Ich riss die Augen auf.
– Dunkelheit, Einsamkeit.
Wollte aufspringen und weglaufen.
– Lähmung, Hilflosigkeit.
Mein Schrei, der nicht kam.
– Stummheit, Machtlosigkeit.
Tiefe Dunkelheit breitete sich wie ein Teppich vor meinen Augen aus, nur durchbrochen von kleinen, schwach funkelnden Lichtern. Die Stelle an meinem Arm, an der mich das untote Wesen gepackt hatte, brannte wie Feuer und war zugleich eiskalt. Ich hörte nichts, außer meinem galoppierenden Herzen.
Wohin denn so eilig, Sklave?, hallte die dämonische Stimme in meinem Kopf nach. War es erfolgreich gewesen, dieses Scheusal? Damit, mich zu versklaven?
Ich wollte mich nicht damit abfinden, mich nicht kampflos in eine neuerliche Sklaverei begeben. Ich mobilisierte die wenigen, verbleibenden Kräfte – körperliche, geistige! Stemmte mich unter unendlicher Anstrengung gegen das Fremde. Spürte quälend langsam das Gefühl in meine Arme und Beine zurückkehren. Überwand schließlich die Diktatur des Scheusals und fuhr in die Höhe.
„NEEEEEEIN!“
Ich schrie mir die Verzweiflung und den Zorn von der Seele.
„Rallut! Bleib bei mir!“
Mit fahrigen Bewegungen schlug ich um mich; versuchte, mich hektisch aus der Umklammerung der Königin zu befreien. Stieß sie zurück – in die Leere hinein.
Da war nichts. Nichts, das meinen Arm festhielt.
„Um Gottes willen! Hilf ihm doch jemand!“
Eine Stimme, seltsam vertraut.
„Alles in Ordnung, Großer! Ruhig, ganz ruhig!“
Eine andere, gefolgt von einer Berührung an der Schulter. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.
„Ruuuuuuhig.“
Eine dritte Stimme.
„Morg, bist du es?“, keuchte ich verwirrt.
„Ja, ich bin’s. Hast unruhig geschlafen.“
„Das... war kein Schlaf“, stöhnte ich und schaute mich unter schweren Lidern hindurch um. Der Kopf schwer, der Geist benommen – als hätte ich die ganze Nacht Beißwasser getrunken. Ein dünner Schweißfilm bedeckte meinen Körper und sorgte für prickelnd verdunstende Kühle.
Wie eine einstürzende Hütte brachen plötzlich die Erinnerungen über mich herein: das Ritual, die Hypnose, der Traum.
„Was habt ihr bloß mit mir gemacht?“
Ich nahm meine Umgebung in mich auf: Zuak, Lazar und Yosanna, die mich teils besorgt, mindestens aber neugierig anstarrten. Ein wenig abseits in der Dunkelheit die kleine, baufällige Windmühle. Das kleine Lagerfeuer, das ruhig knisternd neben mir brannte, und tanzende Schatten auf ihre Gesichter warf. Und dort, auf der anderen Seite, stand immer noch das kuriose Gestell, in das der kleine Edelstein eingespannt war und unschuldig das Licht des Feuers zurückwarf.
„Ich habe dir doch gesagt, dass das, ähm, noch nie jemand so richtig ausprobiert hat.“ Besorgnis troff aus Lazars Stimme.
„Sagen wir so... Es war nicht annähernd so, wie du eine Hypnose beschrieben hast.“ Ich schlang die Arme um meine Beine, ließ meinen Kopf kreisen.
„Also sag‘ schon! Was hast du gesehen?“, drängte Yosanna.
„Lass ihm doch einen Moment“, wollte Lazar sie bremsen.
„Nein, ist schon gut. Ich, ähm...“ Mir fehlten die Worte. Was genau hatte ich überhaupt gesehen?
„Ich denke, es war die Vergangenheit. Der Moment, in dem sich ein mächtiges Geschöpf aus seinem Gefängnis befreit und sich auf die Welt gestürzt hat. Also... eine Welt.“
Ich fasste knapp zusammen, was ich gesehen – oder besser, hautnah miterlebt – hatte. Das fremdartige Volk der Bayunn und der hinterhältige Verrat an ihnen. Das tragische Schicksal der Kriegerin Mandji, wie sie voller Verzweiflung und Trauer einen Pakt mit einem Monster einging. Sklave!
„Danach wurde es irgendwie diffus. Einzelne Bilder vermischt mit Erinnerungsbruchstücken. Alles stürzte gleichzeitig auf mich ein: Wie dieses Geschöpf der Kriegerin Mandji zu ihrer Rache verholfen hat. Grausamer, als sie es sich wohl jemals ausgemalt hatte. Sie hat Curin und ihren Stamm nicht einfach nur umgebracht; versklavt hat sie sie, zu willenlosen Schlächtern, zu Puppen ihres Zorns gemacht.
Doch damit begnügte sie sich nicht. Vor dieser Armee fielen weitere Stämme der Bayunn, sie verleibte sich alle von ihnen ein! Mit jedem Dorf, das fiel, wuchs ihre Zahl. Und nicht nur Bayunn; alles, was sich zu einer Waffe formen ließ, wurde in das Kollektiv aufgenommen. Es war...“ Mir fehlten die Worte, um zu beschreiben, was ich erlebt hatte.
„Ich habe das nicht einfach nur gesehen! Ich war diese Kriegerin. Ich war in ihrem Kopf, dachte, was sie dachte; habe die Panik gespürt, als das Monstrum in ihre Gedanken eindrang und sie zu ihrem willenlosen Untertan machte.“
Die drei schauten mich betroffen an. Und auch Morg, der meine Tortur sicherlich gespürt hatte, starrte schweigend zu Boden.
„Verdammte Scheiße“, murmelte Yosanna schließlich. „Das muss hart gewesen sein.“
„Ich habe noch nie etwas Derartiges erlebt.“
„Tut mir leid, dass wir dich, ähm, dem ausgesetzt haben“, beteuerte Zuak.
„Schon gut. Es ist vorbei. Ich wusste ja, dass das kein Spaziergang wird.“
„Und... was sagt uns das jetzt?“, fragte Yosanna.
„Was meinst du, Geselle?“
„Nun... warum hat er ausgerechnet das gesehen? Hat in dem Kopf dieser... Baian gesteckt?“
„Bayunn“, korrigierte ich sie.
„Ja, was auch immer. Meister, Ihr habt doch erklärt, diese Vorrichtung kann eine Verbindung zwischen Grom und der Königin der Keszz herstellen?“
„Also, das ist, nun, ein wenig verkürzt dargestellt und in Wahrheit alles viel komplexer!“, rang Lazar um eine Erklärung. Auf ihren strengen Blick hin gab er aber seufzend zu: „Ja, gut, wenn du so willst.“
„Und, ähm, bedeutet das dann nicht, dass dieses Monster, das du gesehen hast, Grom... die Königin der Keszz ist?“
Das war einleuchtend.
„Es könnte sein. Ihre Ursprünge. Wie sie aus ihrem Gefängnis ausgebrochen ist und ihren Feldzug begonnen hat“, stimmte Lazar zu, während er eine Haarsträhne zwirbelte. „Bedenkt! Dies ist keine exakte Wissenschaft. Es gibt einen Grund, warum dieses Verfahren immer bloß ein Experiment geblieben ist und es nie an das Licht der Öffentlichkeit geschafft hat.“
„Also können wir noch nicht einmal sicher sein, ob das, was Grom gesehen hat, überhaupt, ähm, so passiert ist?“
„Unsinn!“, rief ich, wahrscheinlich einen wenig zu schroff. „Das war echt. Wenn ihr das erlebt hättet-“ Mir versagte die Stimme, als ich an den Moment dachte, in dem Mandji die Tochter genommen wurde.
„Ja, du hast recht. Entschuldige.“ Lazar hob entwaffnend die Hände. „Aber die Frage bleibt berechtigt: Wir waren auf der Suche nach einer Möglichkeit, dein Volk der Kontrolle der Keszz zu entreißen. Glaubst du, einen Weg gefunden zu haben?“ Er sah mich abwartend an.
„Ja. Nein. Ach, ich weiß es nicht.“
Meine Gedanken wanderten zu Mandji zurück, zu dem Moment, als sie von der Kreatur unterworfen wurde. Es war nicht ausgeschlossen, dass dieses grausame Geschöpf die Königin war und Mandji sie unwissentlich befreit hatte. Aber die Bayunn hatten nichts mit den Keszz gemein!
„Wenn du, ähm, mich fragst“, grübelte Zuak und starrte seinen Bart zupfend in die Dunkelheit, „ist dieses uralte Geschöpf, diese Königin, der Kopf des ganzen. Schneide ihn ab und, hm, der Körper fällt erschlafft zu Boden.“
„Gewagte Theorie, mein Junge. Erläuterst du uns auch, warum?“, hakte Lazar nach.
„Um, ähm, ehrlich zu sein, habe ich keine logische Erklärung dafür.“ Er lächelte gequält. „Aber wenn wir sie schon als Königin bezeichnen, dann können wir doch auch den Rest der Analogie zu einem, sagen wir mal Bienenstock bemühen. Dort ist es doch auch so: Stirbt die Königin, stirbt das gesamte Volk.“
Lazar lächelte ein wenig herablassend. „Nun, bei Bienen hat das zwar andere Gründe... aber ich stimme dir zu.“
Zuak sah ihn überrascht an.
„Natürlich! Schau, nach allem, was du geschildert hast, Grom, sieht es für mich danach aus, dass sie die Befehle gibt. Ihre Untergebenen sind willenlose Vehikel ihrer Zerstörung – waren das nicht deine Worte? Dafür spricht auch, dass du und dein Volk hier und heute einigermaßen Herr eurer selbst seid. Möglicherweise ist die Entfernung zu groß für ihren schädlichen Einfluss.“
„Ja, schon, aber-“
Er unterbrach mich mit einer Handbewegung. „Mutmaßungen sind zu diesem Zeitpunkt alles, was wir haben. Nicht befriedigend, aber nicht zu ändern.“
„Klasse! Dann haben wir doch einen Plan!“, sprang Yosanna motiviert auf. „Wir finden die Königin und machen sie kalt!“
Wir alle starrten sie recht ungläubig an.
„Was denn?“, fragte sie unschuldig.
Es waren unzählige Fragen, die sich uns stellten, und auf die wir einfach keine Antwort hatten. Wie sollte man ein Wesen töten, das offenbar unsterblich war? Wenn man es überhaupt schaffte, sich durch seine unzähligen Heerscharen zu kämpfen, um an es heranzukommen! Doch dafür müssten wir erst einmal wissen, wo sich diese Königin befand und wie man zu ihr gelangte – denn viel sprach dafür, dass sie nicht in dieser Welt war. Meine Gedanken drehten sich schon bald im Kreis und ich war weit davon entfernt, guter Hoffnung zu sein.
Doch die Menschen blühten regelrecht auf. Sie stritten leidenschaftlich über Theorien und Lösungsansätze für jedes noch so kleine sich offenbarende Problem. Sie stellten Gedenkengerüste auf, verwarfen diese nach intensivsten Diskussionen, nur um sich mit neu entflammten Eifer an den Bau eines neuen, noch viel komplexeren Gerüsts zu machen. Mit Staunen sah ich den drei hochintelligenten Köpfen dabei zu, wie sie Stück für Stück ein Bild zusammensetzten. Wie ineinandergreifende Zahnräder arbeiteten sie zusammen, gleichten untereinander Wissenslücken aus und ergänzten sich.
Mit dieser Gewissheit begab ich mich irgendwann meiner unendlichen Erschöpfung hin, die das Ritual in mir hinterlassen hatte, und fiel in einen glücklicherweise traumlosen Schlaf.
Ich erwachte bei Sonnenaufgang, zwar ausgeruht, doch nach wie vor geschlaucht von der kräftezehrenden Erfahrung am Tag zuvor. Als ich mich behutsam aufrichtete, um den noch friedlich schnarchenden Morg nicht aufzuwecken, bemerkte ich Lazar an der Feuerstelle sitzen und mit einem langen Stock darin herumstochern. Yosanna und Zuak lagen noch fest in ihre Decken eingerollt auf dem Boden, mit dem Rücken zum Feuer.
„Oh. Guten Morgen. Habe ich dich geweckt?“, flüsterte er.
Ich schüttelte nur den Kopf und setzte mich zu ihm. „Nein, keine Sorge. Ist spät geworden?“, fragte ich auf die beiden Schlafenden deutend.
„Kann man wohl sagen. Wir haben uns noch ganz schön die Köpfe heißgeredet. Irgendwann bin ich dann ins Bett, die beiden waren aber in ihrem Element. Die Jugend, so voller Energie“, kicherte er.
Ich schaute ihn belustigt an.
„Was ist?“, wollte er wissen.
„Nun ja... Jugend. Zuak gehört wohl nicht mehr unbedingt in diese Kategorie.“
„Ah, aber da täuschst du dich. Er sollte jetzt allerhöchstens...“ Er rechnete nach. „Sechzig Lenze auf dem Buckel haben. Wenn er auch nur etwas von dem berücksichtigt, was ich ihm beigebracht habe, dann ist diese Kategorie genau richtig für ihn.“
„Das verstehe ich nicht. Für einen Menschen ist er doch steinalt.“
„Für einen Menschen. Ja. Aber nicht für einen Hexenmeister.“ Lazar zwinkerte mir schelmisch zu.
Jetzt, da er es erwähnte, fiel mir das Offensichtliche auf: Er sah in der Tat wesentlich jünger als sein ehemaliger Schüler aus. Die schulterlangen, braunen Haare wiesen kaum graue Strähnen auf, sein akkurat gestutzter Bart fügte sich charismatisch in das kantige Gesicht. Seine Augen strahlten wach und neugierig. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich ihn auf höchstens vierzig Jahre geschätzt.
„Wenn er sechzig ist, dann seid ihr doch sicherlich schon...?“
Er signalisierte mir lachend, dass dies kein Thema zur weiteren Vertiefung sei.
„Darf ich Euch etwas fragen, Meister Lazar?“, fragte ich irgendwann. „Es gibt da etwas, das mir schon länger unter den Nägeln brennt.“
„Schieß los!“
„Darf ich Euch fragen... wie war Zuak so als Euer Geselle?“
Er überlegte einen Moment, mit einem abwesenden, aber gutmütigen Gesichtsausdruck.
„Er war der Beste, den ich je hatte“, sagte er irgendwann. „Versteh‘ mich nicht falsch“, fuhr er flüsternd fort und rückte ein Stück näher zu mir heran, „Yosanna ist wissbegierig und intelligent, sie macht ihre Sache sehr, sehr gut. Und diese ihr eigene, ungestüme Art wird sie noch weit bringen. Aber Zuak...“ Sein Blick huschte zu der friedlich schlummernden Gestalt. „Er hat eine Gabe, weißt du? Begreift in einem Tempo selbst komplizierteste Dinge, das selbst mir Angst gemacht hat. Wir waren wie Pech und Schwefel, haben riesige Fortschritte zusammen gemacht.“
„Ich weiß. Wie schnell er unsere Sprache gelernt hat, als wir uns das erste Mal begegnet sind, war beeindruckend. Wenn ihr euch aber doch so gut ergänzt habt... Was ist passiert?“
„Ach. Wir hatten... Differenzen.“ Sein Gesichtsausdruck war undefinierbar.
„Müssen aber gehörige Differenzen gewesen sein, wenn ihr danach zwanzig Jahre lang nicht mehr miteinander sprecht.“
Er nickte nachdenklich. Unangenehmes Schweigen breitete sich aus, als ich auf eine weitergehende Erklärung wartete.
„Entschuldigt. Es steht mir nicht zu, Euch derartig persönliche Fragen zu stellen“, versuchte ich einen letzten Anlauf, mehr aus ihm herauszubekommen. Doch ich prallte hilflos an der Mauer aus Schweigen ab.
Ausgiebiges Gähnen durchbrach irgendwann die Stille von der anderen Seite des Feuers her und Yosanna schälte sich umständlich aus ihrer Decke.
„Hgggmmmorgen. Was gibts’n zu essen?“ Sie ließ sich schwer neben uns fallen und kratzte sich die Achselhöhle.
„Nichts“, murmelte Lazar.
Yosannas Kopf wanderte zwischen uns hin und her. Ihre roten Haare standen wirr in alle Richtungen ab. „Frostige Stimmung, eh? Was ist los? Weil ihr nicht weiter wisst?“
„So ungefähr“, versuchte ich abzulenken.
„Keine Sorge“, strahlte sie uns an. „Der Bärtige und ich“, sie deute mit dem Daumen über ihre Schulter in Richtung Zuak, „haben das alles ausbaldowert.“
Sie kramte irgendwas aus ihrer Hosentasche hervor, schnüffelte daran und biss kurzerhand hinein.
„Und zwar?“, bohrte ich nach.
„Hm? Oh, richtig. Wir machen einfach dasselbe nochmal! Schließen Grom an diesen Apparat an“, sie fuchtelte mit ihrer Hand in Richtung der Vorrichtung, in die der Stein eingespannt war, „und kehren das Ganze einfach um!“
„Wie, wir kehren es um?“ Lazar horchte auf.
„Schaut. Wir haben nun Eure Methode angewendet, richtig? Die hat doch Grom in den Kopf der Königin gebracht.“
„Uhm, nein, das ist nicht-“
„Ah, ah, ah!“ Sie brachte ihren Meister mit einer wenig respektvollen Geste zum Schweigen. „In den Kopf der Königin. Nun ist es an der Zeit, die Richtung umzukehren.“ Sie lehnte sich mit einem breiten Grinsen zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Huh?“, polterte Morg sein Unverständnis. Ich hatte nicht bemerkt, dass er aufgewacht war.
„Ja, genau. Huh?“, stimmte ich ihm zu.
„Du meinst doch nicht...?“, stockte Lazar.
„Doch, genau das meinen wir“, bestätigte sie.
„Reziproke Inversion?“ Er starrte sie mit riesigen Augen an.
Sie zuckte mit den Schultern, ohne dass ihr Grinsen auch nur schwankte.
„Rezi- was? Hallo, es geht hier um meinen Kopf, könntet ihr da bitte mit mir reden?“, ging ich dazwischen. Alles helle Köpfe, aber einer eitler als der andere.
„Ja, ähem, entschuldige, Grom.“ Sie drückte ihren Rücken durch und streckte die Brust raus. „Wir denken, wir haben einen Weg gefunden, wie wir an die Königin herankommen. Und zwar machen wir nochmal dasselbe wie gestern, nur im Gegensatz dazu – als du ja zu der Königin hin gewandert bist und in ihren Kopf reingeschaut hast – wird die Königin nun zu dir wandern und in deinen Kopf schauen.“
„Und... das geht?“ Ich gab zu, all die Improvisationen der Menschen überforderten mich allmählich. Nun, Hauptsache sie wissen, was sie tun und am Ende steht eine Lösung.
„Theoretisch“, stimmte Lazar zögerlich zu.
„Jep. Ganz bestimmt“, bekräftigte Yosanna.
„Wir haben keine andere Wahl“, mischte sich Zuaks krächzende Stimme darunter, der uns von seinem Lager aus anschaute.
Lazar stöhnte auf und fuhr sich müde mit beiden Händen durchs Gesicht. „Die Euphorie der Jugend... Also gut! Wir probieren es. Aber dazu müssen wir in die Stadt zurück, das wird ein größerer Versuchsaufbau, den wir nicht unter freiem Himmel durchführen können.“ Sein Blick wanderte zu dem Apparat. „Ich muss die Polung irgendwie umkehren, darf aber... die Frequenz nicht... hmmm.“ Seine Stimme glitt in undeutliches Nuscheln ab.
„Von mir aus, was auch immer ihr meint. Was ich aber noch nicht verstanden habe: Was genau erhofft ihr euch dadurch? Wir haben es ja nun ein Mal bereits geschafft, diese Verbindung herzustellen. Wozu noch ein zweites Mal?“, wollte ich wissen.
„Nun, hier wird es ein wenig, ähm, theoretisch“, griente Zuak.
„Ach so. Weil alles andere ja bisher so fundiert war.“
„Eigentlich ist es ganz einfach“, sprang Yosanna ihm zur Seite. „Wir glauben, derjenige, in dessen Kopf die Begegnung stattfindet, bestimmt die Regeln.“
Ich musste wohl sehr ins Starren verfallen sein, denn sie fing an, ein wenig unbehaglich auf dem Boden hin- und herzurutschen.
„Die Regeln der Begegnung?“, sagte ich schließlich. „Soll das heißen, dass ich all das nur gesehen habe, weil es die Königin so wollte?“
„Ja. Nein. Ähm, vielleicht“, entgegnete Zuak. „Grom, vertrau‘ uns einfach. Es ist ohnehin nicht so, als hätten wir eine Wahl, richtig? Mit dem, was wir bisher, ähm, gelernt haben, ist uns noch keine Möglichkeit offenbar geworden, wie wir zu der Königin gelangen, richtig?“
Da hatte er nicht ganz unrecht, musste ich zugeben.
„Also müssen wir es weiter versuchen. Und dieses, ähm, Ritual ist nun mal der einzige Weg, den wir aktuell kennen.“
„Keine Sorge, Großer!“, strahlte Yosanna mich an. „Das wird sich schon alles in Wohlgefallen auflösen!“
Wir packten zügig alles Nötige aus Lazars Versteck ein und brachen schon bald in Richtung Wurt auf, um zu seinem Haus zurückzukehren. Er betonte zwar, dass es ein gewisses Risiko darstellte, ein derart unbekanntes und schwer beherrschbares Ritual mitten in der Stadt abzuhalten, sah jedoch keine andere Möglichkeit. Er wäre auf seinen Experimentierkeller, wie er ihn nannte, und dessen Werkzeuge angewiesen. Ganz zu schweigen von den Vasallen der Dämmerung, die zweifellos ihre Agenten in die Stadt geschickt hatten, um nach uns Ausschau zu halten. Auf eine neuerliche Begegnung mit Patron konnte ich gerne verzichten.
Wir benötigten eine gute Tagesreise und bereits in der nächsten Nacht standen wir wieder vor dem altbekannten, unscheinbaren Haus. Es sah genauso aus, wie wir es verlassen hatten. Das gab mir Hoffnung, dass die Vasallen nach wie vor ahnungslos waren, wo Lazar seine Unterkunft hatte. Schleunigst, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen, schlüpften wir – oder in meinem Fall, zwängten wir uns – hinein. Yosanna entfuhr ein schmerzerfüllter Seufzer, als sie die zerstörte Wand und den kollabierten Schrank erblickte.
„Du hast angefangen“, bemerkte Morg trocken, was Yosanna ein zustimmendes Kichern entlockte.
„Es kommt mir vor, als wäre unsere erste Begegnung schon Jahre her. Dabei ist doch erst eine Woche oder so vergangen.“ Sie schüttelte amüsiert den Kopf.
„Nun gut, was kann ich tun, um zu helfen? Was sind die nächsten Schri-?“, begann ich und rieb mir die Hände.
„Du machst überhaupt nichts“, unterbrach mich Lazar bestimmt. „Setzt dich schön hier hin und ruhst dich aus. Und auch du nicht, Morg. Ihr beide werdet noch genug Arbeit haben, sobald ich diesen Apparat hier modifiziert habe.“
Er klopfte sanft auf das große, mit Fellen eingeschlagene Bündel, in dem es metallisch klirrte.
„Ihr beide besorgt noch ein paar Dinge“, fuhr er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch erlaubte, an Yosanna und Zuak fort. „Lebensmittel“, eine lange Liste wechselte den Besitzer, „und noch ein paar Materialien und Werkzeuge.“ Eine noch sehr viel längere Liste wurde übergeben.
„Das, ähm, also... Ihr braucht das alles?“ – „Was, jetzt, um diese Zeit?!“, riefen beide gleichzeitig.
„Wer sonst?“, erwiderte Lazar streng. „Soll der Oger gehen? Sehr unauffällig. Oder ich? Gerne, dann baut ihr eben den Apparat um.“ Er sah die beiden mit hochgezogenen Augenbrauen an, bis diese sich schließlich grummelnd in ihr Schicksal fügten. „Na bitte. Also dann, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit. Oh, und vielleicht sucht ihr euch oben im Schrank noch ein paar andere Sachen heraus. Etwas mit weniger Löchern und Blut.“
Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, breitete sich staubige Stille in dem Haus aus. Ich blickte den Flur hinunter, der immer noch von den Überresten der Wand übersät war, hörte das Knacken einer arbeitenden Holzdiele und von irgendwo das gedämpfte Klingen einer Glocke zu uns hereindringen. Es fühlte sich unwirklich an, wie eine Reise zurück in der Zeit.
„Kommt mal mit“, sagte Lazar, machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung der Kellertür. Die war, stellte ich zu meiner Überraschung fest, doppelflügelig und bot somit ausreichend Platz für Morg und mich. Sie war derart gut eingebettet in die Wand, dass sie kaum zu erkennen war.
„Muss eben oft große Dinge rein- und rausbringen“, erklärte er ungefragt und drückte gegen einen unscheinbaren Mauerstein. Ein Mechanismus klickte und die Tür öffnete sich sanft wie von allein. Er entzündete eine kleine Öllampe und stieg mit steifen Knien die etwa ein Dutzend Stufen hinab. Ich folgte ihm in die schummrige Dunkelheit. Es war so dunkel, dass das kleine Flämmchen kaum einen Schritt weit leuchtete. Modriges Schweigen hüllte uns ein.
„Einen Moment“, flüsterte er und nestelte mit dem Lämpchen herum, bis er es schließlich in eine Vorrichtung eingeführt und ratternd einen Riegel umgelegt hatte. Mit einem Mal flammte der gesamte Raum in ein helles Licht getaucht auf. Geblendet musste ich die Augen zusammenkneifen und gewöhnte mich nur langsam an das Licht.
„Uff. Wie geht das? Woher kommt denn...?“, stöhnte ich.
„Nett, nicht? Das Licht dieser kleinen Flamme wird über Spiegel und Linsen im ganzen Raum verteilt, wo es auf ein ganz einzigartiges Material trifft, das dann beginnt, zu leuchten.“
Und der Raum war riesig, erstreckte sich sicherlich zwanzig Schritt in Breite und Länge! Ich konnte bequem aufrecht darin stehen.
„Das war... unerwartet“, staunte ich. Die Luft roch muffig und abgestanden, aber nicht unangenehm.
„Um ehrlich zu sein, ist der Rest des Hauses nur Fassade. Die meiste Zeit verbringe ich hier unten.“
Das glaubte ich ihm sofort. Ich ließ meinen Blick über Regale voller Bücher, bizarr anmutender Gerätschaften und überquellende Kisten voller Krimskrams schweifen. In einer Ecke entdeckte ich ein ausladendes Schreibpult, das vollgestapelt war mit Schriften und Zeichnungen.
„Komm, komm!“, winkte er und eilte davon. Er zwängte sich zwischen Reihen von hoch aufgestapelten, unter Decken verborgenen Objekten und fing an, irgendwo herumzukramen. „Wo ist es, wo ist es...?“
Ich schaute ihm dabei zu, wie er bis zur Hüfte in einem Haufen aus Trödel verschwand. Es polterte und schepperte, als er Dinge unbekannten Zwecks aus dem Stapel hervorzog und achtlos auf den Boden fallen ließ, lediglich unterbrochen von einem gedämpften „Nein, nein, auch nein.“
„Können wir irgendwie behilflich-?“
„Aha! Hier ist es“, tönte es. Sein Oberkörper tauchte wieder auf, die braunen Haare standen ihm wild in alle Richtungen ab, sein Gesicht staubig und mit Resten alter Spinnenweben bedeckt. Triumphierend kam er zurück und stellte eine weitere, kuriose Vorrichtung auf einen kleinen Tisch. Sie war etwa so groß wie ein Pferdesattel und bestand aus unzähligen, filigran anmutenden Verstrebungen und Ausbuchtungen, beinahe wie ein bizarres Kunstwerk. Auf seiner Spitze befand sich eine mittig integrierte Linse aus geschliffenem Kristall. Lazar strahlte mich stolz an, beinahe so als müsse ich wissen, worum es sich dabei handelte.
„Ein... interessantes Ding“, bot ich unschlüssig an.
Er nickte und wurde unvermittelt ernst. „Hört mal, ich habe die anderen beiden nicht weggeschickt, weil ich wirklich noch irgendwelche Dinge benötige... außer einem vernünftigen Frühstück vielleicht.“ Wie aufs Stichwort grummelte sein Magen leise. „Nein, ich wollte eine Theorie überprüfen; eine Theorie, die euch beide betrifft.“ Er schaute abwechselnd Morg und mich an.
„Huh?“, brummte der.
„Was für eine Theorie soll das sein?“, wollte ich wissen, verwundert über seine Geheimniskrämerei.
„Wenn ihr gestattet, erläutere ich euch das später... um das Testergebnis nicht zu verfälschen.“ Er zog aus einer seiner Taschen eine kleine Brille, die er sich auf die Nase schob, und machte sich an der Vorrichtung zu schaffen; klappte ohne erkennbares System hier ein Gelenk heraus, zog dort an einer Strebe, sodass das gesamte Konstrukt seine Form änderte. Es schien, als faltete es sich auseinander wie ein Fächer.
„Testergebnis?“ Jetzt war ich völlig verwirrt. „Worin besteht der Test?“
„Einen kleinen Moment noch“, murmelte der Meister und arretierte ein letztes Stiftchen. Durch das gesamte Konstrukt schien ein leichter Ruck zu gehen und etwas rastete mit einem metallenen Klick ein. Lazar richtete sich auf und betrachtete grübelnd sein Werk, bis er schließlich nickte. Dann holte er erneut den kleinen Edelstein heraus, den wir auch schon für die ‚Hypnose‘ benutzt hatten, und drehte ihn zwischen seinen Fingern.
„Meister, mich beschleicht das Gefühl, Ihr wisst mehr über diesen Stein, als ihr zugeben wollt“, forderte ich und verschränkte die Arme. Es konnte kein Zufall sein, dass dieses Material eine derart zentrale Rolle einnahm bei der Lösung unseres Problems.
„Allmählich wird es offensichtlich, sagst du?“, seufzte er und lächelte mich aufrichtig an. „Du hast recht und ich schulde dir – euch allen! – eine Erklärung. Und du sollst sie bekommen. Nur... ich bitte dich, lass uns noch diesen Test abschließen, solange wir noch alleine sind.“ Er druckste verlegen herum. „Vertraut mir, wenn das Ergebnis so ausfällt, wie ich denke, wollt ihr es vielleicht für euch behalten.“
Warum konnten diese Mystiker nicht einfach klar herausrücken mit der Sprache?
„Nun gut, bitte sehr“, lenkte ich schließlich ein. „Was müssen wir tun?“
„Ausgezeichnet!“, rief Lazar entzückt und klatschte ein Mal laut in die Hände, was trocken im Keller nachhallte. „Wenn mich nicht alles täuscht, wird das auch ruckzuck gehen. Am besten, hmm, wird es wohl sein, wenn ihr euch auf den Boden vor den Tisch hier setzt. So.“
Ich folgte seiner Anweisung, die Apparatur war nun etwa auf Brusthöhe vor mir.
„Genau so. Perfekt. Hm, und nun: Schieb deine Hand hier in die Öffnung.“
Ich nickte Morg zu, woraufhin er tat, wie ihm geheißen. Die Apparatur bot gerade genug Platz, um seine Hand aufzunehmen. Sie war nun von dem filigranen, metallenen Konstrukt umgeben, an dessen Spitze, genau über Morgs Handrücken, der Kristall eingespannt war.
„Sehr gut. Genau so bleiben, während ich hier... hm hm, jaaa...“ Er rückte sich erneut seine Brille zurecht und inspizierte intensiv etwas am Fuße der Konstruktion.
„Grom?“, brummte Morg.
„Alles in Ordnung. Hoffen wir, dass er weiß, was er tut.“
„Ah, hier!“, rief er schließlich und nickte zufrieden. „Also, seid ihr bereit?“
„Bereit für was?“, forderte ich ungeduldig.
Doch Lazar hatte überhaupt nicht auf eine Antwort gewartet, denn unversehens drückte er auf einen klickenden Schalter. Gebannt starrte ich auf Morgs Hand und die sie umgebende Konstruktion. Der Stein funkelte leicht im Schein der Kellerbeleuchtung.
Doch es geschah nichts. Mein Blick wanderte zu Lazar, der ebenso auf das starrte, was sich auf dem Tisch abspielte. Er hielt seine Brille fest, als würde er durch einen starken Sturm wandern und fürchten, sie zu verlieren.
„Mich beschleicht das Gefühl, als wolltet Ihr nicht, dass die anderen das hier mitbekommen“, amüsierte ich mich.
„Nein, nein, das sollte... hmm... Der Conjurator ist richtig eingestellt. Aber wieso...? Herpiol, hast du etwa geflunkert?“
Mir war nicht klar, ob er mit sich selbst sprach oder eine Reaktion von mir erwartete. „Äh, was sollte denn Eurer Meinung nach passieren?“
Er hatte sein Kinn auf dem Arm abgestützt und starrte intensiv auf das metallene Gebilde.
„Vielleicht wenn ich meine andere Hand nehme?“, schlug ich vor, während Morg seine bereits herauszog.
„Nein, nein! Das könnt ihr ni-!“, versuchte Lazar uns zu stoppen, doch er reagierte nicht schnell genug. Bevor er seinen Satz beendete, hatte ich meine Hand bereits in den Apparat geschoben.
Zunächst schien das Ergebnis ähnlich auszufallen. Doch schon im nächsten Augenblick spürte ich ein schnell stärker werdendes Kribbeln.
„Spürst du das, Morg?“, flüsterte ich, doch er verneinte brummend. Wieso kam mir dieses Kribbeln, diese Taubheit bloß so unglaublich vertraut vor?
„Spürt er was?“, hakte Lazar nach, doch ich war zu abgelenkt, um ihm Auskunft zu geben. Das Kribbeln breitete sich schnell aus, wanderte meinen Arm hinauf. Es hatte ein Ausmaß erreicht, unangenehm zu sein, und so versuchte ich, meine Finger zu bewegen – ergebnislos! Ich versuchte, meine Hand zur Faust zu ballen – keine Reaktion.
„Uhm, ich kann...“ Ich versuchte, meinen Arm aus dem Konstrukt zu ziehen, doch auch diesen Befehl verweigerte mein Arm, auszuführen. „... meinen Arm nicht bewegen!“
Wahrscheinlich musste mein Tonfall panisch geklungen haben, denn der Meister kam mir zur Hilfe.
„Au!“, schrie er und zuckte zurück. „Verbrannt. Du glühst!“
„Meister, was geschieht hier?“, rief ich. Nun spürte ich auch die Hitze, von der er berichtet hatte. Sie schien sich auf meiner Haut zu manifestieren und schnell ins Fleisch vorzudringen. „Das tut weh!“
„Tu was!“, brüllte Morg Lazar an.
„Ich... aber was?“ Er stand wie erstarrt da, die Hände zu Fäusten geballt.
Mit einem Mal züngelte eine winzige Flamme aus der Fingerkuppe meines Zeigefingers hervor. Als hätte ich meine glühende Haut in einen Eimer Eiswasser getunkt, ließ der Schmerz in dem Finger urplötzlich nach. Wenn ich nicht so abgelenkt von dem Phänomen gewesen wäre, wäre mir sicherlich ein erleichterter Seufzer über die Lippen gekommen. Nach und nach entsprangen auch aus den übrigen Fingern kleine Flämmchen. Am Rande bemerkte ich, dass sie, im Gegensatz zu normalem Feuern, nicht gelb-orange, sonder purpur brannten.
„Unfassbar“, flüsterte Lazar.
Der nachlassende Schmerz ließ meine Gedanken wieder besser fließen. „Sicher, aber ich kann das nicht kontrollieren!“
Mit einem Satz sprangen die Flämmchen auf meine gesamte Hand über, wie ein Funke auf Zunder.
„Und es macht nicht Halt!“
Ich spürte die Hitze auf meinem Gesicht, während sich meine Hand kurioserweise kühl anfühlte.
„Lazar, tu was, oder ich fackel‘ das ganze Haus ab!“
Mit jedem Augenblick wanderten die beinahe schwarz scheinenden Flammen weiter meinen Arm hinauf. Und sie nahmen an Fahrt auf! Was wohl passieren würde, wenn sie meinen Kopf erreichten?
„Ja doch, ja doch! Ich denke!“, haspelte er.
„Denk‘ schneller! Das ist dein Apparat!“, fuhr ich ihn an. Das Lodern hatte meinen Unterarm vollständig eingeschlossen.
„Ich...! Ich...! Warte mal, was hast du gerade gesagt?“
„Das-Ist-Dein-Apparat!“, schrie ich.
Der Oberarm brannte lichterloh. Ich roch angesengte Haare, wahrscheinlich meine eigenen.
„Natürlich! Der Apparat!“, quiekte Lazar und stürzte sich auf das Gestell, unter dem sich bereits ein tiefschwarzer Brandfleck ins Holz gefressen hatte. Das metallische Klicken eines Knopfes übertönte für einen Moment alle anderen Geräusche. Und als hätte dieses Klicken den Flammen einen Befehl gegeben, verloschen sie mit einem lauten Wusch. Eilig zog ich meine Hand zu mir, überrascht, dass ich es tatsächlich konnte.
Von dem sich anbahnenden Inferno blieb nichts als ein dünner Rauchfaden, der von der verkohlten Tischplatte in die Luft stieg. Bei der Inspektion meiner Hand die nächste Überraschung: Sie war vollkommen unversehrt! Ich hatte mich bereits auf schlimmste Verbrennungen eingestellt, doch es war nicht die kleinste Spur zurückgeblieben. Selbst die dunklen Härchen bedeckten noch unverändert meine Haut.
„Wenn Ihr das nächste Mal ein solches Experiment durchführt“, keuchte ich und rutschte von dem Apparat zurück, „könntet Ihr uns das nächste Mal vorwarnen? Insbesondere wenn wir das Versuchskaninchen sind?“
Lazar ließ sich erschöpft auf den Boden sinken und schaute schuldbewusst zu mir herüber. Schließlich nickte er und hob zitternd seine Hände.
„Ja, du hast recht. Ich habe mit vielem gerechnet, aber – bei Gott! – nicht damit.“
Erschaudernd starrte ich zu der Konstruktion aus dünnem Metall, die leise knackend allmählich abkühlte. Die Flammen hatten diesem Ding kaum etwas anhaben können.
„Was genau ist eben überhaupt passiert? Was ist das für eine teuflische Maschine?“
„Ich habe eine Vermutung, aber ich kann nicht... ach!“
„Meister, wenn Ihr etwas wisst, dann raus damit. Wir haben ein Recht, das zu erfahren!“ Ich funkelte ihn düster an, bis er schließlich nickte.
„Nun gut. Am Ende war ja genau dies der Sinn und Zweck des Experiments.“
Er raffte sich mühsam auf und pirschte sich vorsichtig wieder an den verkohlten Tisch heran.
„Es gab früher, vor mehr als hundert Jahren, einen ganz Großen unserer Zunft, Heripol. Er war der festen Überzeugung, es gäbe wahrhaftige Magie in unserer Welt. Man müsse sie nur, wie ein schlummerndes Talent, irgendwie in den Menschen erwecken.“ Er lachte leise auf. „Magie! Könnt ihr euch das vorstellen? Hat sein ganzes Leben der Suche danach gewidmet, bis er schließlich in einem Hexenprozess grausam hingerichtet worden ist. Eine tragische Geschichte.“
„Und?“
„Nun, er hat den Conjurator erfunden, dieses interessante Ding hier. Ich konnte es vor einigen Jahren – oder sind es schon Jahrzehnte? – vor dem Vergessen retten. Seitdem habe ich es studiert, anhand der wenigen, kryptischen Überlieferungen, die es noch von Heripol gibt. Habe versucht, ihm seine Geheimnisse zu entreißen.“ Er richtete sich seufzend auf.
„Doch vergebens, ich habe den Conjurator nie zum Laufen bekommen. Irgendwann habe ich die Hoffnung aufgegeben und ihn eingelagert.“ Er deutete mit dem Daumen auf den Gang zwischen den aufgestapelten Relikten. „Bis Zuak diesen Stein hervorholte. Da machte es bei mir Klick.“
„Verstehe ich nicht“, sagte Morg.
„Ich auch nicht“, stimmte ich ihm zu. „Was hat das mit dem Stein zu tun?“
„In Heripols Schriften war stets die Rede von einem nicht näher beschriebenen ‚Katalysator‘, den es brauchte, um den Conjurator zu betreiben. Er hat ganze Bände über die theoretische Beschaffenheit eines solchen Katalysators geschrieben, doch die entscheidenden Passagen, ob er je einen gefunden hatte, sind für immer verloren. Und mit ihnen das Wissen darum.“ Er seufzte mit der Schwere von Jahren verschwendeter Lebenszeit.
„Versteht ihr? Ich habe den Apparat hier vor mir stehen und alles, was mir zur Entschlüsselung einer der ältesten Fragen der Menschheit fehlt, ist ein einziges, vermaledeites Teil! Ich habe mir das Hirn darüber zermartert, was es damit auf sich haben könnte, habe jedes mir bekannte Material ausprobiert. Sogar mein eigenes Blut haben ich genommen!“ Er lachte bitter. „Doch es war wie verhext – entschuldigt das Wortspiel. Nichts brachte dieses Ding zum Laufen! Erst als Zuak mir, da unten in der Zelle der Vasallen, von dieser Geode erzählte und dass sie scheinbar als Tor zu einer anderen Welt diente, da wurde ich hellhörig. Ich hielt meine Euphorie in Schach, wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.“ Seine Augen nahmen einen glasigen Schimmer an.
„Und dann hielt er auf einmal dieses Steinchen in der Hand. Da wusste ich – das ist der Katalysator!“
„Also sind wir für Euch wirklich nur Versuchskaninchen“, stellte ich nüchtern fest. Morg brummte unzufrieden.
„Ja, natürlich. Also, nein, auf keinen Fall! Ich meine... ich hatte die besten Absichten.“ Er schien hin- und hergerissen. „Als die Vasallen Zuak zu mir in die Zelle warfen und er mir von diesem riesigen Oger erzählte, einem Wesen nicht von unserer Welt, da habe ich seinen restlichen Verstand für endgültig verloren erklärt. Aber ihr kennt ja das Stichwort: Der Wahn eines Irren kommt nicht von ungefähr.“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Ist auch unwichtig“, fuhr er um eine Erklärung bemüht fort. „Ich dachte mir, soll er eben von Ogern und anderen Wesen faseln, aber wenn an dieser Geode was dran ist, dann muss ich mir das ansehen. Ihr könnt euch meine Überraschung sicherlich vorstellen, als sie mich aus dem Verlies zerrten und ihr auf einmal vor mir aufragtet. Da war ich ganz schön baff.“ Er schmunzelte.
„Seitdem sind wir doch zu einer Gemeinschaft, zu Kameraden geworden. Ihr habt mir das Leben gerettet! Ihr müsst mir glauben, ihr seid kein Versuchskaninchen für mich. Die Hypnose und das hier... das habe ich nur in eurem Interesse gemacht. Weil ich euch helfen will. Wirklich!“
Seine Erklärung machte einen aufrichtigen Eindruck.
„Also schön, ich denke, wir glauben Euch für den Moment“, beschloss ich. „Dann erklärt uns, was das Experiment mit dem Conjurator sollte. Inwiefern hilft es bei der Erforschung von Magie, wenn Ihr meinen Arm in Brand setzt?“
„Ist doch klar“, lachte Morg.
Und auch Lazar lächelte mich belustigt an. „Da muss ich ihm Recht geben. Verstehst du denn nicht?“
Nun war es an mir, verwirrt zu sein. Was verstand ich nicht? „Wenn ich etwas noch weniger abkann, als wie ein Versuchskaninchen behandelt zu werden, dann wenn man mich für dumm verkauft.“
„Schon gut, schon gut“, lachte Lazar und hob entwaffnend die Hände. „Du, mein Freund, bist ein Magier.“
Seine Worte hallten lange in meinem Kopf nach. Ich hatte mich noch nie intensiv mit dem Konzept beschäftigt, das die Menschen ‚Magie‘ nannten. Weder in meiner, noch in dieser Welt hatte ich etwas beobachtet, das dem auch nur im Entferntesten nahekam. Natürlich riefen unsere Ältesten die Ahnen an, die Geister unserer verstorbenen Vorfahren, aber dass sich mal einer von ihnen gezeigt hätte? Nein. Ich hatte Menschen beobachtet, die Dinge mit ihren Händen einfach verschwinden lassen konnten, doch das hielt ich schlichtweg für Täuschung.
Ich starrte auf meine Hand, während mir all diese Gedanken durch den Kopf gingen. Die Hand, die Augenblicke vorher lichterloh in unnatürlich purpurnen, beinahe schon schwarzen Flammen gestanden hatte.
„Hallo, ist jemand zuhause?“, tönte es von oben und unterbrach mich in meinen Gedanken. Es war Yosanna.
„Wie gesagt“, flüsterte Lazar mir noch eilig zu, bevor er zur Treppe ging. „An deiner Stelle würde ich dein neu entdecktes Talent erstmal für dich behalten. Nicht dass ich den beiden irgendwelche Listigkeiten zutraue, aber welchen Nutzen hätte es, mit diesem Wissen hausieren zu gehen?“
Damit warf er noch einen schnellen Blick den Gang hinunter, ging sicher, dass der Conjurator wieder gut versteckt war, zog das struppige Tierfell noch ein Stück weiter über den Brandfleck im Tisch, und eilte dann davon.
„Ahhhh, keinen Moment zu früh, Geselle. Ich vergehe beinahe vor Auszehrung...“
„Meister, steckt ihr also schon wieder im Keller?“, tönte es von oben. „Ich habe nicht alles von eurer Liste...“
Die Stimmen der beiden verblassten im Stockwerk über uns.
„Was hältst du davon?“, wollte ich von Morg wissen. „Ein Magier? Das ist doch absurd.“
„Ich weiß, was ich gespürt habe. Und was ich gesehen habe. Hast du eine andere Erklärung?“ Er zuckte mit der Schulter.
Eine gute Frage, die ich verneinen musste.
„Aber ich spüre nichts! Müsste ich nicht... irgendwie... dann auch zaubern können?“ Ich streckte meine Hand aus und schnippte mit den Fingern, selbstverständlich ohne Effekt.
„Weiß nicht.“
„Und was sagst du dazu, das geheim zu halten? Wozu? Ich meine, nicht, dass es einen Unterschied machen würde; ich kann es ja ohnehin nicht kontrollieren.“
„Eben. Kannst ja üben. Und wenn du mal eine Stadt abfackelst, es dann immer noch zugeben“, gluckste Morg.
Er hatte nicht unrecht. Diese Fähigkeit hätte mich in Schwierigkeiten bringen können, wenn sie bekannt geworden wäre. Wütende Menschenmassen tauchten vor meinem geistigen Auge auf, die mit erhobenen Fäusten Gerechtigkeit für ihr Unglück einforderten. Auf der anderen Seite: Hatten meine Kameraden nicht das Recht, zu wissen, ob sie sich in Gefahr befanden?
„Ja, hast ja recht. Also schweigen wir für den Moment – und hoffen, dass es sich nicht verselbstständigt.“
In diesem Moment hörte ich oben wütend eine Tür ins Schloss fallen, gefolgt von entschlossenen Fußtritten, die die Holzdielen zum Knarzen brachten.
„Meister!“ Das war die Stimme von Zuak. „Glaubt ihr nicht, das ist die, ähm, falsche Zeit für solche Späße?“ Das Geräusch von Papier, das in der Luft herumgewedelt wurde. „Luftloch-Bohrer, einen Zoll Durchmesser. Ha ha, selten so gelacht.“
„Ah, Geselle! Sag bloß, der Schmied hatte keine mehr?“ Lazars Grinsen war bis hier unten zu hören.
„Stellt Euch vor, hatte er nicht! Aber er war durchaus bereit, mir eins auf die Rübe zu geben, als Dank, dass ich ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt habe. Der dachte, ich erlaube mir einen.... einen Scherz mit ihm!“
„Ach, Zuak“, lachte Lazar. „Lass mir den Spaß! Trotz der langen Zeit, wirst du immer mein Geselle bleiben.“
„Aber, äh, die Vasallen... und haben wir nicht Dringenderes...“ Ihre Stimmen verblassten, als sie sich in einen anderen Teil des Hauses zurückzogen. Ich musste zugeben, dass der Meister es vortrefflich verstand, seine Motive zu verschleiern. Unter die Belustigung mischte sich eine Prise Skepsis.
Nachdem die Menschen ihre Kabbeleien hinter sich gebracht und Vorbereitungen getroffen hatten, waren wir bereit, es mit der neuerlichen ‚Hypnose‘ zu versuchen – dieses Mal in umgekehrter Richtung, oder invertiert, wie Lazar betonte. Er hatte, mit Hilfe der Besorgungen, die Zuak getätigt hatte, von denen offenbar wider Erwarten nicht alle gänzlich sinnlos waren, einige Modifikationen an der Apparatur, die wir schon beim ersten Mal genutzt hatten, vorgenommen. Dabei wurde er nicht müde zu betonen, dass dies so noch nie jemand versucht hätte und der Erfolg keinesfalls garantiert wäre.
Ich betrachtete das Schauspiel mit einer gewissen Entrücktheit, war mein Kopf doch nach wie vor voll mit Gedanken über meine neu erworbenen Fähigkeiten und was sie für mein weiteres Leben bedeuten mochten. Meine Schweigsamkeit fiel wohl auch Yosanna auf.
„Alles in Ordnung mit dir?“, wollte sie wissen und riss mich so aus meinen Gedanken.
„Hm? Oh, ja. Klar. Es ist nur... mir gehen so viele Dinge durch den Kopf.“
Mein Blick war nach wie vor auf Lazar geheftet, der laut murmelnd an dem Apparat herumtüftelte und dabei von Zuak verbal unterstützt wurde.
„Müsstet Ihr nicht da hinten den Flansch in eine rechtwinklige Position bringen, um den Fluss umzu-“, schlug er vor.
„Mein Junge, natürlich muss ich das. Aber das klappt eben nicht, solange diese Strebe hier im Weg ist“, blaffte Lazar zurück.
„Und wenn ihr...?“
So ging es hin und her.
„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte sie mitfühlend. „Machst du dir Sorgen?“
Die Frage überraschte mich ein wenig. Ich sah sie forschend an, aus ihrem interessierten Blick schloss ich aufrichtiges Interesse.
„Nun, hmm. Ja, vielleicht.“
„Brauchst du nicht“, antwortete sie und lächelte mich an. „Die beiden wissen schon, was sie tun.“
„...nein, nein, nein! Nicht so! Lass‘ mich...“, keifte gerade Lazar und riss seinem ehemaligen Gesellen ein Werkzeug aus der Hand.
„Zumindest meistens“, lachte sie.
„Nein, das ist es nicht“, versuchte ich meinen Gedankengang zu erklären. „Mich beschäftigt eher, ob ich der Aufgabe gewachsen bin. Wenn ich an meine erste ‚Hypnose‘ zurückdenke, dann war das eher ein Strom an Emotionen und Eindrücken, den ich kaum verarbeiten konnte. Noch dazu war ich reiner Beobachter. Ich weiß nicht... wie ich jetzt aus der Königin etwas Sinnvolles herausbekommen soll. Wenn ich kein Beobachter mehr bin, sondern eher... der Gastgeber. Verstehst du?“
Yosanna legte sanft ihre Hand auf meinen Unterarm und drückte mich ermutigend. „Dann musst du eben improvisieren.“ Ich spürte, wie ich die Augen verdrehte. „Komm schon, irgendeinen Weg wirst du schon-“
Mit einem Mal klopfte es polternd gegen die hölzerne Haustür, was laut im ganzen Haus nachhallte. Wir alle schreckten hoch. Überraschte Blicke trafen sich, wanderten zu der Treppe, die ins Erdgeschoss führte.
„Erwartet Ihr jemanden?“, hauchte Yosanna unnötig flüsternd, erntete von Lazar jedoch ein stummes Kopfschütteln. Zuak formte mit seinen Lippen das Wort Vasallen und zog seine Augenbrauen fragend in die Höhe.
Erneutes Klopfen, dieses Mal drängender. Es schien sich nicht um eine Verwechslung zu handeln.
Lazar legte schließlich sein Werkzeug zur Seite, zogdie lederne Arbeitsschürze aus und machte sich auf den Weg nach oben.
„Ihr wartet hier.“
„Meister...“, zischte Yosanna, doch er wimmelte sie ab. Er mühte sich schwerfällig die breite Treppe hinauf und schlurfte, unter beständigem Klopfen von draußen, zur Eingangstür. Einen Moment später öffnete die sich knarzend einen Spaltbreit und eine tiefe Stimme sagte etwas. Unhörbare Worte wurden gewechselt. Schließlich schwang die Tür weiter auf, bevor sie wieder krachend ins Schloss fiel. Wir, die wir im Keller warteten, schauten uns unschlüssig an. Warum sollte der Meister ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Beginn der zweiten Hypnose, noch jemanden ins Haus lassen?
Zwei Paar Füße kamen den Flur entlang und stapften die steinerne Treppe hinunter. Zuerst erschien Lazar, dann, dicht dahinter, ein verhüllter Mann in dunkler Robe. Der stockte kurz in seinen Bewegungen, musterte mich mit unter seiner Kapuze verhüllten Augen, setzte dann aber seinen Weg fort und blieb in einigem Abstand zu uns stehen.
„Ein Bote“, erklärte Lazar kurz und gebot ihm, zu sprechen. „Bitte.“
„Ich bringe Order der Krone“, verkündete er mit tiefer Stimme und entblößte einen Siegelring an seiner Hand, der das Wappen des Königs trug. Das schien er als Beweis seiner Glaubwürdigkeit als auszureichend zu betrachten.
„Wie lautet sie?“, forderte Lazar ungeduldig.
Der Bote räusperte sich und hob an: „Alle Mitglieder der Lintbrut haben sich unverzüglich am Hofe einzufinden. Eine Verzögerung wird nicht geduldet.“
„Das ist alles?“, wollte der Meister wissen.
Der Bote nickte. „Und ich habe schon einen vollen Tag verloren, um Euch in dieser Stadt überhaupt ausfindig zu machen. Hättet Ihr nicht ein Namensschild anbringen können wie jeder andere auch?“
„Aha. Keine Zeit zu verlieren, was?“, stellte der beinahe amüsiert fest und ignorierte dabei völlig den kaum verhohlenen Vorwurf des Mannes. „Nun, dann sagt seiner Hoheit, dass wir uns unverzüglich morgen früh-“
„Mit Verlaub“, unterbrach ihn der Bote mit fester Stimme. Mich beschlich das Gefühl, dass dies kein regulärer Bote war. Jemanden wie den Meister zu unterbrechen und zurechtzuweisen, bedurfte eines ausgeprägten Sinns für Autorität. „Der König hat ausdrücklich betont, dass kein Augenblick zu verschwenden sei. Der Tag ist gerade erst angebrochen. Ich rate Euch, ihn zu nutzen.“
„Du rätst mir, den Tag-?“, plusterte sich Lazar gerade auf, wurde jedoch erneut von dem Mann unterbrochen.
„Der König“, brachte seine Stimme die Luft zum Beben, „hat antizipiert, dass die Dringlichkeit dieser Angelegenheit kaum durch Worte zu vermitteln sei. Deswegen hat er mir das hier mitgegeben.“
Der Mann zog ein Bündel aus seiner Umhängetasche und legte es vor uns auf den Boden. Unangenehme Erinnerungen an Ralluts abgetrennte Arme, die Curin in ein ähnliches Bündel eingewickelt hatte, schossen mir durch den Kopf. Ich schluckte schwer.
Als sich niemand bewegte, ging Yosanna schließlich davor auf die Knie und schnürte es auf.
„Igitt!“, rief sie empört und sprang einen Schritt zurück. „Ihr hättet mich ruhig vorwarnen können! Was ist das?“, würgte sie und hielt sich die Hand vor den Mund. Ein bestialischer Geruch breitete sich im ganzen Keller aus.
„Weiß ich nicht. Der König meinte, die Botschaft wäre klar genug.“ Der Bote zuckte mit den Schultern. „Und Ihr müsst gerade klagen, schließlich habe ich dieses Ding quer durchs Land geschleppt“, fügte er kaum hörbar hinzu.
Als Yosanna schließlich zur Seite trat und den Blick freigab, verstand ich zunächst nicht. Es konnte nicht sein! Dieses Ding durfte nicht hier sein.
„Sowas habe ich noch nie gesehen“, murmelte Zuak und trat einen Schritt vor, während er mit einem Ärmel seine Nase abschirmte.
Mein Verstand wollte diese Wahrheit einfach nicht akzeptieren.
„Bote, wenn es wirklich so dringend ist, dann haben wir keine Zeit für Spielchen“, beschwerte sich Lazar. „Inwiefern soll das da die Dringlichkeit unterstreichen, wenn wir nichts damit anfangen können?“
„Sie sind hier“, jammerte Morg, für seine Verhältnisse überraschend eingeschüchtert. Alle Köpfe wandten sich schlagartig zu uns um.
„Was sagst du?“ – „Sie?“ – „Was meinst du?“
Ich war nach wie vor gebannt von dem Objekt: Etwa einen halben Schritt lang, knochig und knotig, schlank, mit einer messerscharfen, gewaltigen Klaue am Ende. Meine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden.
„Nun“, sagte ich, meine Stimme weniger fest als ich gedacht hatte. „Wie es aussieht, können wir uns die zweite Hypnose sparen. Die Keszz sind hier.“
„Hi- hier?“, staunte Yosanna.
„Hier, in eurer Welt.“ Ich sah zu ihr herüber. „Sie haben uns gefunden.“
Der Keller schien mit einem Mal nicht tief genug, seine Wände nicht dick genug zu sein. Die Schatten einer dunklen Bedrohung sickerten wie eiskalte Feuchtigkeit in meinen Geist.