weges.
"Nein, hör' mir zu! Ich will doch nur, dass du es irgendwann vielleicht schaffst, mir zu verzeihen. Irgendwann-"
Mit einem Mal brach die Erkenntnis über mich herein."Zor'a", schrie ich und warf ihr einen wilden Blick zu. "In Deckung, nach hinten mit dir!" Mein plötzlicher Ausbruch schien ihr einen Schrecken versetzt zu haben, denn sie starrte mich perplex an.
Doch ich hatte keine Zeit, mich um ihre Befindlichkeiten zu kümmern. Denn am Ende des Weges durch die Seufzenden Tümpel, den eine große Lichtung markierte, kroch eine monströse Kreatur gemächlich zwischen den Bäumen hervor und schaute uns scheinbar seelenruhig an. Ich verstand in diesem Moment nicht, was ich dort sah, wo das Lebewesen begann und wo es aufhörte. Was ich jedoch augenblicklich begriff, war, dass dieses Wesen zu den Wespen-artigen gehörte, jedoch etwas wie deren Königin sein musste. Es war monströs, überragte selbst mich um ein Vielfaches. Dabei hatte es jedoch keinen harten Panzer, wie die kleineren Helfer, sondern eine weiche, aufgeblähte Haut. Es war einer riesigen Baummade nicht unähnlich, die wir oft aus den Rinden sammelten.
Ich umklammerte meinen Knüppel fest, als vom rückwärtigen Teil der Kolonne Schreie zu mir herüberdrangen.
"Sie kommen!"
"Es sind dutzende, hunderte!"
"Wir müssen fliehen!"
Panik machte sich breit, als die ersten Oger versuchten, sich nach vorne durchzudrängeln, nur um vor Schreck erstarrt dieser Königin gegenüberzustehen. Hektisch riss ich den Knüppel in die Höhe und suchte nach einem Ausweg, doch in dem Moment sah ich unzählige der kleineren Kreaturen aus dem Wald auf die Lichtung treten. Es mussten Dutzende, wenn nicht hunderte sein! Sie hatten uns in eine Falle gelockt.
"Vielleicht wenn wir dieses Monstrum dort angreifen, dann-", begann ich, doch ein markerschütterndes, schrilles Keifen ertränkte meine Stimme. Der gesamte Körper der Königin bebte. Offenbar war sie der Ursprung des Geräuschs. Nach und nach stimmten auch die kleineren Wesen mit ein, versuchten so gut wie möglich, das Geräusch zu imitieren. Es bestand also kein Zweifel: Dieses ekelerregende Wesen war ihr Anführer. Und es schien sich über uns lustig zu machen.
"Kann nicht. Angst", flüsterte Morg.
Ich wusste genau, wie er sich fühlte. Entsetzt beobachtete ich das Monstrum dabei, wie es gemächlich auf uns zukroch. Sein wulstiger Körper zog sich wellenförmig zusammen und wieder auseinander, schob sich mühsam über den groben Waldboden. Ein dumpfes Zittern erfüllte die Luft.
"Werft eure Waffen fort", rief ich über meine Schulter und machte es vor. "Wir haben verloren."
Die unzähligen, tiefschwarzen Knopfaugen der Königin fixierten mich, als sie auf mich zugekrochen kam. Fünf Schritte vor mir kam sie schließlich zur Ruhe. Der bestialische Gestank, den sie absonderte, umhüllte mich. Abwartend beäugte sie mich, schien mich zu vermessen, mich zu inspizieren.
Plötzlich tat sich ein Riss in ihrem wurmartigen Körper auf, der ihr Gesicht scheinbar in zwei zu teilen schien. Er wurde größer und größer, bis schließlich zwei riesige Hautlappen nach außen klappten. Doch es kamen keine Innereien oder Ähnliches zum Vorschein, sondern unzählige kleine Fühler, beinahe schon Härchen gleich. Sie flimmerten und bewegten sich in wellenförmigen Mustern.
"Das kann doch nicht...", stotterte ich und versuchte vergeblich, aufkeimenden Ekel zu unterdrücken. Aus dem Inneren der Königin beförderten die Härchen einen unserer Toten hervor, der von ihnen gehalten wurde und so beinahe lebendig aussah. Zu meinem Grauen fing der Körper schließlich an, seinen Mund zu bewegen. Und mit uns zu sprechen.
"Euer. Widerstand. Ist. Amüsant. Habt. Ihr. Wirklich. Geglaubt. Ihr. Könntet. Uns. Entkommen." Die Stimme des Toten klang wie eine Tonscherbe, die man über Schiefergestein zog. Sämtliche Härchen an meinem Körper stellten sich auf.
"Nein, nein, nein", stammelte Morg panisch und kniff sein Auge zusammen.
"Du." Die Königin kroch zwei weitere Schritt auf mich zu und starrte mich an. "Du. Bist. Anders. Listig. Intelligent. Und." Sie schien... nachzudenken? "Und. Noch. Mehr." Wieder ließ sie dieses durchdringende Lachen verlauten.
"Ihr. Werdet. Gute. Krieger. Sein."
Die Hautlappen begannen, sich zu schließen...
"Wenn. Ihr. Zu. Uns. Gehört."
... und wieder miteinander zu verschmelzen. Der Tote verschwand im Inneren. Seine letzten Worte waberten durch die Luft, wie eine Dunstwolke bei totaler Windstille.
"Schon. Bald."