Goldenstein verschwand hinter dem Horizont. Die breite Hauptstraße brachte uns schnell in Richtung Osten, von der aus wir uns auf zunehmend schmaleren Straßen, Wegen und schließlich Pfaden durch die einsamer werdenden Landstriche bewegten. Mir fiel auf, dass wir schon bald das erste Mal seit einer sehr, sehr langen Zeit einem anderen Oger gegenüberstehen würden.
Meine Gedanken wanderten zu dem Tag zurück, an dem ich vor Gol’dar stand und verkündete, ich würde mich auf den Weg machen, um die Einwohner dieser Welt zu kontaktieren, von denen ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal wusste, dass sie sich selbst Menschen und uns Oger nannten. Dass wir, trotz des anfänglichen, äußerst unglücklichen Missverständnisses in Augul, uns nun an diesem Punkt befanden und ich sie unsere Verbündeten nannte, verblüffte mich immer wieder aufs Neue.
„Denkst du, sie sind immer noch genau so, wie wir sie zurückgelassen haben? Oder haben sie sich in der Zeit verändert?“
„Gol’dar und die anderen?“ Morg dachte einen Moment nach. „Ja. Sind sicherlich noch die Alten. Sie sind träge und niedergeschlagen.“
„Und die Ankunft der Keszz? Hat die daran etwas geändert?“
Er schüttelte ratlos den Kopf. „Weiß nicht. Sehen wir bald, richtig?“
Ein amüsiertes Grunzen entfuhr mir. Wie immer der Pragmatiker. „Du hast recht. Ich denke schon wieder zu viel, wie?“
Morg grinste zurück.
„Wie geht es dir bei der ganzen Sache?“, wollte ich von ihm wissen, während kahle Felder und trostlos blattlose Wälder an uns vorüberzogen. Hin und wieder entdeckte ich einen Bauern, der seine Tiere fütterte und überrascht in unsere Richtung zeigte, oder eine Wirtin, die durch das Fenster ihres einsam am Wegesrand gelegenen Gasthauses schaute und es bei unserem Anblick hastig schloss. „Der Gedanke, dass wir bald dieser... Königin gegenüberstehen könnten? Diesem Scheusal?“
Er antwortete nicht sofort, schien in sich hinein zu horchen, seine Aussage gründlich abzuwägen.
„Ich habe Angst“, sagte er schließlich, doch ich spürte, dass das nicht alles war, und so wartete ich geduldig auf mehr. „Angst davor, dass es nicht klappt und wir wieder unter ihre Kontrolle geraten. Und dieses Mal für immer.“
Ich schaute zu ihm herüber, sah den Schmerz der Erinnerung seine Gesichtszüge verzerren.
„Aber ich weiß auch, dass wir keine Wahl haben. Wir müssen um unsere Freiheit kämpfen. Härter als wir je um was gekämpft haben.“ Seine Mimik verhärtete sich, die Weichheit, Verletzlichkeit verschwand und machte einer Entschlossenheit Platz, die sogar mir Zuversicht gab.
„Da hast du Recht, Bruder.“ Ich beschwor ein Bild vor meinem geistigen Auge, wie wir beide der verdammten Königin gegenüberstanden und ihr den Todesstoß verpassten. Dieser Moment, so sagte ich mir, ist alles, was zählt. Halt‘ ihn fest, klammere dich daran!
„Oh, wie Recht du hast.“
Wir waren den Tag und die Nacht hindurch unterwegs, legten nur wenige, kurze Pausen ein. Ich wollte möglichst schnell ankommen, ohne genau zu wissen, warum. Immer wieder überrollte mich ein diffuses Gefühl, dass uns die Zeit davonlief – und das rührte nicht allein von der Zwei-Wochen-Frist des Königs her.
Am Abend des zweiten Tages gelangten wir schließlich zu der Stelle, von wo aus wir uns abseits in die Wildnis schlagen würden, um zu unserem Lager zu gelangen. Nun war es nicht mehr weit!
Je weiter wir uns aber durchs grüne, dicht verwucherte Unterholz schlugen, desto mulmiger wurde mir zumute. Ich konnte das Gefühl schlecht verorten, aber etwas störte mich.
„Spürst du das auch?“, flüsterte ich. Ich schaute mich misstrauisch um. Irgendetwas stimmte nicht. Die moosbewachsenen Bäume lagen unverändert da, nasses Laub quietschte unter unseren Füßen.
„Keine Vögels“, äußerte er irgendwann. Und er hatte recht! Das Zwitschern von Vögeln fehlte. Jetzt, da ich genauer darauf achtete, fehlte ebenso jedes andere Zeichen von Leben: kein Knacken im Unterholz, kein Bellen oder Jaulen – nur absolute Stille.
„Was kann das bedeuten? Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“, wollte ich seine Sinne anzapfen.
Morg setzte ein paar Mal an, nur um immer wieder zu verstummen. Schließlich gab er zu: „Nicht richtig. Ich... weiß es nicht. Es riecht... faul. Fült sich... falsch an.“
„Schon gut, ich kann mir vorstellen, was du meinst. Ich hoffe nur, das alles hat nichts mit unserem Dorf zu tun.“
Doch selbstverständlich wusste ich es besser. Wir beschleunigten unwillkürlich unseren Schritt. Je näher wir unserem Stamm kamen, desto mehr verdichteten sich die Anzeichen, dass etwas im Argen lag: Das ohnehin schon schwache Licht der Wintersonne schien zwielichtiger, Bäume und Pflanzen sahen merkwürdig vertrocknet oder gar tot aus und violett-grünliche Nebelschwaden waberten durch den Wald.
„Hast du sowas schon mal gesehen?“, flüsterte ich. Mir fiel auf, dass wir nur noch behutsam voran schlichen, um möglichst kein Geräusch zu verursachen. Der Wald schien jegliches Licht und alle Geräusche zu schlucken. Oder schluckte er Leben? Schnell verwarf ich den Gedanken.
Als ich schließlich den letzten Zweig zur Seite bog, glaubte ich meinen Augen kaum zu trauen. Das aus zusammengeschusterten Hütten bestehende Lager, das wir einst chaotisch und desorganisiert verlassen hatten, war ein völlig anderes geworden. Die Mitte des einst sumpfigen Platzes zierte nun ein mächtiger Schrein aus unzähligen Knochen, von denen ich nicht wissen wollte, woher sie stammten. Das Gebilde wurde erleuchtet von zahllosen Fackeln, die unwirkliches, purpurnes Licht ausstrahlten und unheimliche Schatten warfen. Der übelriechende Nebel, dem wir bereits im Wald begegnet waren, schien sich hier aus dem Nichts heraus zu manifestieren, und zu allen Seiten davon zu fließen. Überall standen große Holzpfähle herum, an denen Fetische aus undefinierbarem Material aufgehängt waren.
Doch der Anblick, der mich am meisten schockierte, waren meine Stammesbrüder und -schwestern, die in einem Halbkreis um den Schrein herum auf dem Boden knieten und ihn abwesend anstierten. Jeder einzelne von ihnen war, bis auf einen dünnen Lendenschurz, vollständig entblößt. Sie waren über und über mit Runen und Schriftzeichen bemalt. Kaum ein Fingerbreit unbemalter, bronzener Haut war zu sehen. Ich entdeckte Zor’a, bei deren fast nacktem Anblick mir vor ein paar Jahren noch die Röte ins Gesicht geschossen wäre, und Un’ro, der wie hypnotisiert im Schlamm kniete und leicht wippend etwas vor sich hin murmelte.
„Was tun die denn da?“, jammerte Morg leise, während wir zögerlich aus dem Wald heraus auf den Platz traten. Noch hatte uns niemand bemerkt.
„Ich weiß es nicht. Aber es kann nichts Gutes bedeuten“, flüsterte ich zurück.
Es war kaum abzusehen, wie die anderen auf uns reagieren würden; wenn sie uns überhaupt wiedererkannten! Je näher wir uns heranschlichen, desto bedrückender wurde die Atmosphäre. Es war, als strahlte der Altar eine Art Aura aus, die alles um sich herum negativ beeinflusste. Ich spürte, wie seine Präsenz mir das Selbstbewusstsein förmlich absaugte. Das erklärte wohl die Leblosigkeit des Waldes.
„Sieh an, wer den Weg zurück zu uns gefunden hat“, murmelte mit einem Mal jemand leise. Ich fuhr herum, doch niemand schaute mich an; alle Gesichter waren auf den Altar gerichtet.
„Nun, ich...“, stammelte ich und suchte die auf dem Boden Knienden nach einem Lebenszeichen ab.
„Hast du den Ruf vernommen und möchtest zurück in die Familie?“, raunte jemand anderes.
„Ruf? Welchen Ruf?“, fragte Morg mit hoher Stimme.
„Verräter!“, zischte jemand.
„Wer hat das gesagt?!“, rief ich.
„Schwächling.“ – „Feigling.“ – „Menschenfreund“, hauchten verschiedene Stimmen gespenstisch durcheinander. Nicht ein Kopf drehte sich zu uns um.
„Was ist mit euch?“, rief ich und packte jemanden an den Schultern. Soweit ich unter all der Farbe erkennen konnte, war das Kun’zat, doch sein Blick huschte nur kurz zu mir, traf den meinen, ohne dass sich Erkenntnis darin widerspiegelte, und glitt dann zurück zum Altar.
„Was sollen wir tun?“, jammerte Morg.
„Vielleicht hat die Ankunft der Keszz irgendeine unterbrochene Verbindung wiederhergestellt?“, mutmaßte ich. Ich spürte Verzweiflung und Wut gleichermaßen in mir hochkochen.
„Wozu haben wir all diese Strapazen auf uns genommen?“, fluchte ich. „Haben diese verdammte Allianz mit den Menschen aus dem Nichts geschmiedet! Und wofür? Nur um jetzt zu spät zu sein?“
Ich spürte, wie mich der Mut verließ. Hilflos blickte ich durch die Reihen meiner Brüder und Schwestern, denen unsere Anwesenheit scheinbar gleichgültig war; die nur Augen für ihren verdammten Altar hatten!
„Nein“, knurrte Morg bedrohlich. Es war, als stemme sich seine Aussage gegen den Einfluss des Altars.
„Wie – nein?“
„Nein!“, sagte er nochmal fester, bestimmter. Seine Stimme rumpelte über den Platz, wurde von den Hütten zurückgeworfen.
Auf seinem Gesicht hatte sich ein entschlossener Ausdruck breitgemacht.
„Nein! Nein! Nein!“, brach es aus ihm hervor. Er stürzte los, ehe ich begriff, was überhaupt geschah; drängte sich mitten durch die Betenden, schubste sie einfach zur Seite, und hielt auf den Altar zu. Ich hörte entfernte Proteste, doch niemand hielt uns auf.
Das knochige Konstrukt erhob sich vor uns, überragte uns etwa ums doppelte. Mit einem Satz erklomm er die erste Stufe. Ich warf einen hastigen Blick zurück, auf die Menge, die unverändert auf dem Boden saß und stumpf in unsere Richtung stierte. Ob sie begriffen, was Morg gerade tat?
Kurz hielt er inne und warf mir einen letzten flüchtigen Blick zu, wie um mir Zeit für einen allerletzten Einwand zu geben.
„Tu dein Schlimmstes!“
Er fletschte grimmig die Zähne, umklammerte das nächstbeste Element des Altars, einen massiven hölzernen Querbalken, und zog daran. Mit einem tiefen, dröhnenden Schrei, in dem sich seine Wut auf unsere Häscher entlud, löste sich der Balken krachend aus seiner kalkweißen Hülle. Knochensplitter flogen zu allen Seiten, Taue rissen knarzend und die gesamte Konstruktion durchlief ein tiefes Ächzen. Ich schaute mich wieder um, sah blinzelnde Oger, die wie aus einem Traum zu erwachen schienen. Die ersten von ihnen erhoben sich, sagten etwas, das unter Morgs Toben unterging.
„Es funktioniert! Weiter!“, feuerte ich ihn an.
Er nahm den Balken, den er soeben herausgebrochen hatte, nun wie einen Prügel in beide Hände und begann, wie wahnsinnig auf den abscheulichen Schrein einzudreschen. Mit jedem wuchtigen Schlag erzitterte der Boden unter uns. Doch ich ließ ihn gewähren, betrachtete die Zerstörung mit Genugtuung. Morg war zu einem Kanal geworden, über den sich auch mein Zorn entlud.
Ich wusste nicht, wie lange seine Zerstörungswut anhielt, wohl nicht länger als ein Dutzend Augenblicke, doch als er innehielt, standen wir inmitten eines zertrümmerten, kalkig-weißen Haufens aus spitzen Knochensplittern und zerborstenem Holz. Hier und da ragten noch groteske Dekorationen aus dem Schutt hervor, die einen farbigen Kontrast bildeten. Morg schnaufte laut und schaute sich wild um, sein Gesicht von weißem Staub bedeckt.
„Was... was habt ihr getan?“, rief jemand dünn.
Ich blickte mich hastig um und erkannte Gol’dar, die, als einzige mit einer kompletten Robe bekleidet, am Fuße des Trümmerhaufens stand und uns anklagend anstarrte. Hinter ihr erwachten mehr und mehr Oger verwirrt aus ihrer Trance. Einige von ihnen erhoben sich unsicher wankend, andere brachen schluchzend zusammen.
„Was wir getan haben?“, schrie ich und bahnte mir, wie durch einen tiefen Sumpf watend, einen Weg aus dem Haufen heraus. Ich baute mich vor der Stammesältesten auf, wollte dabei möglichst einschüchternd wirken. Doch in Wirklichkeit hatte ich einfach nur Angst. Denn wie meine Brüder und Schwestern reagieren würden, konnte ich nicht ansatzweise erahnen.
„Was habt ihr getan?“, fuhr ich sie an. „Was macht ihr hier? Betet dieses... dieses Ding da an?!“ Ich deutete fuchtelnd auf den Schutthaufen hinter mir. „Und seht euch doch mal selbst an! Was ist aus euch geworden?“
Erste Köpfe drehten sich, schauten sich um, an sich herab. Überrascht, beschämt, verwirrt. Es schien, als würden einige von ihnen das erste Mal seit langer Zeit bewusst ihre Umgebung wahrnehmen.
„Was soll diese Bemalung, diese Schriftzeichen auf euren Körpern? Habt ihr es so sehr vermisst, als Sklaven zu leben und Kriege für diese Ungeheuer zu führen, dass ihr euch für das schämt, was ihr seid?“
Ich sah einige von ihnen mit fahrigen Bewegungen die getrocknete Farbe an ihrer Haut begutachten, sie verwirrt mit Fingernägeln abpulen.
„Ist eure Abneigung gegen den freien Willen so groß, dass ihr es kaum erwarten könnt, euch wieder unter das Joch zu begeben?“, hauchte ich.
Mit einem Mal war jeder Zorn verflogen. Als ich meinen Stamm so vor mir sah – verwirrt, verloren, verletzlich – da erkannte ich: Sie waren Opfer. Und ich verstand, dass sie genau das langsam begriffen: Der Griff der Keszz schien sie noch nicht vollständig wieder umschlossen zu haben. Es gab noch Hoffnung!
„Ihr beide“, zischte Gol’dar nun und kam mit anklagend erhobener Hand auf mich zu, „seid von Anfang an dagegen gewesen, dass unser Volk seine Bestimmung erfüllt und zu wahrer Größe aufsteigt. Habt euch gegen die Ältesten aufgelehnt, wo es nur ging.“ Ihr Augen verschleuderten Hass.
„Hört mir zu!“, wendete sie sich an alle. „Glaubt diesen Verrätern kein Wort! Wer hat euch all die vergangenen Mondzyklen geführt, hat euch Mut und einen Sinn gegeben? In der schwersten Zeit, die unsere große Familie je durchleben musste?“
Panik wallte in mir auf, als ich einige nickende Köpfe sah.
„Und wer“, fuhr sie fort und warf mir einen verächtlichen Blick zu, „hat sich kurzerhand aus dem Staub gemacht? Wen hat unser Schicksal, unser Kampf nicht im Geringsten interessiert? Wer konnte es kaum erwarten, uns zu verlassen und sich mit anderen niederen Geschöpfen einzulassen?“
Wütende, enttäuschte Blicke flogen mir zu. Mir entglitt die Situation. Es blieb nur noch ein kleines Zeitfenster, noch hatte sich keine klare Meinung etabliert.
„Sie hat recht“, versuchte ich schließlich die Flucht nach vorne und drängte mich an ihr vorbei. Ich versuchte, so viele meiner Zuhörer in den Blick zu nehmen, wie möglich.
„Ja, wir haben euch allein gelassen, haben euch diesen Kampf austragen lassen. Aber ihr kennt mich doch! Wer hat euch befreit, in der Nacht, in der die Keszz uns das allererste Mal überfallen haben? Zugegeben, es war von nicht sehr langer Dauer... Aber ist wisst doch: Bei allem, was Morg und ich tun, haben wir nur unser aller Wohl im Sinn.“
Ich bemerkte, wie ich mit wohlwollenden Blicken bedacht wurde. Es wirkte! Nun nicht nachlassen!
„Es stimmt, was die Älteste sagt. Wir haben uns mit den Menschen, so nennen sich diese niederen Geschöpfe, eingelassen. Wir haben mit ihnen Seite an Seite gekämpft, wir haben ihren Mut, ihren Einfallsreichtum und, ja, auch ihre Niederträchtigkeit kennengelernt. Sie sind ein Volk voller Makel und Tugenden – genau wie wir!“ Ich hielt inne und legte mir meine nächsten Worte zurecht.
„Aber das ist nicht der Grund, warum wir sie aufgesucht haben. Wir haben es getan, weil wir Verbündete brauchen, um uns selbst zu befreien. Ihr glaubt, unsere Ankunft in dieser Welt war ein Kampf? Vielleicht war sie das, aber was uns bevorsteht, ist nichts Geringeres als ein Krieg! Gol’dar hat uns allen geholfen, den Kampf zu gewinnen. Dafür bin ich ihr dankbar.“
Ich versuchte, ihr möglichst aufrichtig zuzulächeln, was mir aber von ihr nur ein verächtliches Zähnefletschen einbrachte.
„Doch was wir beide getan haben, ist Vorbereitungen zu treffen, um diesen Krieg gewinnen! Wir, die Kinder von Tÿl und die Menschen, stehen einem gemeinsamen Feind gegenüber. Den Wesen, die sich von uns als Hierarchen betiteln lassen. Den Wesen, die nichts als Verderben und Zerstörung bringen.“
Zustimmendes Murmeln unter den Zuhörern.
„Wir können es schaffen, uns aus ihren Klauen zu befreien. Wir können wieder zu unseren Wurzeln zurückkehren, zu dem, was wir einst waren. Ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit führen, vielleicht sogar in unserer Heimat! Doch dafür brauchen wir die Menschen. Und die Menschen brauchen euch.“
Meine Stimme war zu einem Flüstern verkommen.
„Morg und ich... wir beide brauchen euch.“
Vereinzelte Rufe ertönten: „Er hat recht!“ – „Hört hin!“ – „Nieder mit den Hierarchen!“
„SPALTER!“, kreischte Gol’dar und funkelte mich mit zu Fäusten geballten Händen an. Auf ihre Augen legte sich ein unheilvoller, dunkler Schatten; die vertraute Ankündigung der Raserei.
„Hört nicht auf ihn! Seine Worte verschmutzen eure Gedanken, verwirren euren Geist! Horcht in euch hinein und ihr werdet erkennen, dass wir ohne die Hierarchen nichts sind!“
„Recht hat sie!“ – „Hört auf unsere Älteste!“ – „Spalter!“
Unsere Zuschauer begannen, die Auseinandersetzung zwischen Gol’dar und mir zu spiegeln. Während wir uns gegenseitig mit mal mehr, mal weniger rationalen Argumenten zu überzeugen versuchten, und es immer wieder knapp vermieden, diese Argumente körperlich durchsetzen zu wollen, brachen vor uns hitzige Diskussionen und vereinzelte Handgemenge aus. Es dauerte nicht lange und unser Stamm hatte sich in zwei Lager gespalten: Die einen, die der Griff der Keszz noch nicht vollständig umschlossen hatte und die Morg und ich überzeugt hatten; und die anderen, die Gol’dar folgten und in den Tiefen der Verblendung durch die Keszz verloren waren. Wir gegen die.
Unsere beiden Lager standen sich unversöhnlich gegenüber und ich befürchtete eine gewalttätige Eskalation, die niemandem genutzt hätte. Als die Dämmerung einbrach, schaffte ich es schließlich, an den Rest von Gol’dars rationalen Verstand zu appellieren und eine Art Waffenstillstand, man hätte es auch Patt nennen können, zu vereinbaren. Unsere beiden Gruppen zogen sich auf jeweils gegenüberliegende Seiten des Lagers zurück, getrennt durch die Überreste des Knochenthrons, entzündeten Feuer und führten weiter angeregte Diskussionen.
Erst jetzt hatte ich überhaupt Gelegenheit dazu, eine Art Bestandsaufnahme zu machen: Wer hatte mir das Vertrauen geschenkt und sich unserem Lager angeschlossen? Wen hatte ich an Gol’dar verloren?
„Du bist hier, du alter Zanntoi!“, rief Morg glücklich und gab Un’ro eine freundschaftliche Kopfnuss.
„Na hört mal!“, lachte der und erwiderte die Geste, sodass ihre beiden Stirnhörner krachend zusammenstießen. Sein weißes Haar fiel offen über die Schultern, was für einen Oger untypisch war, trugen wir es traditionellerweise zu Zöpfen geflochten. Kurz darauf wurde er aber ernst: „Es tut gut, euch wiederzusehen. Und eure Rückkehr kommt gerade rechtzeitig. Ich weiß nicht, was die alte Hexe mit uns gemacht hat, aber ganz plötzlich war da diese... Dunkelheit.“
Er schaute betroffen zu Boden.
„Alles ist so verschwommen. Bis zu dem Punkt, an dem ihr den Altar zertrümmert habt. Das fühlte sich an wie ein Erwachen. Auf einmal dachte ich mir: ‚Moment mal! Was mache ich hier eigentlich?‘“
Er spannte seine dicken Arme vor Zorn an, unter denen dicke Muskelstränge arbeiteten. Die Tätowierung, die sein Auge einrahmte, schien zu glimmen.
„Verdammte Gol’dar“, knurrte er und warf einen kampfeslustigen Blick zur anderen Seite des Platzes, wo ebenso vereinzelte Feuer brannten.
„Es ist nicht ihre Schuld“, beschwichtigte ich. „Konzentriere deinen Zorn nicht auf sie. Es sind die Keszz, die ihren schändlichen Einfluss auf uns alle ausüben. Niemand ist sicher vor ihnen, auch du oder ich nicht. Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber ihr Einfluss ist wieder da. Wir laufen stets Gefahr, wieder in blinden Gehorsam zu verfallen. Das muss uns bewusst sein.“
„Ja, du hast ja recht.“
„Also dann lass uns mal schauen, wer es noch so auf, nun, unsere Seite geschafft hat!“, rief ich freudig und begann, eine Runde zu drehen. Ich sah viele bekannte Gesichter, in denen zum Teil noch die dicke Farbe klebte, die nun mühsam abgewaschen wurde. Sie alle sahen müde, verwirrt, zornig und frustriert aus; doch unter all diesen Emotionen schien auch die Erleichterung hindurch. Das Glück, dem Griff der Hierarchen, zumindest für dieses Mal, entkommen zu sein. Während Morg und ich durch die Reihen gingen, Schultern klopften und aufmunternde Worte sprachen, ernteten wir erwartungsvolle Blicke.
„Habt ihr euch schon überlegt, was wir nun machen sollen?“, fragte Un’ro, der neben uns ging.
„Wir uns?“ – „Überlegt?“, gaben Morg und ich gleichermaßen überrascht zurück.
„Nun“, lachte er, „ihr habt uns befreit. Ist doch selbstverständlich, dass diese Aufgabe nun euch zufällt!“
Ich blieb stehen und schaute Un’ro ernst an.
„Unmöglich. Wir sind...“, stotterte ich.
„Viel zu jung und...“, jammerte Morg.
„Haben auch keine Ahnung, was jetzt...“
„Hört mal!“, unterbrach er unser zugegeben trauriges Schauspiel. „Alles schön und gut, aber ihr seid die größte – nein, die einzige! – Hoffnung, die wir haben. Ihr habt uns aus diesem Traum geholt und uns die Augen geöffnet.“
Er trat zu uns und blickte uns nachdrücklich in die Augen.
„Nur ihr wisst, wie es da draußen ist. Kennt diese Welt und ihre ‚Menschen‘. Und offenbar seid ihr immun gegenüber den Verlockungen der... Stimme.“
Ein bedrückter, flehender Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht, wie ich ihn noch nie bei ihm beobachtet hatte.
„Helft uns! Grom. Morg. Ohne euch sind wir alle verloren.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
Morg gab ein gequältes Quieken von sich und schaute hilfesuchend in meine Richtung.
„Nun, wenn du es so formulierst...?“, stimmte ich widerwillig zu. Ich ließ meinen Blick schweifen. Um das Feuer herum war es still geworden, alle schauten mich hoffnungsvoll an. Wenn ich in diesem Moment nicht überrumpelt von der Bürde gewesen wäre, hätte mir die Ironie auffallen können, dass ein Sonderling, ein Doz'Cho, nun die letzte Hoffnung unserer Stammes war. Aber so versuchte ich, möglichst viel Selbstbewusstsein vorzuspielen und die aufwallende Panik zu unterdrücken.
„Ich mach’s. Wir machen’s. Richtig, Morg?“, sagte ich schließlich, gut hörbar und mit fester Stimme.
„Uhm... ja?“
Die mich anstarrenden Gesichter hellten sich schlagartig um einige Nuancen auf, einige nickten mir dankbar zu.
„Das wollte ich hören!“, bellte Un’ro und klopfte mir grob auf die Schulter. „Also, lass uns teilhaben! Was ist der nächste Schritt?“
Eine gute Frage. Ich hatte kaum damit gerechnet, überhaupt so weit zu kommen.
Ich versuchte, das Beste aus meinem neugewonnen Titel als Anführer zu machen. Teilte Nachtwachen ein, schickte einige zum Jagen, sendete sogar einen Unterhändler zu Gol’dars Lager aus – selbstredend ohne nennenswerten Erfolg. Im Wesentlichen machte ich aber nichts anderes, als auf Zeit zu spielen. Denn nach wie vor hatte ich keine Idee, wie es weitergehen sollte; nur, dass ich nicht eine Hälfte meines Stamms zurücklassen und ihrem Schicksal überlassen wollte.
„Die haben damit begonnen, einen neuen Schrein zu bauen“, grunzte Razzhiv am nächsten Morgen und ließ sich neben uns seufzend auf den Boden fallen, was ihre knöchernen Ohrringe klimpern ließ. Die drahtige, großgewachsene Ogerin war gerade von ihrem Rundgang wiedergekommen.
„Unglaublich. Verblendete Idioten“, murmelte Un’ro, der neben mir saß. Ich konnte nicht anders, als ihm einen missbilligenden Blick zuzuwerfen. „Ja, schon gut, sie sind unsere Familie. Ich weiß.“
Die schwache Morgensonne erhob sich eben über den Waldrand und tauchte die sich in die kalte Luft emporkräuselnden Rauchschwaden in einen goldenen Schein.
„Und sonst?“, wollte ich von Razzhiv wissen.
„Nichts“, zuckte sie mit den Schultern und kämmte mit der Hand ihre langen Haare, die einem einzelnen, dünnen Streifen ihrem ansonsten kahlen Schädel entwuchsen, zu einer Seite. „Im Ernst! Wie ausgestorben, es herrscht absolute Stille. Nur wenn man sich sehr nah heranpirscht, hört man sie leise Flüstern und vor sich hin murmeln.“ Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schüttelte dann aber nur den Kopf und schwieg.
„Hmm“, machte Morg. „Die stecken immer noch tief drin.“
„Richtig. Und am tiefsten von allen Gol’dar. Wollt ihr meine Theorie hören?“, fragte ich in die Runde. Un’ro und Razzhiv nickten. „Der Punkt, von dem die Macht der Keszz über uns ausgeht, ist sie. Sie ist sozusagen, hm, ein Anker deren Macht.“
„Du meinst, sie verstärkt deren Stimme und lenkt sie entsprechend zu uns um?“, fragte Un’ro.
„Es ist eine Theorie.“
„Auf jeden Fall besitzt sie als Älteste große Autorität. Was sie sagt, ist Gesetz. Und wenn sie die Keszz als Herrscher anerkennt...?“ Razzhiv lachte unbehaglich „Bei Tÿl, es fällt mir immer noch schwer, sie so zu nennen! Jeden Augenblick erwarte ich Gol’dars Zorn auf mich niedergehen.“
„Vielleicht ist es auch einfach nur das... ihre Position der Autorität“, gab ich zu. „In jedem Fall ist sie der Schlüssel. Ihre Macht zu brechen. Davon bin ich überzeugt.“
„Kein Problem“, grunzte sie und zog einen kurzen Jägerdolch unter ihrer Kutte hervor. Mit gefletschten Zähnen fuhr sie mit dem Daumen über dessen Klinge.
„Nein, nicht so“, unterbrach ich sie entschieden und legte ihr eine Hand auf den Unterarm. „Ich will nicht, dass die Ungeheuer uns noch weiter schwächen als ohnehin schon, verstanden? Wir stehen das gemeinsam durch, als ein Stamm.“
„Wir müssen jeden einzelnen retten“, pflichtete Morg bei.
„Ja, schon gut“, maulte sie und ließ den Dolch wieder verschwinden. „Aber wie? Sie hört uns nicht zu! Wie sollen wir zu ihr durchdringen?“
Ungeduldig suchte ich den Waldrand ab, in der Hoffnung, jeden Moment Zuak zu erblicken, der den fertigen Conjurator überbrachte. Er hätte sicherlich eine Idee gehabt, wie dieses Dilemma aufzulösen wäre.
„Erwartest du, dass dir die Antwort auf deine Frage von irgendwoher zufliegt?“, lachte Razzhiv, als sie meinen Blick bemerkte.
„Nein. Es ist nur... ich erwarte noch Neuigkeiten, die uns in diesem Schlamassel wirklich weiterhelfen würden.“ Wir berichteten den beiden kurz und knapp von Lazars Experimenten und seiner Theorie bezüglich meiner Begabung. „Ich weiß es nicht“, schloss ich. „Ich glaube selbst nicht daran, aber wenn es-“
„Schat‘un“, flüsterte Un’ro plötzlich, setzte sich kerzengerade auf und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.
„-tatsächlich funktioniert...?“, beendete ich meinen Satz und erwiderte seinen Blick. Was war bloß in ihn gefahren?
„Was heißt hier Schat’un?“, wollte Morg wissen. „Was ist mit ihm?“
„Diese Geschichte von ihm... Deine Begabung...“, murmelte er und sprang auf. Hektisch schaute er sich suchend um.
„Bist du durcheinander, du Zanntoi? Hast du eins auf den Kopf bekommen?“, grunzte Morg belustigt.
„Nein, wartet! Er ist hier bei uns. Er kann...“ Er ging und mischte sich unter die anderen, sich dabei hektisch umschauend und immer wieder Schat’un murmeln.
„Schade. Durchgedreht. Ich habe ihn immer gemocht“, murmelte Razzhiv. „Heißt das, dass ich nun eure rechte Hand bin?“, fragte sie und zeigte uns strahlend ihre spitzen Reißzähne.
„Er ist nicht unsere...“ – „Wir haben gar keine...“, erwiderten Morg und ich gleichzeitig.
„Aber wenn du mit einer genialen Idee herauskommst, überlegen wir es uns nochmal“, kicherte Morg.
„Nun, wenn das so ist, dann... äh... wir könnten doch-“, stammelte sie.
„Habe ihn!“, rief Un’ro mit einem Mal von der anderen Seite des Feuers und kam auf uns zu. An einer Hand zog er unseren letzten überlebenden Seher hinter sich her. Der alte Mann, offenbar ähnlich überrascht von der plötzlichen Aufmerksamkeit, versuchte leicht hinkend, mit Un’ro Schritt zu halten. Schließlich standen sie bei uns, der Seher mindestens so verwirrt wie wir alle. Nur Un’ro strahlte vor Stolz, als hätte er soeben einen heiklen Auftrag ausgeführt.
„Mein Junge“, brummte Schat’un mürrisch, „erklärst du mir denn nun auch, worum es geht?“
„Das wäre gut, ja“, stimmte ich ihm zu.
„Sofort“, räusperte er sich und rollte leicht mit den Schultern, bevor er an den Seher gewandt fortfuhr: „Ältester, ich habe Euch zu uns geholt, weil wir uns in einer brenzligen Situation befinden. Und ich denke, Euer Wissen kann uns dabei helfen.“
„Oh, na sieh an, auf einmal glaubst du, mein Wissen sei zu etwas nütze?“, brummte der Alte.
„Ich... gebe zu, dass ich nicht immer der beste Schüler gewesen bin“, druckste Un’ro und schaute sich unglücklich zu uns um. „Aber hier geht es um Leben und Tod. Ich bitte Euch!“
„Ja ja, schon gut“, beschwichtigte er und ließ sich seufzend auf den Boden nieder. „Also raus mit der Sprache! Wobei kann euch ein altes Fossil wie ich denn noch helfen?“
„Wie Ihr ja bereits, nun, richtig festgestellt habt, habe ich einige Wissenslücken in Bezug auf unsere Sagen und Legenden.“
„Wissenslücken“, schnaubte Schat’un. „Wohl eher riesengroße, klaffende Gruben der Ignoranz.“
„Und... ich versuche mich an eine Geschichte zu erinnern, die Ihr einst erzählt habt.“ Er schaute den Seher hoffnungsvoll an.
„Junge, ich habe mein halbes Leben nichts anderes gemacht, als euch Bengeln Geschichten zu erzählen“, erwiderte er ungeduldig. „Ein wenig konkreter musst du schon werden, nach welcher Geschichte du suchst.“
„Ja, äh, natürlich. Ich erinnere mich noch, dass es Teil der Irrfahrt von Tÿl war. Der Große Tÿl befindet sich dort in einer Situation wieder, in der einen Pakt schmiedet mit einem feuerspeienden Wesen.“
„Vo’kul“, ergänzte Schat’un. „Das Wesen, wie du es nennst, heißt Vo’kul.“ Ein Blick in unsere blanken Gesichter entlockte ihm einen frustrierten Seufzer. „Wozu mache ich mir überhaupt die Mühe? Also dann, kommt näher, ich erzähle es euch... mal wieder.“
„Tÿl, Sohn der Göttin Auran und des Dämonen Xa’xi, befand sich im zehnten Jahr seiner Reise, die ihm anhaftende Schmach, Saat einer derart unheiligen Verbindung zu sein, zu tilgen. Lediglich die achte und somit letzte Prüfung stand ihm bevor. Alle sieben Teile des verlorenen Artefakts hatte er bereits aufgespürt und geborgen. Wieder und wieder hatte er sich im Laufe der vergangenen Dekade bewiesen, hatte allen Widrigkeiten getrotzt, alle zu seinen Ungunsten stehenden Aussichten ins Gegenteil verkehrt.
Doch diese eine, letzte Prüfung sollte ihn vor eine Herausforderung stellen, die ihm unmöglich erschien. Das einzige noch fehlende Stück des Artefakts hatte ein Riese an sich genommen, der so groß war, dass sein Kopf in den Wolken verschwand. Und nicht nur das, nein: Sein Körper war übersät von einer dicken, stachelbewährten Panzerung und er schwang eine Keule, die so lang wie ein Turm hoch war. Tÿl wurde schnell klar, dass er dieses Wesen im Kampf niemals würde bezwingen können. Also musste eine List her.
Er hatte herausgefunden, dass das Geschöpf sich das achte Teil als Verzierung in seinen rauschenden Bart eingeflochten hatte. Also versuchte er, sich nachts an den ruhenden Giganten heranzupirschen, doch der schlief nie. Sich unbemerkt am Tage an den Stacheln seiner Panzerung emporzuschwingen, war aber ebenso wenig erfolgreich. Weder seine Nahrung zu vergiften noch ihn in eine Falle zu locken, hatte Erfolg. In seiner Verzweiflung versuchte es Tÿl tatsächlich, ihn im direkten Zweikampf zu besiegen, was ihn beinahe das Leben kostete.
Nichts schien zu nützen! In seinen Gedanken sah er sich mit einem nur zu Siebenachteln zusammengesetzten Artefakt in seine Heimat zurückkehren, spürte förmlich den Spott und die Häme, die sich über ihn ergießen würde. Nicht nur das – verjagen und verstoßen würden sie ihn, seine Mutter Auran öffentlich hinrichten! Nein, schwor er sich, er würde Erfolg haben. Nur dann würde er in seine Heimat zurückkehren. Erfolg oder Tod.
Die Zeit verstrich, in der er jeden Tag aufs Neue einen Versuch unternahm, nur um immer wieder zu scheitern. Jahre vergingen und Tÿl begann zu vergessen, warum er überhaupt dort war, warum er das Artefakt vervollständigen wollte. Sein Geist war derart auf diese eine Sache gerichtet, dass er sich bereits selbst zu vergessen begann.
Bis eines Abends Vo’kul zu ihm kam. Tÿl saß niedergeschlagen am Feuer und brütete, seine Gedanken kreisten verloren um alles und nichts zugleich, als sich mit einem Mal glühende Augen in der Dunkelheit jenseits des brennenden Scheins wie aus dem Nichts manifestierten.
„Ich beobachte deine kläglichen Versuche schon lange“, spottete Vo’kul, von dem nach wie vor nichts als die Augen zu sehen waren. „So kläglich du dich anstellst, so sehr muss ich deine Hartnäckigkeit bewundern. Also habe ich beschlossen, dir zu helfen.“
Tÿl war überrascht, hatte er doch zu keinem Zeitpunkt geahnt, dass er beobachtet wurde. „Wer bist du? Zeige dich!“, forderte er.
„Ich bin Vo’kul. Und ich zeige mich dir doch“, lachte das Wesen, dessen Augen beinahe amüsiert funkelten.
Tÿl kniff die Augen zusammen, doch so sehr er sich anstrengte, konnte er keinen Körper, keinen Mund, kein Gesicht entdecken.
„Außerdem“, fuhr Vo’kul fort, „ist es doch überhaupt nicht das, was dich interessiert. Oder irre ich mich?“
Tÿl schüttelte den Kopf. „Du hast recht. Es ist mir egal.“
Vo’kuls Augen flammten für einen Moment begierig auf. „Und was ist es stattdessen?“
„Du hast mir deine Hilfe angeboten. Was genau gedenkst du zu tun?“
„Ahhh“, seufzte Vo’kul zufrieden auf. Seine tiefe Stimme brachte beinahe die Luft zum Erzittern. „Aber das ist nicht alles, nicht wahr?“
Tÿl dachte einen Moment nach und nickte schließlich. „Wieder richtig. Was ist dein Preis?“
Vo’kul kicherte tief und unheilvoll in sich hinein. „Schlaues Bürschchen. Ich mache dir folgenden Vorschlag: Erst helfe ich dir, dein Ziel zu erreichen. Und dann reden wir über den Preis.“ Die Augen schienen sich zu Schlitzen zu verengen.
„Nein. Wie soll das gehen? Ich muss erst die Bedingungen des Handels wissen, bevor ich ihm zustimme.“
„Oh, aber würdest du nicht jeden Preis bezahlen, um zu erreichen, was du dir wünschst?“ Vo’kuls Stimme klang drängend, aufgeregt, gierig – und verlockend.
„Nun... ja“, willigte Tÿl schließlich benommen ein. Er fühlte sich nicht wie er selbst.
Vo’kul lachte dunkel auf, seine Augen stießen lodernde Flammen aus, die die Dunkelheit erhellten. „Ausgezeichnet. Nun höre mir zu!“
Zehn Tage und zehn Nächte verbrachte Tÿl damit, Vo’kuls Plan in die Tat umzusetzen. Als er schließlich am Morgen des elften Tages aus der Ferne den Riesen erspähte, fragte er Vo’kul: „Und du hältst deinen Teil der Abmachung ein? Wenn nicht, wird mich der Riese zerschmettern wie eine Fliege.“
„Ich muss doch sehr bitten“, kicherte Vo’kul, ohne die Frage zu beantworten.
So ging Tÿl an die Umsetzung des Plans. Er begann damit, spitze Holzspeere auf den Riesen zu werfen, die einzeln für sich genommen zwar kaum Schaden anrichteten, sich gemeinsam aber zu einer Plage kombinierten, wie ein Schwarm Mücken. Und so, nach dem einhundertundersten Speer, hatte Tÿl den Zorn des Riesen auf sich gezogen. Mit wütendem Gebrüll, das in einem nahegelegenen Gebirge Erdrutsche auslöste, jagte er hinter ihm her. Viel Zeit hatte Tÿl dabei nicht, denn schon bald würde ihn der Riese eingeholt haben. Kurz bevor es soweit kam, hatte er ihn in ein schmales Tal zwischen zwei Hügeln gelockt. Der Riese stürmte auf ihn zu und holte mit seinem gewaltigen Knüppel aus. Doch kurz bevor er zuschlagen wollte, gab der Boden unter ihm nach und er fiel stolpernd. Durch diese Erschütterung lösten sich weitere Steinlawinen an den Hängen und begruben den Riesen zum Teil unter sich. Die List hatte funktioniert, die langen Tage, an denen Tÿl das Erdreich entsprechend präpariert hatte, um unter dem Riesen nachzugeben, hatten sich ausgezahlt!
Doch noch hatte er das letzte Artefakt nicht in der Hand. Der Riese war zwar für einen Moment unter den Massen aus Geröll gefangen, begann aber bereits, sich zu befreien.
„Vo’kul, jetzt!“, rief Tÿl und sein Verbündeter erschien nah am Gesicht der Riesen. Mit einem letzten, grausigen Lachen ging Vo’kul in einer riesigen Stichflamme auf und steckte den Bart des Riesen in Brand. Derart schnell verzehrten sie das taudicke Haar, dass das Geschöpf nur überrascht schauen konnte, als das achte Teil, ehemals in dessen Bart gefangen, von den Flammen freigelegt wurde und klimpernd zu Boden fiel. Ohne zu zögern, griff Tÿl danach und lief davon ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen. Er hatte alle Teile in seinem Besitz.
Ich musste zugeben, ich hatte mich von der Geschichte mitreißen lassen. Als ich mich umschaute, sah ich, dass es den anderen ebenso ging. Und wir waren nicht allein – andere hatten sich zu uns gesellt, träumten mit glasigen Augen von den Abenteuern unseres Urahnen.
„Was ist aus Vo’kul geworden?“, fragte ein Jugendlicher mit krächzender Stimme.
„Man hat nie wieder von ihm gehört“, erwiderte Schat’un mit unheilvoller Stimme. „Irgendwann, so sagt man, wird er wiederkommen und den Preis einfordern, den er von Tÿl verlangte.“
„Aber... aber Tÿl ist doch schon längst bei den Ahnen!“, japste der Junge.
„Richtig“, schmunzelte Schat’un und lehnte sich ein wenig vor. Mit funkelnden Augen flüsterte er: „Den Preis werden seine Kinder zahlen müssen.“
„Die... die K-Kinder von Tÿl?“
Schat’un nickte. „Genau – wir.“
Nachdem sich die Ansammlung kurze Zeit später aufgelöst hatte und wir nur noch zu viert waren, hatte sich auf seinem Gesicht ein seliges Lächeln niedergelassen. „Das tat gut. Es ist schon sehr lange her, dass ich eine Geschichte erzählt habe.“
„Eine interessante Geschichte“, sagte Morg.
„Aber ist Vo’kul nun Freund oder Feind?“, fragte Un’ro.
„Willst du eine Antwort für Erwachsene? Vo’kul ist nichts anderes ein Sinnbild. Kein Gefallen ohne Gegenleistung. Du kannst nicht nehmen, ohne zu geben. Nichts auf der Welt ist umsonst. Sowas. Klar?“
Un’ro schüttelte den Kopf.
„Er ist beides“, seufzte Schat’un.
„Seher“, sagte ich. „Ich meine, Ihr solltet anfangen, diese Geschichten wieder zu erzählen. Es ist jetzt wichtiger denn je, dass wir uns als Volk unserer Wurzeln, unserer Identität, bewusst werden. Mit diesen Geschichten hast du es in der Hand, uns wieder zu erden, uns bewusst zu machen, wer wir überhaupt sind. Das ist in dieser Zeit wichtiger denn je.“
Schat’un starrte mich eindringlich an und nickte schließlich ernst. „Du hast recht. Ich werde euch auf dem Schlachtfeld nichts nützen, wenn es soweit kommt. Dafür bin ich zu alt. Aber abseits davon werde ich tun, was ich kann.“ Er erhob sich, nickte uns kurz zu und verschwand dann im Lager.
„Und was hat uns diese Geschichte nun gebracht?“, wandte sich Morg an Un’ro, der seit dem Ende der Geschichte begeistert um sich blickte.
„Ja, versteht ihr denn nicht? Vo’kul, das Feuer-Zauber-Wesen?“ Er strahlte uns derart breit an, als wäre die Antwort klar wie ein Wintermorgen. Mir schwante allmählich, in welche Richtung seine Idee ging.
„Red‘ Klartext, Mann“, rumpelte Razzhiv.
„Ich vermute mal, dass du Parallelen zwischen mir und diesem Vo’kul ziehst?“, mutmaßte ich.
Un’ro nickte eifrig. „Ja! Das liegt doch auf der Hand, nicht? Als du eben von dieser Begabung erzählt hast, musste ich unweigerlich an Schat’uns Geschichten denken.“
„Gar nichts liegt hier auf der Hand“, murrte Morg.
„Und selbst wenn. Inwiefern hilft uns das alles nun bei unserem Problem?“ Ich gestikulierte zur gegenüberliegenden Seite des Lagers, wo ein ungelöster Konflikt auf seine Lösung wartete.
„Ich gebe zu, es ist vielleicht ein bisschen weit hergeholt“, hob er entwaffnend die Hände, „aber stellt euch mal vor, wir schaffen es, diesen Gedanken – Grom ist der Vo’kul – in den Köpfen der anderen zu verfestigen. Und er ist hier, um unsere Schuld zu begleichen: Krieg gegen die Keszz. Wie sollte Gol’dar das noch übertrumpfen können? Hier die legendäre Sagengestalt, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, und in deren Schuld jeder einzelne von uns steht“, er deutete in meine Richtung, „und dort der grausame Eroberer von außen, der uns unterjochen will“, er zeigte auf das andere Lager. „Was denkt ihr, hat mehr Wirkung?“
Wir verfielen in Schweigen, während jeder von uns nachgrübelte. Ich kam nicht umhin, seiner Idee eine gewisse Pfiffigkeit zu bescheinigen.
„Nun gut, in Anbetracht der uns mangelnden Einfälle“, wollte ich schließlich wissen, „was schlägst du vor?“
Die Herausforderung bei unserem Plan bestand darin, möglichst subtil das Gerücht zu verbreiten, ich wäre der zurückgekehrte Vo’kul, ohne dass die List allzu offensichtlich wurde und insbesondere ohne, dass Gol’dar davon Wind bekam. Schließlich schlug Schat’un aus freien Stücken vor, das Lager zu wechseln und Gol’dar um Wiederaufnahme als reumütiger Abtrünniger zu bitten.
Als ich ihm nachblickte, wie er sich in der nächtlichen Dunkelheit davonschlich, war mir äußerst mulmig zumute. Jeden Moment rechnete ich damit, dass unser Späher davon berichtete, wie ihm an Ort und Stelle der Kopf abgeschlagen worden wäre. Doch auch Tage später noch waren derartige Meldungen ausgeblieben. Die andere Gruppe hatte ihn geschluckt wie eine Bestie und nicht wieder ausgespien.
„Was denkst du, wie gut er vorankommt? Hat er es schon geschafft, die Saat des Zweifels zu säen?“, fragte Un’ro.
„Wer weiß?“, murmelte Morg.
„Mach dir nicht so viele Gedanken“, versuchte ich ihn aufzumuntern. „Er wird schon zurechtkommen.“
„Ja, sicher. Und doch... ist es meine Idee gewesen. Wenn ihm etwas zustößt? Wir würden unseren weisesten Seher verlieren!“
„Er hat doch freiwillig zugestimmt, oder?“, forderte Morg von ihm.
„Ja, schon. Aber...“ Un’ro sah unglücklich aus.
„Denk‘ einfach nicht daran. Halte dich an unseren Plan. Konzentrieren wir uns auf den nächsten Schritt und hoffen, dass er da drüben Erfolg hat, hm?“, versuchte ich ihn aufzubauen.
Er nickte widerstrebend. „Schon gut. Ich fühle mich einfach nur so... nutzlos. Als hätte jeder alle Hände voll zu tun, nur ich sitze herum und drehe Daumen.“
„Geht mir genauso“, brummte Morg.
„Solange die Menschen noch nicht aufgetaucht sind, können wir ohnehin nichts tun. Stell dir vor, der große Vo’kul soll seine Fähigkeiten demonstrieren und er kann es nicht.“
Plötzlich sah ich Tamonn, eine unserer Späherinnen, eilig auf uns zukommen.
„Häuptling!“, flüsterte sie hektisch.
„Verdammt nochmal, ihr sollt uns so nicht-“, hob Morg soeben an, doch ich unterbrach ihn. Sie hatte offensichtlich eine dringende Nachricht.
„Sprich.“
„Sie kommen! Da drüben!“
Hastig sprangen wir auf und starrten in die Richtung, in die sie zeigte. Ich erspähte Gol’dar in Begleitung von zwei Wachen, die gemächlich zur Mitte des Dorfplatzes marschierten und dort stehenblieben.
„Keine Waffen“, stellte Morg fest.
„Stimmt. Die wollen reden“, vermutete Tamonn und schirmte ihre Augen gegen die tiefstehende Sonne ab.
„Da hast du deine Antwort, Un’ro. Die Saat des Zweifels ist aufgegangen. Ihr beide kommt mit! Mal schauen, was sie wollen. Oh – und keine Waffen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, marschierten wir los. Das Wort hatte bereits die Runde gemacht und alle waren auf den Beinen, um mit anzusehen, was geschehen würde. Ich schaute in besorgte, hoffnungsvolle und kampfeslustige Gesichter, die hervorragend meine eigenen Emotionen spiegelten.
„Hör mal“, flüsterte ich in Morgs Richtung, „was auch immer sie sagt, wir lassen uns nicht provozieren, in Ordnung? Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren.“
„Ist meine Spezialität“, antwortete er unschuldig. Gänzlich beruhigte mich das nicht.
Wir näherten uns dem großen Platz, auf dem noch immer die Überreste des großen Altars verstreut lagen. Der Haufen war offenbar noch weiter zerpflückt worden, zweifelsohne von Gol’dars Gruppe zum Bau ihres neuerlichen Schreins.
Als ich unsere Stammesälteste in Augenschein nahm, musste ich betrübt feststellen, dass sie sich kaum verändert hatte: Ihr gesamter Körper war in dunklen Farben bemalt, verschlungene Runen und andere Muster waren diffus auf ihrem Körper auszumachen. Ein dunkler Schatten pulsierte in ihren Augen, als sie mich grimmig betrachtete. Martialisch wirkende Fetische aus Knochen hingen um ihren Hals. Ihre Begleiter erkannte ich kaum, denn sie waren ähnlich bemalt und hatten demütig die Köpfe gesenkt.
Etwa drei Schritte vor ihr blieb ich stehen und musterte sie abwartend. Schließlich setzte sie ein kühles Lächeln auf.
„So. Vo’kul, ja?“ Sie schnaubte abfällig. „Ich muss schon sagen, das hätte ich dir Doz’Cho nicht zugetraut. Es spricht aber für deine Niederträchtigkeit, als das unreine... Ding, das du bist, unsere Traditionen und Legenden zu missbrauchen.“
Ihre Worte stachen wie Nadeln und ich spürte, wie Morgs Temperament auf ihre Worte ansprang.
„Erspar‘ dir deine billigen Provokationen, Älteste“, sagte ich betont kühl und abgeklärt. Zumindest hoffte ich das. „Du bist am allerwenigsten in der Position, vom Verrat an unserem Volk zu sprechen.“
Ihre Fassade bekam Risse. Auch in ihr kochte sicherlich das Blut hoch. Der Razsh’ek machte anfällig für Provokationen, das war mir nur allzu schmerzlich bewusst.
„Also sprich! Was willst du?“
Sie bemühte sich um einen sachlichen Tonfall. „Nun gut. Kurioserweise macht auch unter meinem Gefolge das Wort die Runde, dass Vo’kul zurückgekehrt ist – woher die auch immer wissen, wer das ist.“
Sie funkelte mich an, als vermutete sie mein Tun dahinter, ohne es aber beweisen zu können.
„Ich kann das Gerede nicht gebrauchen. Und da wir uns ohnehin in einer Pattsituation befinden und meine Geduld am Ende ist, sage ich nun Folgendes: Ich fordere dich zu einem Zweikampf heraus. Deine Vo’kul-Tricks gegen die Macht der Hierarchen.“
Sie kicherte. Offenbar war es für sie amüsant, überhaupt an ein derart ungleiches Duell zu denken.
„Dann haben wir ein für alle Mal Klarheit und können diese alberne Rebellion, oder wie immer ihr das auch nennt, beenden.“
„Älteste, bei allem Respekt, ich glaube fest an eine friedliche Lösung! Lasst die Keszz uns nicht auch noch gegeneinander aufwiegeln! Wir können-!“
Sie brach in unheilvoll grollendes, unnatürlich klingendes Gelächter aus. „Feigling! Hört ihr das?“, wandte sie sich, ohne den Blick von mir zu wenden, an ihre beiden Begleiter. „Der große Vo’kul hat Angst. So wie ich das sehe, bist du nichts weiter als ein Aufschneider und ein-“
„Abgemacht!“, brüllte Morg plötzlich und streckte ihr angriffslustig die Faust entgegen. „Der Zweikampf wird es entscheiden.“
„Bis auf den Tod“, knurrte Gol’dar und fletschte zufrieden die Zähne.
„Ach, Morg“, brachte ich nur hervor.
„Verdammt nochmal, was ist denn in dich gefahren?“, fuhr ich ihn auf dem Rückweg an. „Ich dachte, wir waren uns einig, das alles hier friedlich lösen zu wollen?“
„Tut mir leid. Aber wir dürfen uns nicht so behandeln lassen von der! Es geht hier schließlich um Macht. Glaubst du wirklich, du kannst mit ihr verhandeln?“
„Nein, wahrscheinlich hast du recht, aber...“
Das Schlimme war, dass ich mit einem solchen Ausgang gerechnet hatte. Ich war zu naiv an die Sache herangegangen.
„Es ist einfach nur ein Wahnsinn, sich hier gegenseitig abzuschlachten, während die Keszz dabei zusehen und sich die Hände reiben – also, die Klauen reiben, ihr wisst schon.“
„Sieh es doch mal so“, mischte sich Tamonn ein, „immerhin ist es ein Zweikampf und kein Krieg. Jetzt wird nur Gol’dar sterben.“
Ich schaute sie verblüfft an. „Ist es dir das Schicksal unserer Stammesältesten wirklich so egal?“
„Nein, natürlich nicht“, druckste sie herum. „Aber immer noch besser so, als dass unser gesamter Stamm aufeinander losgeht.“
„Schön und gut“, widersprach ich. „Das nützt aber auch nur dann, wenn wir Gol’dar tatsächlich bezwingen.“
Tamonn lachte laut auf. „Hast du etwa Angst vor der Alten?“
„Weißt du? Das ist es, was mich stutzig macht. Warum hat sie einem Zweikampf zugestimmt? Wie kann sie in ihrem Alter und derart gebrechlich, wie sie nun einmal mittlerweile ist, auch nur entfernt glauben, über uns zu triumphieren?“
„Mach‘ dir nicht so viele Gedanken“, versuchte Un’ro zu beschwichtigen. „Sie ist verwirrt. Die Keszz haben ihren Verstand verweichlicht. Sie glaubt wahrscheinlich, sie hat deren Macht auf ihrer Seite.“
Ich schüttelte nur abwesend den Kopf, meine Gedanken kreisten um ihr siegessicheres Grinsen. Sie wusste etwas, das ich nicht wusste.
„Nein. Sie wollte diesen Zweikampf. Irgendetwas muss ihr die Zuversicht geben, zu gewinnen.“
Morg seufzte laut. „Hast noch die ganze Nacht, um es herauszufinden. Ansonsten werden wir es spätestens morgen früh sehen. In der Arena.“
„Und dann ist es zu spät“, murrte ich.
Wir saßen in dieser Nacht noch lange am Feuer. Die Nachricht, dass der Konflikt bereits am morgen durch einen Zweikampf entschieden würde, verbreitete sich wie eine Springflut im Lager. Am laufenden Band kamen und gingen Mitglieder unserer Gruppe, setzten sich zu uns, wünschten uns Glück, fragten uns aus und boten uns Essen an. Ich ärgerte mich über meine rasenden Gedanken, die es mir nicht erlaubten, die Fürsorge meines Stamms zu würdigen. Stattdessen grübelte ich ununterbrochen über den morgigen Tag und welche List Gol’dar wohl ausgeheckt haben könnte. Selbstredend kam ich zu keinem Ergebnis.
Irgendwann, tief in der Nacht, beschloss ich schließlich, keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Es war gut möglich, dass dies die letzte Nacht war, die mir blieb. Ich schaute mich mit schweren Lidern um. Vereinzeltes Schnarchen drang aus den Zelten und Hütten, Wachen schlenderten umher und schauten angestrengt in die Dunkelheit hinaus. Mit uns am Feuer saßen nur noch unsere treuen Gefährten, Un’ro und Razzhiv. Mit letzterer war Morg in ein leise flüsterndes Gespräch vertieft, das nur von gelegentlichem Kichern unterbrochen wurde.
„...wenn du dann Häuptling bist... schon eine Frau...?“, hörte ich nur Bruchstücke ihres Gesprächs, die aber ausreichten, um den Sinn zu erfassen. Ich wandte mich schnell Un’ro zu, um bloß keine weiteren Einzelheiten zu erfahren.
„Sieh an. Wieder unter den Lebenden?“, neckte er.
„Wie? Ja doch“, seufzte ich. „Es lässt mir keine Ruhe. Etwas stimmt nicht. Aber ich komme einfach nicht darauf, was es ist. Auf jeden Fall beschleicht mich ein ganz mieses Gefühl.“
„Komm schon, du bist doch der Auserwählte“, grinste er. „Wenn es jemand schafft, dann du!“
„Ich hatte bloß gehofft, die Menschen wären rechtzeitig gekommen, um diese ganz schön weit hergeholte Behauptung auch untermauern zu können. Ich dachte, wir könnten einige magische Effekte abspulen und alles andere hätte sich von selbst ergeben. Aber dass ich nun morgen um mein Leben kämpfen muss? Das war so nicht vorgesehen.“
„Das wird schon“, gähnte er und erhob sich langsam. „Seid auf der Hut und rechnet mit allem. Nicht übermütig werden. Und vertrau‘ darauf, dass euch schon im richtigen Moment was einfällt.“
Ich musste lachen, was ihn verwirrt dreinschauen ließ.
„Ach, nichts“, winkte ich ab. „Die Menschen haben ein tolles Wort dafür. Improvisieren.“
„Aha“, schmunzelte Un’ro und klopfte mir sanft auf die Schulter. „Dann hast du doch alles, was du brauchst. Wir sehen uns morgen. Und ich habe das Gefühl, die da hätten auch gerne noch ein bisschen was von der Nacht.“
Ich folgte seinem Kopfnicken und sah Morg und Razzhiv, wie sie eng umschlungen in leidenschaftlichen Küssen versunken waren.
„Aber...!“, wollte ich Einspruch erheben, doch Un’ro schob bereits das schwere Fell am Eingang seiner Hütte zurück und verschwand in der Dunkelheit dahinter. Nun, wenn das tatsächlich unsere letzte Nacht sein sollte, wer war ich, Morg vorschreiben zu wollen, wie er sie zu verbringen hatte?
Ich starrte in die knisternden Flammen und versuchte, so gut es ging, das leidenschaftliche Seufzen neben mir zu ignorieren.
„Dann improvisieren wir eben. Hat ja bisher auch funktioniert“, murmelte ich noch, bevor ich mich aus unserem Körper zurückzog und vollständig an Morg übergab. Was er die restliche Nacht über anstellte, ging mich nichts an.
Zarte, warme Haut, die meinen Körper berührt. Filigrane Finger, die zwischen meinen Brustmuskeln entlangstreichen. Kurze, braune Haare, die in meiner Nase kitzeln. Ihr erdiger Körpergeruch, der einen Schauer in mir auslöst. Sie merkt, dass ich wach bin. Schmiegt sich ein wenig enger an mich, verschwindet beinahe in meiner Umarmung. Ihre dunkelgrünen Augen schauen mich sehnsüchtig an.
„Was zum...!“ Ich zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Fremde Körperwärme strahlte angenehm auf mich ab. In der Dämmerung des Morgens sah ich mich um und entdeckte einen splitternackten Frauenkörper, der sich im Schlaf eng an mich geschmiegt hatte. Razzhiv! Einen Augenblick später fiel mir auf, dass auch ich nackt war.
Augenblicklich schoss mir die Hitze ins Gesicht. Schließlich befand ich mich in einer intimen Situation mit einer Frau wieder, für die ich nichts empfand!
Vielleicht sollten wir mal über Spielregeln für sowas sprechen, dachte ich, als ich Razzhivs Arm behutsam von mir schob. Ich gab mir Mühe, sie nicht zu wecken und ihre Nacktheit nicht allzu neugierig zu betrachten, wickelte mir meine weite Robe um und trat zur Tür. Beim letzten Blick zurück, schoss es mir noch durch den Kopf: Razzhivs Augen sind nicht grün!
Die eisige Morgenluft empfing mich mit einem Prickeln auf der Haut. Die Sonne war bisher kaum eine Ahnung am Horizont und dichte Nebelschwaden krochen über den hartgefrorenen Boden. Morg schlummerte nach wie vor friedlich, möglicherweise auch erschöpft, und ich gab mir Mühe, ihn auch nicht zu wecken.
„Zuak, wo bleibst du nur? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um aufzutauchen.“ Ich suchte hilflos das Zwielicht der dunklen Wälder ab, in der Hoffnung, jeden Moment die Umrisse einer menschlichen Gestalt zu entdecken. Doch nichts geschah. „Wofür braucht ihr bloß so lange?“, fluchte ich leise in mich hinein.
Nun, es nützte nichts. Ich musste mich langsam mit dem Gedanken abfinden, dass wir Gol’dar allein gegenübertreten würden. Mir wurde klar, dass ich noch nie einem anderen Oger im Kampf gegenübergestanden hatte; ich war es gewohnt, zumeist körperlich überlegen zu sein. Aber nun?
„Waaas?“, motzte jemand verschlafen. „Nein, nein, nein! Wo ist sie?“ Morg hatte sich den Morgen wohl anders vorgestellt.
„Die schläft noch, keine Panik. Meinst du nicht, wir haben andere Probleme im Moment? Wir müssen uns jetzt konzentrieren! Es steht alles auf dem Spiel.“
„Ja, ja. Ist ja gut. Du musst mir nicht schon am frühen Morgen deine Moral predigen“, brummte er ein wenig beleidigt. „Hast du... uns beobachtet?“, fügte er noch kleinlaut hinzu.
„Keine Angst. Da ist nichts, was ich hätte sehen wollen“, grinste ich ihn an.
Er streckte sich ausgiebig und gähnte laut, sodass sich die Wachen zu uns umdrehten.
„Und, was denkst du?“, wollte ich von ihm wissen.
„Worüber?“
„Über heute. Unseren Kampf.“
Er zuckte mit seiner Schulter. „Weiß nicht. Seit dieser Nacht weiß ich aber: das Leben ist süß. Ich will nicht, dass es schon vorbei ist.“
„Danke für den Einblick“, stöhnte ich. „Versprich‘ mir nur, dass wir schlau vorgehen! Selbst wenn sie uns noch so sehr provoziert, wir dürfen nicht blind drauf losschlagen, ja? Sie wird uns eine Falle stellen, das weiß ich genau.“
„Abgemacht“, sagte er und gab mir eine zuversichtliche Kopfnuss. So standen wir eine Weile schweigend da, genossen die Ruhe und die Einsamkeit des Morgens.
„Ich weiß nicht“, murmelte Morg irgendwann, „ob ich mich jemals an den Gedanken gewöhnen kann, Häuptling zu sein – wenn es denn soweit kommen sollte! Aber dass das alles gewisse Vorzüge hat, kann ich nicht abstreiten.“ Sein Blick huschte kurz zu unserer Hütte zurück, in der Razzhiv vermutlich noch schlummerte. Ein fröhliches Glucksen entfuhr ihm.
„Bitte, keine Details“, flehte ich und musste laut lachen.
Es dauerte nicht lange und das Lager erwachte zum Leben. Zeltplanen wurden zurückgeschlagen, Feuerstellen neu angefacht und einfach Mahlzeiten zubereitet. Es war eine bedrückte, schweigsame Geschäftigkeit, die alle ergriffen hatte. Jedem war bewusst, dass heute ein Schicksalstag sein würde: Wenn Morg und ich siegreich aus dem Zweikampf hervorgehen sollten, wäre unser Volk frei; wenn nicht, bedeutete dies eine Rückkehr in die Knechtschaft, vielleicht für immer. Alle Hoffnungen ruhten auf uns. Jemand brachte uns einen heißen Blättertee, den ich dankbar zu schlürfen begann.
„Bereit für euren großen Tag?“, fragte Un’ro etwas verschlafen und gesellte sich zu mir.
„Wie bereit kann man schon für so etwas sein? Ist mir bewusst, dass ich schon bald um mein Leben kämpfen werde?“
„Nein“, vervollständigte Morg.
„Das wird sich schon bald ändern“, brummte Un’ro grimmig. „Ihr wisst aber, dass euch jeder einzelne von uns dankbar ist, oder?“ Er drehte sich zu mir um und starrte mich ernst an. „Aus tiefstem Herzen. Danke.“
„Bei Tÿl!“, seufzte Morg. „Verschone mich mit diesem Gerede.“
Ich musste grinsen, nickte Un’ro aber leicht zu.
„So, also keine Rüstung, keine Waffen, ja?“
„Richtig“, räusperte er sich. „Als ich noch jung war, waren diese rituellen Zweikämpfe beinahe an der Tagesordnung. Natürlich nur bis zum ersten Blutstropfen, danach wurde zumeist gesoffen bis man vom Stuhl fiel. Unter den Keszz... nun ja, du weißt ja, dass viele unserer Traditionen nicht gerne gesehen waren.“
„So kann man es auch nennen“, lachte ich bitter. „Weißt du, mir fällt gerade auf, dass ich eigentlich überhaupt nicht weiß, wie sich das Leben als Volljähriger anfühlt.“
„Richtig“, merkte er auf. „Sie kamen an deinem Tchor’fan, oder?“
Ich nickte nur wortlos.
„Nun, wenn das hier gutgeht, dann hast du noch genug Zeit, das echte Leben zu genießen. Und glaub mir, nicht jeder Tag ist so aufregend, wie der hier.“
„Es gibt Aufregung, auf die ich gut und gerne verzichten könnte“, stöhnte ich.
„Kopf hoch! Schließlich bist du der große Vo’kul!“, lachte er und klopfte mir auf die Schulter.
Als sich die Sonne vollständig über die Baumwipfel gehoben hatte, wurde es allmählich ernst. Unruhe breite sich im Lager aus, wie ein Schwarm Fische, der ungesehen die Wasseroberfläche eines Teichs stört. Viele kamen persönlich vorbei, um uns viel Glück zu wünschen, Tipps für den Kampf zu geben oder Unterstützung anzubieten. So sehr ich die Gesten zu schätzen wusste, hätte ich aber lieber meine Ruhe gehabt. Nervosität nagte an mir; ich fühlte mich, als hätte ich eine Handvoll Würmer verschluckt. Unwillkürlich glitt mein Blick wieder und wieder zum Waldrand, doch niemand war zu sehen.
Irgendwann ertönte der hohe Ton einer Knochenflöte. Das musste das Signal sein, das vom anderen Lager herübertönte.
„Scheiße“, fluchte ich. Mein Herz machte einen nervösen Satz. Bisher war die ganze Idee dieses Zweikampfs eher abstrakt gewesen, doch nun wurde es auf einen Schlag Wirklichkeit.
Morg richtete sich auf und begann gemächlich, die Bandagen um Hände und Füße zu straffen und den Sitz unserer Robe zu prüfen. Es war ein enganliegendes, schlicht graues Kleidungsstück, das traditionell zu diesen Ereignissen getragen wurde.
„Was denkst du?“, fragte ich ihn, als er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte.
„Besser wird’s nicht“, stellte er lapidar fest und ließ seine Knöchel knacken. „Keine Sorge, irgendwas wird mir schon einfallen. Lass‘ mich mal machen.“
Als wir schließlich zwischen den Hütten hindurch zu unserer großen Feuerstelle gingen, hatten sich alle versammelt: Frauen, Männer, Jugendliche. Sie alle starrten uns hoffnungsvoll an, viele mit einer gehörigen Portion Sorge darin. Ich versuchte, möglichst selbstbewusst zu wirken und allen das Gefühl zu geben, es würde schon gutgehen – was Morg wesentlich besser gelang als mir. Auf der anderen Seite der Feuerstelle erblickte ich bereits Un’ro, Tamonn und Razzhiv, die auf uns warteten. Letztere warf sich Morg bereits um den Hals, kaum dass wir bei ihnen waren.
„Einen glorreichen Sieg, mein Häuptling!“, flüsterte sie ihm zu, bevor sie ihre Zunge tief in seiner Mundhöhle versenkte. „Und... pass auf dich auf, verstanden?“
„Verstanden. Ich weiß ja schließlich jetzt, dass es sich lohnt, zurückzukehren“, kicherte er.
Mir nickte sie kurz und unverbindlich zu, bevor sie sich einen kleinen Farbtopf schnappte, der über dem Feuer blubberte.
„Unter normalen Umständen würde nun jemand eine große Rede schwingen und die traditionellen Worte sprechen“, verkündete Un’ro halblaut, „doch wir haben nun mal keinen Seher hier.“
Während Razzhiv mit der heißen Farbe begann, Muster auf unsere Haut zu malen, kam Un’ro auf uns zu und ergänzte: „Aber jedes Wort ist ohnehin überflüssig. Jeder von uns weiß, was heute auf dem Spiel steht und welche Bürde ihr tragt. Wir alle sind euch zutiefst dankbar.“
Sie stellte den Topf zur Seite und begutachtete zufrieden ihr Werk. Die trocknende und auskühlende Farbe hinterließ ein seltsam prickelndes Gefühl.
Un’ro schaute sich zu dem großen Dorfplatz um. Gol’dars Leute waren fleißig gewesen und hatten in der Nacht die meisten Überreste des Altars fortgeschafft, sodass der Platz nun eher einer Arena glich. Wie passend. Auch in dem anderen Lager war Bewegung zu erkennen. Eine große Schar hatte sich versammelt und war im Begriff, sich in die Arena aufzumachen.
Ich schaute mich noch ein letztes Mal um, blickte jedem einzelnen meiner Angehörigen und Freunde in die Augen, bis ich schließlich jeden Gedanken aus meinem Kopf vertrieb und meinen Blick auf die Mitte des Platzes heftete. Ich versuchte, jede Emotion und jeden irreführenden Gedanken auszusperren.
„Dann mal los. Ragoo Tel’ann!“
Die Aufregung spülte in allmählich größer werdenden Wellen über mich hinweg, während wir langsam in Richtung Dorfmitte gingen. Hinter mir hörte ich das Rascheln und Schlurfen Dutzender Füße. Niemand sagte etwas, lediglich mein hämmerndes Herz setzte der gespannten Stille etwas entgegen.
Etwa zehn Schritte von den Gegnern entfernt blieb ich schließlich stehen. Beinahe wie auf Kommando verstummten auch die Schritte hinter mir. Abwartend standen wir uns so eine Weile gegenüber. Gol’dar mit einem herablassenden, betont entspannten Lächeln auf den Lippen, über und über bedeckt mit frischer, dunkelgrüner Farbe, auf der irritierende Muster aus violetten Runen hervorblitzten. Ihre Haare waren zu zwei strengen, schneeweißen Zöpfen geflochten. Auch sie trug, wie ich, die funktionale, traditionelle Robe sowie enggebundene Manschetten um Hände und Füße. Ihr kondensierender Atem funkelte golden in der aufgehenden Sonne. Hinter ihr hatte sich in einem weiten Halbkreis ihre Gefolgschaft aufgereiht und schaute ebenso überheblich zu uns herüber.
„Du bist gekommen“, verkündete sie schließlich und durchbrach überraschend die Stille. Ich zuckte erschrocken zusammen, worüber ich innerlich fluchte. Sie bemerkte das und ließ ihr Grinsen noch ein wenig weiter in die Breite wachsen. „Ich muss sagen, allein dadurch hast du mehr Schneid bewiesen, als ich dir zugetraut hätte.“
„Bist du gekommen, um Vorträge zu halten, Schwindler?“, erwiderte Morg, der sich nicht so leicht von ihrer Ausstrahlung einschüchtern ließ.
„Oh, aber nein“, kicherte sie und erhob die Stimme: „Doch bevor wir zum angenehmen Teil des Tages über gehen, habe ich leider noch eine traurige Pflicht zu erfüllen.“ Sie schaute sich betroffen um. „V‘alo, bring ihn her!“
Ein stämmiger Riese von einem Oger drängte sich zwischen den Zuschauern hindurch und stieß eine gefesselte und geschundene Gestalt vor sich her – Schat’un!
„Nein“, flüsterte Un’ro.
„Nein?“, echote sie höhnisch. „Aber ja! Ich gebe zu: Eine geschickte List, diesen Spion zu uns zu schicken und derart falsche Märchen über dich zu streuen, Doz’Cho. Nur hat er es irgendwann übertrieben.“ V’alo stieß den Seher grob, sodass der das Gleichgewicht verlor und auf seinen Knien landete.
„Tu das nicht“, bat ich, wohl vergeblich darum bemüht, meinen verzweifelten Tonfall zu überspielen. „Wir haben das alles doch ohnehin in Kürze entschieden! Wozu nun noch unnötig Blut vergießen?“
„Wozu, fragst du?“
Wie beiläufig gab sie ein Signal mit ihrer Hand, woraufhin V’alo einen groben Jagddolch hinter seinem Rücken hervorzog und ihn, ebenso kalt und beiläufig wie seine Herrscherin, dem Seher zwischen die Schulterblätter trieb. Ein leiser Seufzer entfuhr Schat’un, als der Dolch sein Herz traf. Er sah seltsam friedlich aus, kurz bevor er vornüber kippte und tot im Schlamm landete. Gol’dar lächelte unbeirrt, nahm nicht für einen Moment ihren Blick von mir.
„Weil jeden, der sich gegen mich stellt, das Schicksal eines Verräters ereilt“, zischte sie.
„Das wirst du bereuen“, grollte Morg.
„Vielleicht. Oder du wirst schon bald erkennen, dass der alte Schat’un hier sehr viel Glück gehabt hat. Denn bei euch beiden wird es nicht so schnell und schmerzlos gehen. Bei euch lasse ich mir Zeit.“
Sie nickte V’alo zu, der ihre Gefolgschaft veranlasste, ein paar Schritt zurückzutreten, bevor er den toten Seher bei den Füßen packte und ihn hinter sich her schleifend mit sich nahm.
Auch ich gab den anderen ein Signal, Platz zu machen und die Arena zu räumen. Wut und Trauer kämpften in meinem Inneren, doch ich versuchte, mich auf den Kampf zu konzentrieren.
Nun also war es soweit: Gol’dar und wir standen einander gegenüber, umgeben von den Ogern, deren Schicksal wir in den nächsten Augenblicken entscheiden würden. Die Anspannung war allenthalben zum Zerreißen gespannt.
Die Älteste blieb uns gegenüber seelenruhig stehen, ihre Hände locker zu den Seiten hängend. Sie hatte die Augen geschlossen und schien leise murmelnd in ihr Inneres zu horchen.
„Was passiert jetzt?“, flüsterte ich.
Morg zuckte nur beiläufig mit den Schultern und nahm kurzerhand die gesamte Kontrolle an sich. „Jetzt wird sie zahlen“, flüsterte er zurück und beförderte sich wie aus dem Nichts mit einem gewaltigen Sprung in die Luft.
In einem hohen Bogen flog er auf sie zu und holte dabei mit der Faust zum Schlag aus. Wie in Zeitlupe betrachtete ich uns dabei, wie wir uns auf Gol’dar herabsenkten. Doch kurz bevor ihr unsere Pranke den Schädel zertrümmern konnte, schlug sie die Augen auf. Ihr Gesichtsausdruck unverändert ruhig und herablassend an.
Falle!, schoss es mir durch den Kopf.
Tiefe Schwärze füllte ihre Augäpfel, strahlte beinahe daraus hervor. Mit einer unnatürlichen Agilität huschte sie zwei Schritte zur Seite, sodass Morgs Hieb ins Leere ging. Wir schlugen mit einer solchen Kraft auf dem Boden auf, dass der erzitterte und Morgs Faust sich ein Stück weit darin eingrub.
Gol’dar entfuhr ein hohes, verzerrt klingendes Kichern. „Beeindruckend. Du warst schon immer einer der Mächtigsten von uns.“
Sie rollte mit den Schultern.
„Dann darf ich dir wohl sicherlich nun zeigen, wozu ich, mit der Macht der Hierarchen, fähig bin.“
Sie ging zunächst zwei tänzelnde Schritte auf uns zu, bevor sie sich blitzschnell und behände auf uns stürzte. Morg schaffte es noch im letzten Moment, sich aufzurichten und in eine Kampfhaltung zu begeben, bevor die Schläge auf ihn einprasselten. Ein Wirbelwind aus Fäusten und Fußtritten, die ich einer alten Frau wie ihr niemals zugetraut hätte, ging auf ihn nieder, die er verzweifelt versuchte, abzuwehren. Ich spürte seine Überraschung, nicht nur ob der Geschwindigkeit, sondern auch der Wucht der Schläge. Jeder dritte oder vierte davon durchbrach Morgs Defensive und traf schmerzhaft unseren Körper. Gol’dar ließ ihm kaum eine Atempause, ununterbrochen ging Hieb um Hieb auf ihn nieder. Schon bald spürte ich die einsetzende Ermattung in seinen Armen und Beinen, beobachtete entsetzt, wie die Älteste ohne ein Zeichen der Erschöpfung einfach weitermachte – und ich konnte nur zuschauen. Blut spritze aus Morgs Nase, eine Rippe brach knirschend, sodass ihm kurzzeitig die Luft weg blieb, eine Faust traf meine Schläfe, sodass Sterne vor meinen Augen tanzten – und mit einem Mal stellte sie ihren Ansturm ein.
Morg war auf die Knie gegangen, die Kraft wie ausgesaugt. Keuchend knieten wir vor der bedrohlich auf uns herabschauenden Ältesten, die sich spöttisch die Hände abklopfte.
„Schade, ich hatte mehr erwartet“, höhnte sie gelassen. Nicht ein Schweißtropfen hatte sich auf ihrer Stirn gebildet. Ich war der Panik nahe. Das sah ganz und gar nicht gut aus für uns!
„Warte... mal ab. Ich... habe noch gar... nicht richtig angefangen“, keuchte Morg und hievte sich mühsam in die Höhe, zum Kampf bereit.
Blitzschnell sprang sie auf uns zu und krallte ihre Hand mit eisernem Griff in Morgs Kiefer.
„Aber ich doch auch nicht, du Wurm“, knurrte sie leise. Ihre Stimme hatte sich verändert, klang nun dunkler und verzerrter.
„ARGH!“, brüllte Morg plötzlich aus tiefstem Herzen und hieb ihr mit einem gewaltigen Schlag in die Körpermitte. Ich spürte seinen Zorn, die aufwallende Raserei – und ich versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Wenn es etwas gab, dass Gol’dar aufhalten konnte, dann der Razsh’ek.
Sie schlitterte von der Wucht des Schlags einige Schritte zurück, wobei ihre Füße tiefe Furchen im Schlamm hinterließen, und klappte vornüber zusammen. Morg zögerte keinen Augenblick, sondern stürzte ihr hinterher. Er ließ seinem kochenden Blut und seiner Rage freien Lauf, entwickelte beinahe übernatürliche Kräfte, während er es Gol’dar mit gleicher Münze heimzahlte. Schlag auf Schlag ließ er auf sie niederregnen, ohne dass sie nennenswerte Gegenwehr zustande brachte. Er schmetterte seine gewaltigen Fäuste gnadenlos gegen ihren Schädel, der dumpf hin- und hergeworfen wurde, drosch so lange auf sie ein, bis sie auf dem Boden zusammenbrach und dort wie ein Säugling zusammengerollt liegenblieb. Erst dann, als sie kaum noch eine Regung von sich gab, ließ Morg von ihr ab. Er richtete sich blinzelnd auf, seine Augen rot verschleiert, die gespenstischen Runen dunkle Schatten auf seinem Gesicht.
„Beruhige dich, Bruder“, versuchte ich ihn zurückzuholen. „Du hast es geschafft.“
„Geschafft?“, murmelte er dumpf und schaute auf seine blutverschmierten Hände.
„Ja. Das hast du gut gemacht“, lächelte ich ihn an.
Langsam drehten wir uns zu unserer Gruppe um, die, zunächst zögerlich, dann aber immer euphorischer, zu jubeln begann. Sie reckten die Arme in die Höhe, machten Luftsprünge und johlten. Ich konnte es kaum fassen. War es tatsächlich vorbei? Wir hatten gewonnen?
Wie sehr ich mich doch getäuscht hatte. Zunächst war ich irritiert, dass der Jubel von einem Moment auf den anderen verstarb. Ich blickte noch verwirrt in ungläubige Gesichter, bis Finger auf etwas in meinem Rücken deuteten. Wir drehten uns um und sahen Gol’dar, die gerade dabei war, sich wackelig zu erheben. Ein tiefes, grollendes, zischendes Lachen bahnte sich seinen Weg durch ihre Kehle.
„Ooh. Ha. Ha.“
Sie richtete sich auf und strich ihre Zöpfe nach hintern. Ich traute meinen Augen kaum, doch die unzähligen Wunden und Blessuren auf ihrem Gesicht verheilten in Windeseile. Sie begann, sich zunächst gekrümmt in unsere Richtung zu schleppen, wurde aber zunehmend aufrechter, je näher sie uns kam. Zwei Schritte vor uns blieb sie stehen, ihre Wunden verheilt, ihre Körperhaltung aufrecht. Einen letzten verbleibenden Blutstropfen wischte sie sich aus dem Mundwinkel und leckte ihn sich vom Finger.
„Ist es nicht einfach fabelhaft? Das Geschenk der Hierarchen? Der Razsh’ek, die süße Raserei, die verlockende Rache? Ich sehe es dir an, deine Sinne und Nerven sind bis aufs äußerte gespannt. Du bist ein Jäger, ein Tier.“
„Hör‘ nicht auf sie!“, versuchte ich ihre lockenden Worte zu unterbrechen.
Ihr Blick schnellte in meine Richtung. „Ach ja. Du bist ja auch noch da. Groms Gebrechen. Er hätte echte Größe erreichen können, weißt du? Nur leider bist du da, der ihn ewig zu Boden zieht, ihn wie ein Anker festhält.“ Sie sah tatsächlich enttäuscht aus. „Nun, die Hierarchen haben ihre Lektion gelernt, denke ich.“
Sie haben ihre Lektion-?
„Hör‘ nicht auf sie“, brummte nun Morg. Und ich war ihm dankbar. Ich wusste nicht wie, aber ihre Worte übten eine unglaubliche Anziehungskraft aus.
„Tsk, tsk“, schnalzte sie mit der Zunge. „Wie ich sehe, willst du das Geschenk der Hierarchen nicht annehmen?“
Sie stemmte tadelnd die Hände in die Hüften.
„Ein Jammer. Ich hatte wirklich gehofft, zumindest dich retten zu können“, seufzte sie an Morg gewandt. „Sei’s drum, es gibt noch genug von uns.“
Sie hob die Hände und gestikulierte süffisant grinsend in Richtung der anderen Oger, die im Kreis um uns versammelt waren.
„Nur über...“ – „... unsere Leiche“, knurrten Morg und ich.
„Genau das ist es, wovon ich sprach. Mach‘ dich bereit, Tÿl gegenüberzutreten... Vo’kul“, spie sie abfällig. Ihre ohnehin schon tiefschwarzen Augen verdunkelten sich noch weiter, bis diese nicht mehr einen einzigen Lichtstrahl zu reflektieren schienen.
Irgendjemand rief meinen Namen, doch ich hatte keine Zeit, mich umzusehen.
Gol’dar drehte ihre linke Faust himmelwärts und öffnete sie leicht. Eine purpurne Aura schien ihre Hand zu umgeben.
„Ist das etwa...?“, flüsterte Morg und stolperte zwei Schritte zurück.
„Magie“, flüsterte ich zurück.
„Ihr habt noch nicht einmal angefangen, die Macht der Hierarchen zu begreifen“, dröhnte sie und stürzte sich auf uns.
Morg hatte sich, so gut es ging, bereitgemacht und erwartete sie, bis in die Fingerspitzen voll von Rage. Er landete einen Treffer, zwei Treffer, die krachend in ihren Körper einschlugen, sie aber kaum zu interessieren schienen. Unaufhaltsam setzte sie einen Schritt hinter den anderen, holte mit ihrer linken, unheilvoll schimmernden Hand aus und fand die Lücke in Morgs Deckung.
Wie vom Blitz getroffen warf uns der Treffer von den Füßen. Glühend heißer Schmerz durchdrang unseren ganzen Körper bis zur letzten Faser. Er überstrahlte alle anderen Sinne und lähmte unsere Muskeln. Ich wollte mich nur noch auf dem Boden wälzen und schreien.
Allein dass Morg sich nach wie vor in Raserei befand, verhinderte, dass wir jegliche Kontrolle verloren. Er schrie panisch auf und versuchte, sich auf allen vieren so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Vom dämonischen Lachen Gol’dars begleitet, schleppten wir uns über den matschigen Boden dahin und blieben schließlich zu Tode erschöpft liegen. Ich schaute an uns herab und entdeckte mit Entsetzten einen dunklen, zwischen Schwarz und Purpur pulsierenden Fleck, wo sie uns getroffen hatte. Er war groß, bedeckte beinahe unsere gesamte rechte Brust. Dass er langsam kleiner wurde, machte mir aber kaum Mut. Noch ein oder zwei weitere derartige Treffer und es wäre um uns geschehen!
„Was, bei Tÿl, ist das?“, keuchte Morg zitternd.
„Ich... weiß es nicht. Aber wir brauchen einen Plan!“
Gol’dar war zwischenzeitlich damit beschäftigt, ihrer Gefolgschaft die Überlegenheit der Geschenke unserer Häscher anzupreisen. Sie hielt eine große Rede, wahrscheinlich um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass, sollte sich jemand gegen sie stellen, denjenigen dasselbe Schicksal ereilen würde.
Erneut rief jemand von irgendwo meinen Namen. Eine Stimme, die menschlich zu klingen schien.
„Und hast du einen Plan?“, japste Morg.
„Nein. Wir können... ich meine, darf sie das überhaupt? Es hieß doch keine Waffen!“ Doch ich wusste, dass das ein schwacher Einwand war. Es war zu spät, das Regelwerk zu bemühen.
„Grom!“, rief schließlich erneut die menschliche Stimme. Jemand ließ sich neben uns auf den Boden fallen. Ich schaute mich blinzelnd um und erkannte Zuak.
„Du... hast es geschafft“, lachte ich bitter. „Gerade noch rechtzeitig, um unsere Niederlage mit anzusehen.“
„Was hat so lange gedauert?“, knurrte Morg.
„Es war... egal!“ Er sah sich hastig nach der nach wie vor abgelenkten Ältesten um. „Was wichtig ist: Wir haben es geschafft! Hier!“
Er nahm meine Hand und begann, eine Art Armband daran zu befestigen. Es sah wie eilig geschmiedetes Metall aus, beinahe wie ein Schmuckstück, in dessen Mitte der kleine Edelstein eingefasst war, den er aus Etteln mitgebracht hatte. Er hakte eine letzte Schnalle ein und betrachtete zufrieden sein Werk.
„Und nun?“, wollte ich wissen.
„Nun trägst du einen mobilen Conjurator!“ Er strahlte mich stolz an.
„Doz’Cho!“, hörte ich die düster verzerrte Stimme zu uns dringen. Gol’dar hatte offenbar ihren Vortrag beendet. „Verabschiedest du dich schon von deinem menschlichen Freund?“ Aus ihrer Stimme troff die Verachtung. „Es ist aber gut, dass er hier ist. Er wird ein hervorragendes Opfer sein, der Auftakt zu unserem Beutezug durch dieses Land.“
„Und was... und wie... benutze ich den?“, stammelte ich, während Morg sich mühsam aufrichtete, um Gol’dar ein weiteres, vielleicht letztes Mal entgegenzutreten.
„Ich weiß es nicht! Es ist das gleich Prinzip wie damals bei Lazar im Keller“, rief er hastig, während die Älteste mit großen Schritten auf uns zustürmte. „Aktiviere... irgendwie... dein Talent!“, schrie er und trat eilig zwischen einige Schritte zurück.
Kaum hatte ich ihm einen letzten Blick zugeworfen, spürte ich auch schon Gol’dars kraftvollen Griff an unserer Robe. Sie durchbohrte uns mit ihrem finsteren Blick und brachte ihre linke Hand in Position. Mit einer Mischung aus dämonischem Sadismus und mütterlicher Fürsorge, legte sie die schimmernde Klaue sanft auf unsere entblößte Brust.
Erneut der grelle Schmerz, der augenblicklich unseren gesamten Körper durchfuhr und uns paralysierte. Doch dieses Mal beließ sie es nicht bei einem schnellen Hieb – nein, sie ließ ihre Hand dort ruhen. Ich hielt es nicht für möglich, doch der Schmerz intensivierte sich, weiter und weiter. Aus grell wurde strahlend, wurde gleißend, bis ich nichts mehr wahrnahm. Es fühlte sich an, als triebe der Schmerz die Seele aus meinem Körper; als löste sich mein Innerstes von allem Stofflichen, das meine Existenz ausmachte. Und der Katalysator für dieses Loslösen war der Schmerz – noch nie hatte ich auch nur entfernt etwas Ähnliches erleben müssen.
Das war es!, formulierte ich einen letzten, mühevollen Gedanken. Unsere Reise endet hier.
Ich schlug meine Augen auf und blickte in den klaren, blauen Himmel. War ich tot? Oder träumte ich nur? Hatte ich all das eben tatsächlich erlebt? Meine schmerzenden Nerven, die aufschrien, als ich meine Finger bewegte, bejahten dies. Wie lange lag ich schon hier? Nur Augenblicke oder Tage?
Unter größter Anstrengung rappelte ich mich auf und sah mich um. Alle Gesichter, aus beiden Lagern, starrten mich mit großen Augen an. Einige Schritte entfernt lag Gol’dar im Schlamm, dünne Rauchfäden kräuselten sich von ihrem Körper.
Was war geschehen? Ich schaute zu Morg, der nach wie vor bewusstlos, aber am Leben war. Sein Kopf hing schlaff herab, das Kinn auf der Brust.
Ungläubig starrte ich auf den Ort, an dem die Älteste uns eben festgenagelt hatte. Ein dunkler Krater war zu sehen, vielleicht einen halben Schritt tief, schwarz verkohlt und mit fransigen Rändern. Allmählich dämmerte es mir – ich hatte irgendwie mein Talent aktiviert!
Kurz keimte Hoffnung in mir auf, dass ich Gol’dar somit den Garaus gemacht hatte, doch just in diesem Moment regte sie sich und verfiel in einen Hustenanfall. Mühsam drehte sie sich um, sicherlich genauso verwirrt wie ich.
Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Der schwarze Schatten um ihre Augen war verschwunden, wach blickten mich ihre hellen, blauen Augen an. Sie sah beinahe verletzlich aus, derart bekümmert schaute sie herüber. Doch dieser Moment dauerte nur einen kurzen Augenblick, bevor der Schatten zurückkehrte und sie dämonisch ihre Zähne fletschte. Als hätte ihr etwas neue Energie eingeflößt, sprang sie mit einem Satz auf die Füße und stapfte unbeirrt in unsere Richtung.
„Morg?“, stotterte ich krächzend. Keine Antwort.
Das pupurne Schimmern flammte erneut um ihre Hand auf.
„Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um aufzuwachen!“, flehte ich. Bewusstloses Schweigen.
Das Schimmern, das bisher nur Gol’dars Hand umhüllt hatte, ergriff nun ihren gesamten Arm und breitete sich immer weiter über ihren Körper aus.
„Verdammt nochmal, Morg!“, schrie ich. Sie war noch zehn Schritte entfernt und ich begriff, dass er nicht rechtzeitig zu sich kommen würde.
Aktiviere irgendwie dein Talent, hörte ich Zuaks Stimme in meinem Kopf und ich begriff, dass das meine letzte Chance war. Dieses Mal würde sie nicht mit uns ihr Spiel spielen. Sie erkannte die Gefahr, die von uns ausging. Dieses Mal würde sie auf Nummer sicher gehen. Ihre gesamte Gestalt war nun von einer glimmernden Aura umgeben. Mich fröstelte bei dem Gedanken, wie sich ihre Berührungen nun anfühlen würden.
Hektisch streckte ich ihr meine Hand mit dem Conjurator-Armband entgegen, was sie ihren Schritt kurzzeitig verlangsamen ließ, einen Schimmer der Unsicherheit auf ihrem Gesicht. Doch nichts geschah, keine Flamme kam aus dem Armband hervorgeschossen. Ich schüttelte meinen Arm, sodass es klimperte, versuchte, es irgendwie zu aktivieren. Zwecklos. Auch Gol’dar erkannte meine Unsicherheit und legte erneute Selbstsicherheit an den Tag. Sie war nur noch wenige Schritte entfernt. Panik wallte in mir auf, als ich das kühle Metall betrachtete, das auf meiner Haut ruhte, und es verzweifelt versuchte, es dazu zu bringen, seiner Aufgabe nachzukommen.
Unwillkürlich blieb mein Blick an dem kleinen Edelstein haften, der darin eingefasst war. Es schien, als könne ich unter seine glattgeschliffene Oberfläche sehen können, tief in sein Innerstes hinein. Und dort im Inneren, in der schwärzesten Dunkelheit, flackerte ein dünnes, kleines Licht. Ich bot alle Konzentration auf und starrte noch genauer hin, drang noch tiefer in den Stein ein – nicht nur mit meinen Blicken, sondern auch mit meinem Geist. Es war beinahe wie ein Sog, der mich ergriff, der mich wirbelnd hinabzog. Und dort drinnen, als ich das Gefühl hatte, im Innersten des Steins angekommen zu sein, umschloss mich das kleine Licht wärmend und hütend. Es beruhigte mich, fegte meine Panik hinfort und hinterließ eine seltsame Ruhe in mir.
Ich blinzelte ein Mal, zwei Mal. Gol’dar war noch zwei Schritte entfernt, holte weit mit ihrem Arm zum Schlag aus, ihr Gesicht zu einer Maske aus Zorn und Abscheu verzogen. Sie hatte nichts mehr von der Ältesten an sich, zu der wir einst alle aufblickten; sie war zu einem Ungeheuer geworden.
Vollkommene Ruhe überkam mich. Ich nahm alles um mich herum wahr: Morgs ruhiges Atmen, unsere Zuschauer, das Rauschen des Windes in den Bäumen.
Denn ich wusste, dass ich gewonnen hatte.
Die hell lodernde Flamme, die aus meiner Hand schoss und sich knisternd in den Körper der Ältesten grub, überraschte mich nicht. Die Detonation, die Gol’dar brutal fortschleuderte, ihre Haut zerfetzte und Knochen pulverisierte, hatte ich genau so gewollt.
Für einen Moment herrschte Totenstille auf dem Platz, während sich die Überraschung bei allen Anwesenden nur langsam durchsetzte. Dann brachen sie unvermittelt in Jubel aus, fielen sich gegenseitig um den Hals.
Vo’kul! Vo’kul! Vo’kul!, hörte ich sie skandieren, als ich mich zu Tode erschöpft hintenüber kippen ließ und die Augen schloss.