Das Klingen von Stahl auf Stahl drang an meine Ohren, schmerzvolle Schreie und hasserfüllte Rufe mischten sich darunter. Ich atmete heiße, stickige Luft ein, die mit dem Geruch von Blut und etwas anderem, dämonischen durchsetzt war.
Ich sah meine Hand, die sich immer noch tief in den pergamentartigen Hals der Königin gegraben hatte – des Wesens, das noch bis vor einigen Augenblicken in der Blüte seiner Jugend gestanden hatte, mit straffer, grünlicher Haut und langen, schwarzen Haaren. Nun war sie wieder das mumifizierte Ding geworden, das eingefallen und verrottet aussah, bis auf seine goldenen, flammenden Augen. Nur allmählich, als erwache sie aus einem Traum, nahm sie mich wahr.
Auf ihrem Gesicht spulte sich in kürzester Zeit eine Reihe an Emotionen ab: Verwirrung, Erkenntnis, Erleichterung, Zorn. Und etwas, das wie ehrlicher Verlust aussah, ich aber nicht richtig verstand.
„Raaar!“, brüllte jemand neben mir und mein Körper machte einen Satz. Ich verpasste der Königin einen brutalen Hieb mit der Rückseite meines Hammers. Gleichzeitig spürte ich auch ihre Faust in meinen Körper einschlagen. Wir wurden auseinander geschleudert, der Treffer beförderte mich einige Schritt weit zurück.
„Verdammtes Miststück“, keuchte jemand.
Unwillkürlich fuhr meine Hand an die Schulter... und fand dort einen Kopf vor! Morg war wieder da, wo er hingehörte! Ich ertastete seine dicken Lippen, aus denen lange Eckzähne hervortraten, fand sein Auge und das dicke Horn, das seiner Stirn entwuchs.
„Was zum...?“, fluchte er. „Lass das!“
„Bruder, du bist zurück!“, lachte ich. „Es tut so gut, dich wiederzusehen!“
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Sie hatte mich, ich geb’s zu – für einen einzigen, kurzen Moment! Mach kein Drama draus!“
Ich schaute mich hastig um. Er hatte recht! Die Schlacht war genau dort, wo die Königin und ich sie... verlassen hatten, um in dieses seltsame Land zu reisen. Hier Generalin Dahla, die sich mit ihren Truppen kaum gegen die Oger und ihre Kettenhunde behaupten konnte, dort die Lintbrut, die sich dem gähnende Schlund des Wurm zugewandt hatte und den ersten Keszz entgegentrat, die daraus hervorkrabbelten.
Ein Bild aus der anderen Welt fuhr wie ein Blitz in meinen Kopf. Mein Vater, oder eher die Erinnerungen an ihn. ‚Du bist ein Schamane.‘
„Morg, hast du sie im Griff? Ernsthaft im Griff?“, rief ich gegen den Lärm an.
„Ehrlich gesagt? Eine Zeitlang vielleicht. Aber sie ist schnell. Ob ich gegen sie gewinne? Ich habe meine Zweifel.“
„Eine Zeitlang reicht. Ich muss mich um etwas kümmern. Aber wenn das klappt, haben wir eine Chance, verstanden?“
Die Königin hatte sich aufgerichtet und offenbar eine Entscheidung gefällt. Sie strebte entschlossen auf uns zu... und es sah nicht danach aus, als wollte sie reden.
„Verstanden! Beeil‘ dich!“
„Das werde ich. Viel Glück, Bruder!“
„Und dir“, rief er, hob den Hammer zum Schlag und stürzte sich auf sie.
Ich zog mich zurück. Tief. Als begäbe ich mich auf die Suche in einem Haus. Wenn ich durch das Fenster hinausschaute, sah ich Morg in einem erbitterten Kampf mit dem Wesen, das einst Mandji gewesen war. Es sah aus, als hielte er ihrem Ansturm stand, landete sogar hin und wieder einen Treffer, der aber kaum etwas anzurichten schien. Das Problem war, dass sie schier unerschöpfliche Kraftreserven zu besitzen schien, was Morg nicht von sich behaupten konnte. Er kämpfte jenseits seiner Grenzen, zapfte alle Reserven an, die er hatte, ohne etwas aufzusparen – und doch reichte das lediglich, um sich nicht zurückdrängen zu lassen. Sie war übermächtig, so viel stand fest.
Die Zeit drängte! Eilig wandte ich mich von dem Fenster ab und konzentrierte mich auf meine Aufgabe: Irgendwo hier drin, in diesem Haus, das Morgs und mein Körper und Geist war, musste das Geheimnis meines Vermächtnisses liegen. Der Schlüssel zu einer Geheimkammer, wenn man so wollte.
Ich hastete von Zimmer zu Zimmer, klopfte Wände ab, verrückte Möbel, schaute hinter Bilder und unter Teppiche. Dabei ignorierte ich so gut es ging die Gefühle, die an all diesen Dingen hafteten. Jeder Gegenstand in diesem Haus stand für etwas: Eine glückliche Erinnerung, ein Trauma, eine Erfahrung. Ich durfte mich nicht ablenken lassen, was mir schwerer fiel als gedacht.
Ein Beben erschütterte das Haus. Ich ließ einen schnellen Blick aus dem Fenster zu und sah Morg, der gerade zu Boden geworfen worden war. Er rappelte sich gerade noch rechtzeitig auf, um einen erneuten Hieb der Königin zu parieren.
Weiter!
Achtlos warf ich Dinge von Tischen und Möbel zur Seite. Ob ich dadurch langfristigen Schaden anrichtete? Egal, diese Kreatur da draußen würde noch viel mehr Schaden anrichten, wenn ich nicht erfolgreich war.
Ich befand mich im letzten Zimmer, blickte auf das Chaos, das ich veranstaltet hatte. Doch kein Hinweis auf ein offensichtliches Geheimnis! Panik wallte in mir auf. Ich hatte Derartiges befürchtet, dass es nicht so leicht werden würde... und doch hatte ich es gehofft. Schweiß brach mir aus, mein Atem ging schnell und hektisch. Irgendetwas musste ich übersehen haben.
Meine Augen zuckten unruhig hin und her, übergingen dabei so gut es ging die Fenster und was sich dahinter abspielte.
„Komm schon!“, flüsterte ich. „Es ist hier! Irgendwo hier! Du musst es bloß-!“
Plötzlich erstarrte ich. Etwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt, ohne dass ich genau benennen konnte, was es war.
„Natürlich!“, flüsterte ich. Wenn ich mich durch die Einrichtung wühlte, durchsuchte ich Erinnerungen und Gefühle, die ich selbst gemacht hatte. Doch mein Erbe, die schamanistischen Fähigkeiten meiner Urahnen, waren tief in meiner Essenz verwurzelt. Es war kein Schlüssel, den ich suchte!
Irgendwo zersplitterte ein Fenster, das Haus ächzte. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Hastig lief ich zum Ausgangspunkt zurück, wo ich das Haus betreten hatte. Mühsam zwang ich mich zur Ruhe, schloss die Augen, blendete den bedrohlichen Lärm aus, der von außen hereindrang. Meine Sinne tasteten sich vor und nahmen Verbindung zu dem Haus auf. Das Holz, ölig-erdiger Geruch, der Stein, warm und fest. Mit geschlossenen Augen tat ich einen Schritt vor. Dann einen weiteren. Und noch einen. Ich ließ mich leiten von meinem Instinkt, meinen Sinnen und dem Haus. Es leitete mich und ich gab mich hin, schaltete alle Gedanken aus. Die Geräusche um mich herum verstummten und ich spürte völlige Dunkelheit mich einhüllen.
Irgendwann stellte ich überrascht fest, dass ich stehengeblieben war. War ich am Ziel angekommen? Behutsam öffnete ich meine Augen, doch sie fingen nicht einen einzigen Lichtstrahl ein. Vollständige, dumpfe Stille umfing mich. Doch ich fühlte mich nicht unwohl, hatte keine Angst – im Gegenteil: Ich fühlte mich geborgen.
Etwas geschah. Ein winzig kleiner Glimmer entstand in der Dunkelheit. Zunächst dachte ich an eine Täuschung, an eine dieser kleinen Funken, die manches Mal vor den Augen tanzen. Doch dies hier war echt. Der Glimmer wuchs an, wurde stärker und schließlich zu einem Licht. Ich fühlte mich an den Funken erinnert, den ich im Kampf mit Gol’dar in dem Edelstein gesehen hatte.
Vor mir tauchten vier Säulen aus der Dunkelheit auf, in die jeweils ein Symbol geritzt war. Ich brauchte kaum einen Augenblick, um zu verstehen: Dies waren die vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde und Luft.
Weitere Glimmer entstanden, jenseits der Säulen. Dutzende, Hunderte! Sie wuchsen zu Lichtern heran, zu Leuchtfeuern in der Schwärze. Es waren Gesichter, erkannte ich; Gesichter von Ogern. Hier vorne mein Vater, irgendwo dahinter mein Großvater, so vermutete ich, und – dort! – Tÿl Höchstselbst. Sie erstreckten sich wie ein Meer aus Kerzen in die Ferne, in der Dunkelheit schwebende Gesichter, Generation um Generation meiner Vorfahren.
Die Säulen vor mir erwachten mit einem Mal zum Leben. Sand rieselte, Wasser sprudelte, Wind wehte und Feuer loderte. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Mein Vater lächelte mich ermutigend an, und ich lächelte zurück. Bedächtig streckte ich die Hand nach den Säulen aus...
Mit einem Ruck wurde ich in meinen Körper zurückgeschleudert.
„... alles, was du... hast?“, hörte ich Morg, völlig außer Atem und am Ende seiner Kräfte.
Ich fand mich auf dem Boden wieder, Mandji über uns. Sie hatte mit beiden Händen einen langen, verzierten Dolch umklammert und versuchte, ihn uns in die Brust zu treiben. Morg hatte ihre Handgelenke umklammert und kämpfte dagegen an – und er war dabei, den Kampf zu verlieren. Fingerbreit um Fingerbreit kroch die Spitze näher an unseren Hals heran.
„Scheiße!“, entfuhr es mir.
„Schön, dass du dich auch mal... beteiligst!“, keuchte er.
Mandji drehte sich ruhig zu mir um.
„Gekommen, um den letzten Augenblicken beizuwohnen?“ Ihre Stimme war entspannt, nicht einmal beschleunigte Atmung schien sie zu plagen.
„Ja“, sagte ich und mobilisierte meine Kräfte. Ich spürte, wie sich neue Türen in meinem Inneren öffneten. Türen, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie da waren. Feuer, Erde, Wasser, Luft! Sie waren alle da!
„Und zwar den deinen.“
Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie irritiert oder belustigt schauen sollte, doch die Ablenkung genügte. Sie ließ etwas nach, was es Morg ermöglichte, sie weiter von uns weg zu drücken. In dem Moment griff ich nach Erde.
Meine Faust verwandelte sich zu solidem Fels. Ich holte blitzschnell aus, viel schneller, als Mandji ihre Verwunderung überwinden und eine Verteidigung zustande bringen konnte. Ein Donnerschlag quittierte meinen Treffer, der sie im hohen Bogen von uns fortschleuderte. Sie prallte in einem wirren Haufen aus Gliedmaßen auf dem Boden auf.
Ich schaute zu Morg. Morg schaute zu mir; mit riesengroßen Augen.
„Wa-?“
„Keine Zeit für Erklärungen. Bist du in Ordnung?“
„Ja doch, alles nur Kratzer.“
Wir rappelten uns mühsam auf. Aus allen Ecken unseres Körpers bekam ich Schmerzsignale zugesendet. Wir bluteten aus unzähligen Wunden und Schnitten.
„Verdammt, was hat sie mit dir gemacht?“, fragte ich.
Doch Morg antwortete nicht, nickte nur in Mandjis Richtung. Sie hatte sich ebenso erhoben und klopfte sich theatralisch Staub von der Kleidung. Mit einem anerkennenden Lächeln und ausladenden Hüften schlenderte sie anschließend auf uns zu.
„Was war das denn bitte?“
„Oh, keine Sorge. Da ist noch viel mehr, wo das herkommt“, erwiderte ich. Ich rief nach Luft und ein chaotischer Wirbelwind entstand um meine Hand, strich durch meine Finger, liebkoste meine Handfläche.
„Ist das so?“, grinste sie. „Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich mitspiele.“
Sie tat es mir gleich, streckte ihre Hand seitlich aus und beschwor eine unheilvolle, purpurne Aura darum.
„Das kenne ich doch!“, jammerte Morg.
„Du hast recht. Gol’dar beherrschte einen ähnlichen Trick.“
Mandji hatte keine Geduld mehr für Konversation und stürzte sich auf uns. Morg und ich teilten die Zuständigkeiten intuitiv auf: Er führte den Streithammer mit links, ich beschwor die Elemente mit rechts. Ich ließ meine Hand vorschnellen und schickte den Luftwirbel auf Mandji. Er nahm rapide an Fahrt und Größe auf und traf sie wie eine solide Wand. Sie schaffte es, durchzubrechen, taumelte aber einen Moment benommen. Das war alle Zeit, die Morg brauchte. Er holte aus und schmetterte den Hammer brutal auf ihren Kopf. Es knirschte laut, doch Morg ließ nicht ab, verpasste ihr noch zwei weitere Treffer, bevor sie unter seinem Schlag wegtauchen konnte.
Die Überraschung, derart in Bedrängnis geraten zu sein, war ihr anzusehen. An ihrem Kopf hing ein großer Hautlappen herunter, ohne dass ein Blutstropfen hervorquoll. Doch sie ließ sich nicht beirren und ging erneut zum Angriff über.
Sie nahm zwei kurze Schritte Anlauf und katapultierte sich, von einem violetten Blitz angetrieben, in die Luft. Noch im Flug flammte die Klinge ihres Dolchs dunkel auf, als hätte sie jemand mit Feuer aus reinem Schatten entfacht. Hektisch griff ich nach dem erstbesten Element, Wasser, und beschwor einen hastig geformten Schild aus Eis. Es blieb uns gerade noch genug Zeit, uns für den Zusammenstoß zu wappnen. Sie brachte ihr gesamtes Gewicht auf meinen Schild, der nicht standhielt und in einer Art eisigen Wolke zerbarst. Sie brachte ihren Dolch nach vorn und trieb ihn in meine Schulter. Dämonischer Schmerz explodierte vor meinen Augen, beinahe wie ein unheilvolles Wesen, das in mich eindrang und mich von innen zerfraß. Meine Sinne liefen voll davon, er überstrahlte alles, paralysierte mich vollständig.
Ich kam erst wieder zu mir, als Morg den Dolch aus dem Fleisch zog und ihn weit fortschleuderte. Mandji hatte offenbar erneut einen Treffer abbekommen. Sie war überzogen mit feinen, schimmernden Eiskristallen. Ihre Bewegungen waren behäbig und schwerfällig.
„Alles in Ordnung mit dir?“, rief Morg, der sich schnaufend auf seinem Hammer abstützte.
„J-ja.“ Ich musste Luft holen. „Was für eine Scheiße war das?“
„Ich weiß es nicht, aber wir müssen uns beeilen!“ Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf das, was um uns herum geschah.
Dahla und ihre Leute wurden allmählich zurückgedrängt und von weiteren Ogern, eingekesselt, die die Königin wahrscheinlich aus den Zellen geholt hatte. Auf der anderen Seite waren die aus dem Schlund des Wurms auftauchenden Drohnen zu einem konstanten Strom herangewachsen. Die Lintbrut stemmte sich mit aller Kraft dagegen, doch auch sie verlor an Boden.
Ich nickte ihm zu und griff nach Feuer. Meine Faust ging in Flammen auf. Mandji fletschte die Zähne und ließ sich auf alle viere sinken, wie ein Raubtier. Der Raureif auf ihr war verschwunden, sie war wieder ihr agiles, blitzschnelles Selbst. Ich schleuderte ihr den Feuerstoß entgegen, doch sie wich derart schnell aus, dass ihre Konturen zu verschwimmen schienen.
Dann griff sie an. Ihr gesamter Körper leuchtete violett auf. Morg holte mit dem Hammer aus, doch Mandji tauchte geschickt darunter hinweg. Er verfehlte und sie verpasste uns einen Treffer am Bein mit ihren dämonisch aufgeladenen Klauen. Brennender, lähmender Schmerz flammte auf, lähmte Muskeln, strahlte wie eine gnadenlose Sonne in der Wüste.
„Weiter!“, keuchte ich und schleuderte ihr eine spitze Lanze aus solidem Eis hinterher. Auch ihr wich sie mit schwer zu ertragender Wendigkeit aus. Wich aus und kam erneut auf uns zu. Ich schaffte es nicht mehr rechtzeitig, den Wind zu rufen. Erneut durchbrach sie unsere Verteidigung: Ein weiterer Treffer, noch schrillerer Schmerz als der vorherige. Er trieb uns in die Knie, ließ meine Sicht verschwimmen.
„Kann... nicht...“, stöhnte Morg.
Sie kam erneut herum. Gnadenlos, zu keinem Schauspiel mehr in der Stimmung. Ein weiterer Treffer im Rücken. Schmerzen flammten auf, wie der Brandherd eines Lauffeuers. Ein erneuter Treffer, in die Brust. Ich sah nichts mehr, mein Blick nur noch verschwommen. Wann immer ich dachte, der Schmerz könnte nicht schlimmer werden, lehrte mich der nächste Treffer eines Besseren. Mit jedem von ihnen saugte sie uns ein weiteres Quäntchen Lebenskraft ab.
„Grom... ich...“, seufzte Morg.
„Halt durch! Wir... müssen...“
Treffer. Schmerz. Drohende Bewusstlosigkeit.
All das hier ist umsonst gewesen, wenn du in der wirklichen Welt nicht mit deinem Bruder zusammenarbeitest. Die Worte meines Vaters hallten durch die Dunkelheit meines Verstandes, wie ein Echo in der Nacht. Warum erinnerte ich mich ausgerechnet an diese Worte?
Treffer. Helle Punkte hinter meinen geschlossenen Lidern. Ermattung.
Ihr müsst eins werden. Reißt die Mauer zwischen euch ein!
Die Mauer!
„Morg“, hustete ich. „Morg!“
„Was?“ Ich konnte ihn kaum hören.
„Du musst... es in den Razsh’ek schaffen.“
„Aber... dann hat sie... die Macht... über mich...“
„Lass‘ das meine... Sorge sein... Ist unsere einzige Chance.“ Ein Hustenanfall überkam mich. Aus meinem Mund ergoss sich ein Schwall dicker, warmer Flüssigkeit. Blut?
„Morg?“
„Ja, doch. Sind sowieso erledigt... Versuch ist es Wert.“
Er hatte Schwierigkeiten, das spürte ich. Nur zaghaft übernahm er die Kontrolle, verdrängte mich Stück für Stück in die äußersten Ecken meiner Körperhälfte – und schließlich auch von dort. Ununterbrochen murmelte er etwas, seine Stimme nicht von dieser Welt. Sie wurde schnell lauter, vom Flüstern zum Rufen.
„Hallo“, hörte ich die Königin undeutlich. „Da bist du ja wieder. Nur zu spät, befürchte ich.“
Sie konnte recht haben. Der Blutrausch setzte keine übernatürlichen Kräfte frei, er mobilisierte lediglich alle zur Verfügung stehenden Reserven und schaltete das Schmerzempfinden aus. Waren diese Reserven leer, gab es auch nichts zu mobilisieren – und sie waren bereits kurz davor.
Ich spürte, wie Mandji in Morgs Verstand eindrang, sie ihre übernatürlichen Finger danach ausstreckte. Er schaffte es noch, sich mit einem Schrei des Schmerzes und der Frustration aufzurichten, bevor er in der Bewegung erstarrte. Sie hatte ihn.
„Ich muss sagen“, sagte sie, „einen Moment lang hatte ich wirklich das Gefühl, ihr beiden könntet mir gefährlich werden.“
Ich wandte meine Aufmerksamkeit nach innen, tastete die solide Mauer entlang, die Morg von mir trennte.
Halte sie noch einen Moment lang hin, Bruder!
Wie ein unüberwindbares Bollwerk erstreckte sich der Wall in alle Richtungen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und konnte noch nicht einmal das Ende erkennen.
Dies ist auch nichts anderes als das Haus, in dem du die Elemente entdeckt hast, sagte ich mir. Der Schlüssel zur Lösung liegt in mir selbst – in uns.
Ich platzierte meine Hände auf dem Mauerwerk, fühlte die groben Fugen entlang, die sich heiß anfühlten. Behutsam strich ich darüber und begriff, dass auch diese Mauer ein Teil von uns ist; kein Fremdkörper. Mit einem Mal wusste ich, was zu tun war.
Ich rief alle meine Kräfte gleichzeitig auf. Jedes einzelne der vier Elemente manifestierte sich zur selben Zeit um meine Hände. Sie reagierten aufeinander: Feuer und Wasser wurde zu Dampf, Luft und Erde zu Staub, Feuer und Luft zu einem Feuersturm, Wasser und Erde bildeten groteskeste Formen. Und sie begannen, in das Mauerwerk hineinzufließen, es zu imprägnieren, zu füttern. Wie ein Schwamm sogen die Steine und Fugen meine magische Energie auf. Sie wurden gierig, wollten mehr und mehr – und ich gab! Schneller und schneller flossen meine Kräfte hinein, die freiwerdenden Energien ließen die Luft knistern und beben. Ich bekam Zweifel, ob ich genug Energie hatte, um diesen Wettlauf zu gewinnen: Würde die Mauer als erstes ihren Durst gestillt haben oder ich ausgelaugt zu Boden stürzen? Funken stieben in die Höhe, Blitze zuckten und Erdbeben grollten. Ich befand mich in einem wütenden Sturm der Elemente.
Mit einem lauten Knall sprang ein Mauerstein in zwei. Kurz darauf noch einer.
Es funktionierte!
Ich spürte die Mauer nachgeben. Die Risse pflanzten sich fort, eilten schneller und schneller in alle Richtungen davon.
Durchhalten! Morg, wir schaffen es!
Mit einem letzten, gewaltigen Knall durchfuhr ein tosendes Beben das gesamte Bauwerk. Meine Kräfte verstummten urplötzlich, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Ein Geräusch wie eine Gerölllawine drang von überall an meine Ohren. Die Mauer stürzte ein! Sie kippte von oben beginnend hintenüber, die Instabilität pflanzte sich wie eine brechende Welle über die gesamte Länge aus. Die Mauer fiel und dahinter-
„Nun, auch ich überrasche mich doch auch immer wieder selbst.“ Mandji zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer. Es war lustig, doch nun habe ich eine Welt zu erobern.“
Die dämonische Flamme tauchte ihre Hand erneut in unheilvolles Leuchten. Sie machte sich bereit, ihre Klaue in unsere Brust zu rammen. Es zu beenden.
Die Mauer fiel. Morg und ich strömten in unseren Körper wie ein aufgestauter Fluss in einen leeren Stausee. Unsicherheit flackerte in Mandjis Augen auf. Sie spürte, dass ihr die Kontrolle über Morg entrissen wurde, und konnte dieses Gefühl nicht einordnen. Doch sie begriff, dass davon Gefahr ausging. Sie holte aus.
Ich hatte keine Zeit, mir über die gefallene Schranke zwischen Morg und mir Gedanken zu machen oder sie zu analysieren. Wir hatten nur einen Augenblick, bevor die Königin ihr Ziel erreicht haben würde. Alles, was ich begriff, war, dass wir beide zusammen eine Einheit bildeten; dass wir beide zur selben Zeit unseren Körper kontrollierten; dass wir eine Symbiose bildeten und in einer Geschwindigkeit kommunizierten, die Konsens hervorbrachte, noch bevor überhaupt die Frage gestellt wurde.
Mandjis Klaue erreichte uns – und prallte mit einem lauten Knirschen an uns ab. Ich schaute herab: Unsere Haut war zu solidem Stein geworden, in den sie noch nicht einmal eine Kerbe zu schlagen vermocht hatte. Wir beide grinsten.
„Was passiert hier?“, stöhnte sie, und stolperte einen Schritt zurück, ihre Hand schützend umklammert. Unverständnis, Überraschung und Panik stand in ihr Gesicht geschrieben.
Ohne eine Antwort abzuwarten, wechselte unsere Haut von Stein zu einer flammenden Hülle. Wie ein knisternder, lebender Feuerball warfen wir uns auf sie. Morgs Raserei durchströmte uns und gab uns übernatürliche Reflexe, ich ergänzte sie mit Elementarzaubern. Meine flammende Faust explodierte an Mandjis Kopf, kurz darauf stieß Morgs Arm, der zu einer spitzen Eislanze geworden war, mitten durch ihre Brust. Ich beschwor gleichzeitig einen orkanartigen Fallwind, der Mandji zu Boden drückte. Hilflos zappelnd wie ein aufgespießter Fisch versuchte sie, eine Gegenwehr zustande zu bringen, doch Morg ließ seinen Fuß auf sie niedergehen. Er bildete erdene Wurzeln aus und verankerte sich im Boden. Die Königin war an den Grund gepinnt.
Sie starrte uns aus großen Augen an, ihr Mund formte stumme Worte, wahrscheinlich bettelte sie um Mitleid. Einen Moment verharrte ich, war unsicher, was nun zu tun war. So weit hatte ich nicht geplant!
Doch Morg nahm mir die Entscheidung ab. Die Eislanze, die immer noch in ihrem Körper steckte, verformte sich und bildete einen Hohlraum aus, wie eine Nadel. Kurz darauf schoss ein Strom aus beinahe flüssig anmutendem Feuer, das aussah wie Lava, hindurch und in Mandjis Körper hinein. Ihre Augen wurden noch größer, als der pyroklastische Strom sie von innen ausfüllte. Ihre Jahrtausende alte Haut fing Feuer, ihr Gewebe schmolz. Sie hielt unserem Blick stand, gab keinen Laut von sich, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Die goldenen Augen warfen uns einen letzten, trotzigen Blick zu, bevor sie jäh verdampften und kochend heiße Flüssigkeit aus den Augenhöhlen hervorquoll.
Nur langsam dämmerte in mir die Gewissheit: Die Königin der Keszz, die einst von Mandji vom Volke der Bayunn Besitz ergriffen hatte, war nicht mehr.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch in das Antlitz der einstigen Herrscherin über die Keszz und den Schrecken von Welten starrte. Jeden Augenblick rechnete ich damit, dass sie erneut zum Leben erwachte und auf Morg und mich losging, eine neuerliche Steigerung ihrer Grausamkeit aus dem Ärmel zaubernd.
Doch nichts geschah! Die lavaartige Flüssigkeit kühlte ab und härtete aus, rahmte Mandjis Gesicht und ihren gesamten Körper ein wie eine Skulptur, die zur Ewigkeit erstarrt war.
Erst als mich jemand heftig am Arm schüttelte, erwachte ich aus meiner Hypnose. Blinzelnd schaute ich mich um: Der Schlachtenlärm, das Klingen von Waffen und die Todesschreie waren Jubel und Triumph gewichen. Die Menschen lagen sich in den Armen und reckten johlend ihre Waffen in die Höhe. Die Oger, die bis vor kurzem noch im Griff der Königin gewesen waren, standen hilflos und verloren herum, hatten die Waffen fallengelassen, saßen mit in die Hände vergrabenen Köpfen dort. Der Anblick versetzt mir einen Stich: Mein Volk – wie einsam und verloren es sich in diesem Moment fühlen musste!
„Wir haben es geschafft“, murmelte Morg, der es offenbar genauso wenig fassen konnte wie ich.
„Wir haben es geschafft“, sagte ich zeitgleich. Ich schaute ihn an und wir mussten beide lachen. Dieses neue, eigenartige Gefühl, nicht mehr zwei Seelen in einem Körper, sondern verschmolzen zu sein; zwei Seiten derselben Seele – daran mussten wir uns beide erst einmal gewöhnen.
Ich spürte erneut den Griff an meinem Arm und entdeckte Hidda, die sich mit einem Arm auf Mina abstützte. Freudestrahlend schaute sie zu mir auf, trotz einer hässlichen Verletzung, die ihre ehemals weiße Bluse unter der Lederweste dunkelrot verfärbt hatte.
„Du lebst!“, hauchte ich und ließ mich auf den Boden fallen. Ich wollte sie fest in die Arme schließen, doch ihre Wunde sah ernst aus. Behutsam fuhr ich darüber.
„Ist nichts Ernstes“, beschwichtigte sie, doch ihr schmerzerfülltes Gesicht strafte sie Lügen. Ich sah Mina wortlos aus dem Augenwinkel den Kopf schütteln. Mühsam löste sie sich von ihr und fiel in meine Arme.
„Vorsichtig“, flüsterte ich.
„Heute Morgen... da war ich mir nicht sicher, ob der Tag mit diesem Moment enden würde“, flüsterte sie in mein Ohr.
Sie umfasste mein Gesicht mit ihren Händen und schaute mir tief in die Augen. Ohne etwas zu sagen, gab sie mir einen langen, leidenschaftlichen Kuss. Ich gab mich dem Moment hin, ließ mich in ihre Zuneigung fallen und nahm sie mit allen Sinnen so wahr, als hätten wir nicht diese letzte, unendlich weit weg scheinende Nacht miteinander verbracht: Ihr süßer Geruch nach Erde und Beeren, die weichen Lippen, ihr warmer Atem, der über mein Gesicht strich.
„Ist ja widerlich“, hörte ich Hiskams Stimme, durch die ich das Grinsen schon hören konnte.
„Könnte schlimmer sein“, antwortete Morg.
Ich löste mich von Hidda, trank noch einmal von ihren grün funkelnden Augen, die trotz ihrer Schmerzen hellwach waren, und schaute dann auf.
Mina, Isengrim, Hiskam und Yosanna standen im Halbkreis um uns herum, hinter ihnen war der Boden übersät mit toten Keszz. Der Schlund des Wurms hatte aufgehört, seine tödliche Ladung in den Raum zu ergießen.
„Haben einfach aufgehört, sich zu wehren“, stellte Yosanna fest.
„Wir haben gesiegt!“, schrie Hiskam plötzlich, was uns alle zusammenzucken ließ.
„Scheiße, ja!“, schrie Yosanna zurück.
Als hätte sich die Erkenntnis erst in diesem Moment Bahn gebrochen, fielen wir uns gegenseitig um den Hals. Die Anspannung machte langsam dem Bewusstsein platz, überlebt zu haben. Erleichtert zeigten wir uns gegenseitig unsere Wunden und beteuerten übermütig deren Bedeutungslosigkeit. Obwohl einige von uns arg mitgenommen aussahen, würden wir alle leben.
„Wir sollten uns um die anderen kümmern“, sagte Morg irgendwann und deutete auf die Oger, die immer noch verwirrt im Raum umherwanderten.
„Du hast recht. Wir sehen uns später?“, warf ich Hidda noch eine Frage zu, bevor ich sie wieder in Minas Obhut übergab und wir uns zum Gehen wandten. Sie nickte eifrig und warf mir noch einen schnellen Luftkuss zu. Sie wurde von Yosanna mit einem überdrehten ‚Wohooo!‘ empfangen, die ihr grinsend etwas ins Ohr flüsterte. Ich sah ihre Wangen in purpurne Röte aufgehen.
„Da ist Un’ro“, lenkte Morg meine Aufmerksamkeit auf unseren Leutnant, der sich zwar aus seiner Bewusstlosigkeit aufgerappelt hatte, aber immer noch auf dem Boden saß und wie ein kleines Kind die Arme um die Beine geschlungen hatte.
„Zanntoi!“, sagte ich und ließ mich neben ihm auf die Knie sinken. Meine geschundenen Knochen protestierten lautstark, doch ich versuchte, es zu ignorieren. Er reagierte nicht.
„Un’ro?“, versuchte Morg es und rüttelte ihn sanft an der Schulter. Sein Kopf fuhr schlagartig herum.
„Mo-? Gro-?“, stammelte er.
„Ja, wir sind’s.“
Er brauchte einen Moment, bevor sich seine Mine aufhellte und er uns schwach anlächelte. „Was ist geschehen? Ich... fühle mich, als hätte ich in einem Bottich Wurzelbrand geschlafen.“ Er ließ fahrig seinen Blick schweifen. „Wo sind wir hier?“
Er versuchte, sich aufzurappeln, doch ich drückte ihn sanft zu Boden. „Ganz ruhig, Freund. Keine Eile. Wir haben es geschafft. Die Königin, die Keszz... sie sind nicht mehr!“ Er starrte mich regungslos an. „Weißt du denn überhaupt nichts mehr? Wir sind frei!“
„Doch... nein!... ich weiß nicht. Es ist alles wie ein fiebriger Traum. Bruchstücke und vage Eindrücke.“ Er seufzte frustriert. „Aber wir haben es geschafft? Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist die Schlacht auf diesem Feld und die nicht enden wollende Flut an Drohnen. Und dann... diese Stimme in meinem Kopf. Süß wie Honig, finster wie die Nacht. Sie befahl mir-! Tÿl!“ Er sog scharf Luft ein. „Ich... ich habe... meine Axt erhoben und sie dem Menschen an meiner Seite auf den Kopf...“ Seine Stimme versagte, als die Erinnerung über ihn hereinbrach.
„Es ist in Ordnung“, versuchte Morg ihn zu beschwichtigen. „Das war die Kontrolle der Königin. Nicht deine Schuld. Sie hat uns in eine Falle gelockt, uns alle.“
„Und du sagst, sie ist jetzt...?“
Wir nickten gleichzeitig. „Tot.“ – „Matsche.“
Er spiegelte unser Nicken. Zuerst unsicher, dann zunehmend entschlossener. Ich hielt ihm eine Hand hin, die er dankbar ergriff. Mit einem unendlich erschöpften und in die Länge gezogenen Seufzer hievte er sich daran in die Höhe.
„Wir müssen die anderen einsammeln“, erklärte ich. „Jeder, der nicht hier ist, müsste in den Zellen stecken. Und wir sollten uns um die Toten kümmern. Kannst du das übernehmen?“
Die Aufgabe schien ihm neue Energie zu verleihen. „Ihr könnt euch auf mich verlassen.“
Morg klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und schickte ihn an die Arbeit.
„Er wird Zeit brauchen“, murmelte er.
„Sie alle“, ergänzte ich.
„Wir alle.“
„Wie recht du hast.“
Ein hohes Quieken gefolgt von hämischem Gelächter ließ mich aufhorchen. Ich entdeckte eine Menschentraube, die sich um etwas scharrte, das auf dem Boden lag, ich aber nicht erkennen konnte. Etwas daran kam mir seltsam vertraut vor.
Wir gesellten uns dazu und schauten neugierig über die Schultern der Menschen.
„Natürlich“, murmelte ich. Das Quieken, das mir so bekannt vorkam, entstammte Zuaks Kehle, der sich unter einem Hagel von Fußtritten auf dem Boden wand. Seine Robe war zerrissen, entblößte mehr als sie verdeckte. Sein dünner Körper, an dem sich die Rippen abzeichneten, war übersät von blutigen Wunden und bunten Hämatomen.
„Oh, hallo ihr beiden. Auch gekommen, um ein bisschen Spaß mit dem Verräter zu haben?“, fragte einer der Soldaten.
Ich schaute dem Treiben zu, hatte mir diesen Moment ausgemalt, wie Zuak in all seiner Niedertracht seine gerechte Strafe empfing. Doch überraschenderweise ließ es mich kalt. Ich verspürte keinen Zorn, nur Gleichgültigkeit. Der Mann war dem Tode geweiht, so oder so.
„Nein, ich hatte genug Spaß für heute. Macht ihr mal“, antwortete ich, was Morg einen enttäuschten Seufzer entlockte.
„Wie ihr meint“, sagte der Soldat und begann, sich durch die Reihen zu drängen. „Lasst mich auch mal!“
Gerade als ich mich abwenden wollte, tönte Zuaks Stimme mühevoll durch den Lärm der Misshandlungen. „Grom, bist du es? Grom!“
„Antworte nicht“, riet Morg eindringlich. „Aus seinem Mund kommen nur Gift und Lügen.“
„Morg! Ihr seid es – ugh.“
„Was redest du für einen unverständlichen Kram?“, schrie ihn jemand an, der unsere Sprache nicht verstand, und trieb seinen gepanzerten Stiefel in Zuaks Magen.
„Hast ihm wohl ein bisschen zu doll auf den Kopp gehaun!“, rief ein anderer. Alle lachten.
„Lass uns gehen“, sagte Morg.
„Grom... ich habe... einen wichtigen... Vorschlag für euch“, presste er mühsam hervor. Ein weiterer Tritt.
Ich wendete mich ab. Morg hatte recht.
„Für euch und... euer ganzes Volk!“
Etwas ließ mich innehalten. Ich drehte mich zu ihm um und für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Blut rann seine Stirn in dicken Tropfen herab und sammelte sich an den Augenbrauen. Ich wusste nicht, was es war, das mich zu der Entscheidung trieb.
„Halt!“, rief ich.
Ich glaubte ihm.
Einige Zeit später gesellte ich mich wieder zu der Lintbrut, die es sich in einer ruhigen Ecke gemütlich gemacht hatte.
„Hallo ihr beiden, setzt euch!“, winkte uns Mina heran. Wir ließen uns nicht lange bitten und Hidda bedeutete mir, sich neben ihr niederzulassen. Sie hatte sich an eine Wand gelehnt, sich ihrer Lederweste entledigt und presste nun einen dicken Verband gegen ihre Seite. Sobald ich saß, schmiegte sie sich an mich.
„Wie geht es dir?“, flüsterte ich und deutete auf das Stück Stoff, das schon wieder blutgetränkt war.
„Hör schon auf. Alles halb so wild, ich werde leben.“
„Ne Drohne hat sie erwischt“, erläuterte Isengrim und strich Hidda eine blutige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Die Klaue ging glatt durch. Sieht aber nicht so aus, als wäre irgendwas Lebenswichtiges getroffen. Wenn wir es schaffen, die Blutung zu stoppen, und sie bald zu einem Arzt befördern, wird es schon.“
Der Griff ihrer grazilen Hand um meinen Arm wurde einen Moment lang fester.
„Ihr beide seid schon ein wirklich... ungewöhnliches Paar“, lachte Isengrim und ließ ihren Blick zwischen ihr und mir hin- und herwandern.
Ihre Worte versetzten mir einen Stich. Hektisch versuchte ich abzulenken und wechselte das Thema.
„Wo sind die anderen Menschen? Valerius, Oberst von Banthal?“
„Es gibt da einen riesigen Zellentrakt, führt von der Haupthalle ab, wo wir reingekommen sind“, sagte Mina, die gerade dabei war, mit ihren Zähnen eine Leinenbinde in dünne Streifen zu reißen. Sie prüfte das Ergebnis ihrer Arbeit und war offensichtlich damit zufrieden. „Oh, richtig, den müsstet ihr wohl kennen. Nun, da waren sie auf jeden Fall alle eingepfercht. Dahla ist gerade dabei, sie zu versorgen. Es gab viele Tote.“
Ich nickte nur. „Wie geht es jetzt weiter?“
„Erstmal müssen wir hier raus“, antwortete Yosanna. „Deine Freundin hat schließlich auch den Ausweg gesprengt mit ihrer kleinen Erfindung.“
„Was uns den Sieg überhaupt erst ermöglich hat“, ergänzte Mina.
„Ja, ist richtig. Nun heißt es auf jeden Fall: Steine schleppen.“
„Und sobald wir hier raus sind, werden wir als Spezies natürlich unsere Lektion gelernt haben und von nun an in friedlicher Eintracht zusammenleben“, erklärte Mina.
Sie alle lachten müde.
„Was ist mit euch?“, wollte sie wissen.
Die Frage kam unvorbereitet und ich wusste keine Antwort darauf.
„Grom?“
Hidda schaute mich besorgt an. Sie alle schauten mich an. Wie lange hatte ich überlegt?
„Du machst mir Angst.“
„Angst?“, flüsterte ich.
„Warum guckst du so bedrückt?“
Wie sollte ich es ihr nur sagen?
Sie richtete sich unter Schmerzen auf und starrte zu mir hoch. „Grom, raus mit der Sprache!“
„Ähm“, räusperte sich Morg. „Wie sagt ihr Menschen doch? Er hat eine gute und eine schlechte Nachricht.“
„Raus damit! Was ist die gute?“
„Zuak hat eine Idee, wie wir das da“, er zeigte auf den Schlund des Wurms, „nutzen könnten, um nach Hause zu kommen.“
„Zuak?!“, riefen beinahe alle im Chor. Außer Hidda, die mich unverändert anstarrte. Und ich sie. Ich konnte beobachten, wie Trübsal langsam, aber unaufhaltsam in ihr Gemüt kroch.
„Dieser Verräter?“
„Lebt der überhaupt noch?“
„Ihr könnt ihm nicht vertrauen!“
Die Stimmen drangen nur gedämpft zu mir durch. Alles, was für mich existierte, war Hidda – ihr fast kindliches Gesicht, das so voll von Schmerz aussah, dass es mein Herz beinahe zerriss.
Der Stimmenwirrwarr ebbte langsam ab.
„Aber wenn ihr euch sicher seid, freut es mich natürlich für euch“, sagte Mina schließlich. War sie bedrückt? Oder glücklich? Meine Aufmerksamkeit reichte dafür nicht aus.
Hiddas Augen glänzten feucht, als sich dicke Tränen in deren Winkeln bildeten.
„Und was ist die schlechte Nachricht?“, waberte Isengrims Stimme durch den dichten Nebel der Emotionen.
„Nun...“, tönte Morg dumpf.
Die Flüssigkeit ballte sich zu einem dicken Tropfen zusammen und rann ihre fein gezeichnete Wange herab. Verzeih‘ mir, Hidda!
„Es ist eine Einbahnstraße... einen Weg zurück wird es nicht geben.“
Sie schüttelte den Kopf. Zunächst langsam und ungläubig, dann energischer und entschlossener.
„Ich muss es tun“, flüsterte ich ihr zu. „Ich bin nicht alleine hier drin“, ich klopfte auf meine Brust und deutete auf Morg, „und wir sind die Häuptlinge. Unser Stamm braucht Führung, mehr denn je. Wir... wir gehören einfach nicht in diese Welt.“
Sie konnte sich nicht entscheiden, ob die Gründe für sie Sinn ergaben oder nicht, wechselte zwischen Nicken und Kopfschütteln.
„Wenn ich alleine wäre, würde ich bei dir bleiben“, fuhr ich hastig fort, die Verzweiflung legte sich lähmend auf meine Zunge. „Keine Sekunde müsste ich darüber nachdenken. Aber es geht hier nicht um mich, sondern um mein Volk.“
Betretenes Schweigen hatte sich über alle gelegt, während sie uns bekümmert lauschten.
„Du... du hast recht“, krächzte Hidda schließlich. „Dann komme ich mit dir.“
Ein Fünkchen Hoffnung flammte in mir auf.
Sie zuckte zusammen, als sich Isengrims Hand sanft auf ihren Unterarm legte. „Du kannst nicht, Süße. Du brauchst einen Arzt. Oder könnt ihr für sie sorgen?“ Ihr Blick sagte mir, dass ich mir meine Antwort gut überlegen sollte.
„Ich... weiß nicht! Was müssten wir tun?“
Das Fünkchen Hoffnung erlosch so schnell, wie es gekommen war.
„Dann könnt ihr es nicht“, urteilte sie. „Mädchen, du würdest die Reise nicht überleben.“ Sie nahm Hiddas Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und zwang sie, sie anzusehen. „Verstehst du?“
Erneut kullerten Tränen ihr Gesicht herab.
„Ich... ich...“ Ihre Unterlippe bebte, die Stimme erstickte. „... verstehe.“
Die Erkenntnis beraubte sie ihrer letzten Kraft und sie sackte ermattet und traurig in sich zusammen.
„Wie lange habt ihr noch?“, murmelte Hiskam, dem wohl auch allmählich dämmerte, dass ein Abschied auf Nimmerwiedersehen anstand.
„Zuak sagt, je länger wir warten, desto wahrscheinlicher wird es, dass der Wurm seinen freien Willen zurückgewinnt und für immer verschwindet.“
Ich versuchte, bei Hidda zu sein, ihr Trost zu spenden, selbst Trost zu empfangen. Doch wir beide wussten, dass unsere Zeit begrenzt war. Und so hielt ich sie einfach nur im Arm, versuchte, jeden Augenblick für immer in meiner Erinnerung abzuspeichern, mir jeden Zug ihres Gesichts, jede Sommersprosse für immer einzuprägen. Sie lächelte mich traurig an, während ich ihr sanft durchs Haar strich. Wir beide versuchten intuitiv, diese kostbare Zeit nicht von negativen Gefühlen beherrschen zu lassen.
Irgendwann hörte ich Morgs Stimme zu mir durchdringen. „Bruder?“
Es war, wie aus einem Traum zu erwachen. Ich schaute mich blinzelnd um und konnte die Eindrücke zunächst nicht einordnen. Um uns herum drängten sich die anderen Oger. Offenbar hatte Un’ro es geschafft, sie aus ihrer Lethargie und ihren Zellen zu befreien. In seiner Hand hielt er eine kurze Kette, die er wohl einer der Menschenkreaturen abgenommen hatte, die sich nun um Zuaks Hals befand. Mein Mitleid für ihn hielt sich in Grenzen.
„Es sind alle da. Wir sind soweit“, flüsterte er behutsam. Ich wusste zwar, dass der Moment irgendwann kommen sollte, überrascht war ich doch, als es so weit war.
„Ich werde einen Weg finden, hörst du?“, haspelte ich an Hidda gewandt. Ich spürte, wie mir die Zeit davon lief.
Sie lächelte schwach und nickte schließlich. Wahrscheinlich wollte sie mir gegen jede Gewissheit glauben.
„Wir werden uns wiedersehen.“
„Schwörst du es?“, flüsterte sie.
„Ich schwöre es.“
Sie nahm ein letztes Mal mein Gesicht in ihre Hände und führte ihre Lippen an meine. Verzweifelt, uns des drohenden Verlusts bewusst, versuchten wir, so viel Gefühl hinein zu legen, dass es für ein ganzes Leben reichen sollte. Selbstverständlich konnten wir damit nur scheitern. Wir lösten uns voneinander, ein letztes Mal, für immer.
„Du hast die Führung. Wir gehen zuletzt“, bedeutete ich Un’ro. „Und wenn er Schwierigkeiten macht oder du das Gefühl hast, er führt etwas im Schilde“, ich zeigte auf Zuak, „darfst du ihn ruhig züchtigen.“
„Hört mal!“, antwortete Zuak in unserer Sprache. „Kein Grund für sinnlose – au!“ Mit einem rücksichtslosen Ruck an der Kette gab Un’ro ihm zu verstehen, aufzubrechen. Langsam kam Bewegung in die Gruppe der Oger, als sie sich auf den Schlund des Wurms zubewegten.
„Das ist also der Abschied“, seufzte Mina laut. „Morg, Grom... wir verdanken euch alles. Ohne euch, hätten wir diese gemeinsame Anstrengung nie auf die Beine gestellt und die Königin besiegt.“
„Unser Volk, unsere gesamte Welt wird für immer in eurer Schuld stehen“, sagte jemand und trat zu uns.
„Eure Hoheit“, grüßte ich den König, aus der, trotz ihrer Gefangenschaft, nach wie vor eine würdevolle Haltung strahlte.
„Bitte“, sie hob die Hand. „Nach all dem hier“, sie ließ ihren Blick durch den Raum wandern, „können wir uns die Formalitäten wohl sparen.“
„Gerne, Valerius.“
„Valeria“, korrigierte sie, milde lächelnd. Wir alle schauten sie überrascht an, doch niemand wagte einen Kommentar.
„Gut gekämpft, Soldat“, bestätigte der Oberst, der nun an die Seite von Königin Valeria trat. „Ihr alle!“
Ich nickte ihm dankbar zu. Der Raum leerte sich schnell, als immer mehr Oger im Schlund des Wurms verschwanden.
„Alles Gute, euch beiden und eurem Volk“, trat nun Isengrim zu uns. „Und haltet euch ab jetzt von gruseligen Insekten fern, verstanden?“
„Davon kannst du ausgehen! Es war mir eine Ehre, an deiner Seite zu kämpfen! An eurer Seite!“, korrigierte ich, an alle gewandt.
„Macht’s gut! Auf dass ihr den Weg zurück in eure Welt findet!“, sagte Mina.
„Lasst euch mal wieder blicken!“, rief Hiskam um Heiterkeit bemüht.
„Jetzt haut schon ab, sonst verpasst ihr den Anschluss“, lachte Yosanna und klang dabei nicht ganz so unbekümmert, wie sie es sich vielleicht wünschte.
Und Hidda, auf die mein Blick zum Schluss fiel. Ihre großen, grünen Augen blickten zu mir auf, still und zu Tode bekümmert.
Sie schluckte schwer. „Ich werde dich nie vergessen.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein wispern.
Ich machte mich so klein es ging, um sie ein letztes Mal in die Arme zu schließen.
„Ich liebe dich“, hauchte sie in mein Ohr.
„Ich liebe dich auch“, krächzte ich zurück. „Und wir werden uns wiedersehen! Halte Ausschau nach mir.“
„Bruder, wir müssen los“, drängte Morg. Ich warf einen hastigen Blick umher. Nur noch eine Handvoll Oger befand sich hier und war kurz davor, zu verschwinden.
„Geh!“, schob mich Hidda von sich fort. „Und denke an deinen Schwur. Sonst gibt’s Ärger!“ Trotz ihrer tränenbenetzten Wangen rang sie sich ein Lächeln ab.
Wir eilten den anderen hinterher. Ich spürte, wie unruhig der Wurm inzwischen war. Er zappelte hin und her, war wahrscheinlich kurz davor, sich für immer ins Erdreich zurückzuziehen. Die übelriechende Luft, die mir aus seinem Schlund entgegenschlug, strich warm über unsere Haut.
Ein letztes Mal drehte ich mich um.
Die Menschen, es waren inzwischen weit mehr als einhundert, standen reglos dort und schauten uns an. Ich warf einen letzten Blick auf meine Freunde – nein, meine Familie! – mit denen ich so viele Abenteuer durchgestanden hatte. Plötzlich ertönte ein einsames metallenes Klirren. Es wiederholte sich, hatte sich jedoch bereits vervielfältigt. Beim dritten Mal war es bereits dutzendfaches Klirren. Nun erkannte ich: Sie alle klopften mit ihren Waffen rhythmisch gegen ihre Schilde und Rüstungen. Der Klang vervielfältigte sich rasch und bald hallte es ohrenbetäubend durch die riesige Höhle.
Wir taten es ihnen gleich und klopften drei Mal im Takt gegen unseren Harnisch, auf dem der Lintwurm eingraviert war. Mein letzter Blick galt Hidda.
Dann drehten wir uns um und stürzten uns in die Dunkelheit, mit dem metallenen, rhythmischen Klopfen als unser Begleiter; in die Dunkelheit, die uns Oger hoffentlich zurück in unsere Welt führte und in eine verheißungsvolle Zukunft, frei von Unterdrückung.