„Bist du bereit, Morg?“
Die weite Fläche lag verlassen vor uns. Da es in der Nacht nicht gefroren hatte, hatte sie sich in einen schlammigen Morast verwandelt. Ich versuchte, den Schauplatz der gestrigen Schlacht und die damit zusammenhängenden Spuren so gut es ging zu ignorieren. Der milde Wind brachte den Geruch von Frühling zu uns, der so gar nicht zu der Szene passen wollte.
„Nein, aber noch länger zu warten wird daran auch nichts ändern. Also los.“
„Was sagt er?“, flüsterte Mina.
„Alles bereit“, übersetzte ich.
„Bei euch?“, fragte sie die anderen.
Entschlossenes Kopfnicken.
„Nun gut. Dann mal los. Wie gesagt, behandle uns wie Gefangene... nur, ohne Schläge, das wäre nett!“ Sie grinste Morg schief an.
Er erwiderte ihr Grinsen, das wortlos die Frage stellte, wo denn da der ganze Spaß bliebe. Schließlich nickte er ernst und schloss das Auge.
„Viel Glück. Gott mit uns“, raunte sie.
„Gott mit uns“, flüsterten vier Stimmen im Chor.
„Pass‘ auf dich auf, ja?“, ergänzte Hidda und schaute flehend zu mir auf.
„Und du auf dich“, gab ich zurück und drückte sanft ihre Hand. Sie lächelte unglücklich. „Es wird alles gut.“
Mit einem Mal spürte ich einen Ruck durch Morgs Körper gehen. Sein Augenlid flatterte, dunkle Zeichnungen deuteten sich auf seinem Gesicht an.
„Es geht los“, sagte ich und bedeutete den Menschen, voranzugehen. Wir passierten die letzte Baumreihe und betraten das gerodete Oval, in dessen Mitte die verfluchte Schlucht lag.
„Nicht trödeln!“, bellte ich und gab Hiskam einen groben Stoß, sodass er beinahe zu Boden fiel.
„Hol‘ dich der Teufel, du Monster!“, fluchte er und fing im letzten Moment seinen Fall auf.
„Ruhe!“, donnerte Morg, seine Stimme eine verzerrte Version des Originals.
„Ihr habt Glück, dass die Matriarchin gütig ist“, verkündete ich.
Wir stapften weiter über das zerfurchte, schlammige Feld. Die Unebenheiten machten das Vorankommen nicht gerade komfortabel, häufig hervorstechende Wurzeln und Steine stellten zusätzliche Stolperfallen dar. Von den Keszz war keine Spur zu sehen, alles lag verlassen da. Selbst als wir uns mühsam bis zur Schlucht vorgearbeitete hatten, blickten wir in die gespenstisch einsame Narbe in der Landschaft. Nicht eine einzige Drohne war zu sehen, der Weg in die Erde hinab bis zum Eingang war vollständig frei.
Langsam kletterten wir die niedrige Kante hinab und machten uns auf den Weg, weiter in den Schlund der Bestie hinein. Eiskalte Luft schlug uns entgegen, die sich hier unten hartnäckig gegen die anstürmende Frühlingsluft zu stemmen schien.
Erstaunt sah ich mich um. Nichts deutete darauf hin, dass hier noch vor ein paar Tagen eine verzweifelte Schlacht geschlagen wurde. Nicht einen einzigen Körper hatten sie liegenlassen. Lediglich der von vertrocknetem Blut verfärbte Boden und die verstreuten schwarzverkohlten Krater meiner Feuerzauber deuteten noch auf die Gewalt hin.
Betrübt blickte ich auf meinen Arm, wo die letzten Druckstellen des Armbands dabei waren, zu verblassen. Der eine oder andere Zaubertrick hätte bei diesem Unternehmen geholfen. Ich schüttelte diesen Gedanken ab; die Vergangenheit ließ sich nicht ändern.
Immer weiter drangen wir in die Schlucht vor. Wie ein gewaltiges Maul wuchsen die Wände um uns herum mit jedem Schritt weiter in die Höhe. Bald schon befanden wir uns in zwielichtiger Dunkelheit, gegen die die Sonne von oben keine Chance hatte.
Wir waren noch etwa zehn Schritt von dem rauen Durchbruch in der Wand entfernt, der den Eingang zum Bau der Königin markierte, als ein einzelner Mensch darin erschien.
„Wenn einer von euch auch nur eine falsche Bewegung macht...“, knurrte ich.
„Sieh an! Wen hat es denn da vor unsere Haustür verschlagen?“, rief uns der Mensch zu. Die hohe, brüchige Stimme – unverkennbar.
„Ich bring‘ den Kerl um!“, rief Isengrim und wäre losgestürmt, hätte ich sie nicht am Kragen gepackt. Grob schüttelte ich sie und stieß sie zurück.
„Schnauze!“, brüllte Morg.
„Mich dünkt, es herrscht ein wenig dicke Luft im Drachenhort?“, kicherte Zuak. „Das ist nah genug!“ Er bedeutete uns, stehenzubleiben.
Er baute sich in dem Durchgang auf, beinahe so als wäre er der Herrscher. Sein selbstbewusstes, überhebliches Grinsen hatte nichts mehr mit seinem früheren Selbst zu tun. Er schien verändert und doch er selbst – fast so, als hätte er sich bisher immer verstellen müssen und könnte nur hier er selbst sein, in der Gegenwart seiner Königin.
„Welch besonnenes Geschenk ihr uns da bringt“, lobte er uns. „Da wird sich die Matriarchin freuen. Wisst ihr, sie war arg betrübt, als sie feststellte, dass die Lintbrut ihre Gastfreundschaft nicht annehmen wollte. Wie seid ihr bloß unserer kleinen List entkommen, wundere ich mich?“
„Komm näher und ich verrate es dir“, rief Hiskam.
„Oh ho! Nein, danke.“ Er kicherte erneut. „Und ihr beide, Morg und Grom? Hm? Wieso seid ihr hier draußen und nicht da drin?“ Er zeigte mit einem Daumen auf den Bau.
Nun galt es, überzeugend zu wirken.
„Wieso nicht?“, fragte Morg.
„Waren wir etwa Gefangene?“, ergänzte ich.
„Nun“, erwiderte er, jegliche gespielte Unbeschwertheit aus seiner Stimme gewichen, und kam einen Schritt auf uns zu. „Auf jeden Fall steht es euch nicht zu, hier ein- und auszugehen, wie es euch beliebt – wie auch immer ihr das angestellt habt.“ Seine Blicke suchten eindringlich nach verräterischen Rissen in unserer Fassade.
„Aber, aber!“, gab ich umso gelassener zurück. „Behandelt man so ein Familienmitglied?“
„Also“, räusperte er sich, „das ist nun aber ein wenig weit hergeholt, meinst du nicht? Oder klopfen Familienmitglieder bei der eigenen Familie mit einer Waffe in der Hand und einer Armee von Menschen im Rücken an die Tür?“
Ich starrte ihn selbstbewusst an. Eine einzelne Schweißperle bildete sich zwischen unseren Schulterblättern, sammelte sich zu einem Tropfen und rann schließlich eiskalt den Rücken hinab.
„Sie hat es ihm nicht gesagt“, sagte Morg in plauderhaftem Tonfall.
„Meinst du? Aber er hält sich doch für so wichtig. Kann es da sein, dass sie Geheimnisse vor ihm hat?“
Zuaks Blick flackerte unsicher zwischen Morg und mir hin und her.
„Das würde ja bedeuten, dass er vielleicht gar nicht so wichtig ist, wie er denkt?“
„Wovon redet ihr beiden da?“, krächzte er.
„Nur ein kleiner, niedriger Speichellecker.“
Zuaks Hand schnellte zu seiner Kette, horchte angestrengt nach innen. Doch was er dort fand, schien ihn nicht zufriedenzustellen.
„Weißt du was? Dann sollten wir unsere Zeit auch nicht mit ihm verschwenden.“
„Wovon zur Hölle sprech ihr da?“, keifte er, seine Stimme zittrig vor Verunsicherung. Wir hatten ihn!
„Du hast recht. Er ist nichts als ein besserer Türsteher.“
„HÖRT AUF MIT DIESEN SPIELCHEN!“, platzte es aus ihm hervor, sein Kopf hochrot. Seine schrille Stimme wurde von den Wänden zurückgeworfen.
„Wir sind die Söhne der Matriarchin“, sagte ich in die sich ausbreitende Stille hinein. Ich spürte bohrende Blicke in unserem Rücken.
„Schwachsinn!“, lachte Zuak, seine Stimme weit entfernt davon, überzeugend zu klingen.
„Frag sie doch selbst.“
Seine Hand fischte erneut nach dem Schmuckstück um seinen Hals. Ich schielte zu den Menschen hinüber, die mich mit offenen Mündern anstarrten. Ich musste mühsam den Impuls unterdrücken, mich neben Hidda auf den Boden zu werfen und ihr alles zu erklären.
Zuaks Miene war ein Schlachtfeld der Emotionen: Unglaube, Überraschung, Enttäuschung, Erkenntnis. Seine Schultern sackten ab, die Haltung entwich ihm. Wortlos drehte er sich schließlich um und verschwand im Inneren.
Es war also, wie ich befürchtet hatte. Bis zuletzt hatte ich gehofft, dass, auch wenn dies das Scheitern unseres Plans bedeutet hätte, sich meine Vermutung als falsch herausstellen würde. Doch das Einlenken Zuaks ließ keinen Zweifel. Mein Junge, hallte die Stimme der Königin durch meinen Kopf.
„Vorwärts!“, donnerte Morg und trieb unsere Gefangenen in den Schlund der Bestie hinein.
Im Inneren öffnete sich der Bau in einen ausufernden Korridor, sicherlich zehn Schritt breit und ebenso hoch – ich fühlte mich an das prunkvolle Vestibül in Goldenstein erinnert, nur dass die Keszz keinen Wert auf Gold und Marmor legten. Stattdessen waren die Wände übersät mit mannshohen Löchern, aus denen hin und wieder eine Drohne scheu hervorlugte, sich aber nicht vollständig zu zeigen wagte. Wahrscheinlich führten diese Löcher zu den Quartieren der unzähligen Armeen – oder wie auch immer man den Ort nennen mochte, wo diese Kreaturen sich üblicherweise aufhielten.
Wir folgten dem abschüssigen Gang weiter unter die Erde, tiefer ins Innere des Baus hinein. Schon bald war von dem ohnehin schwachen Sonnenlicht nichts mehr übrig und nur die schwachen, gespenstischen Fackeln spendeten ihr schummriges Licht. Der Korridor zog sich in die Länge, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, die abwärtsgewandte Neigung ginge in eine Horizontale über.
„Ich will nicht hier sein“, schluchzte Hidda auf einmal. Ihre helle, unschuldig klare Stimme schwebte ätherisch über dem bedrohlichen, tiefen Brummen, das diesem Ort inne war. „Das kann doch alles nicht wahr sein!“
„Schnauze! Weitergehen!“, blaffte Morg, der es gerade noch schaffte, seine Irritation zu überspielen.
Doch Hiddas Beine knickten ein und sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Es zerriss mir das Herz, sie so zu sehen.
„Die werden uns alle umbringen“, jammerte sie mit tränenerstickter Stimme in ihre Handflächen.
Verließen sie etwa die Nerven?
„Komm hoch jetzt mit dir“, zischte Mina eindringlich und packte sie am Arm.
„Nein! Versteht ihr denn nicht? Wir werden nie wieder den Himmel sehen!“ Ihr langgezogenes Schluchzen wurde von den glattgemeißelten Wänden dumpf zurückgeworfen.
Verdammt nochmal, Hidda, tu uns das jetzt nicht an!
„Verdammte Scheiße“, brummte Morg, drehte um und stampfte auf Hidda zu.
„Raff dich auf, er kommt!“, flehte Mina. Doch Morg war schon da. Er versuchte sein Bestes, den Anschein von Brutalität aufrecht zu erhalten und ihr gleichzeitig nicht wehzutun. Er packte sie am Arm und hievte sie in die Höhe.
„Auu!“, kreischte Hidda und versuchte, sich loszureißen, wobei sich ihre Tasche löste und in einem hohen Bogen davonflog. Krachend kollidierte die mit der Wand und blieb am Übergang zur Rampe liegen.
„Lass sie los, du Scheusal!“, schrie Mina und trommelte mit ihren Fäusten auf Morgs unnachgiebigen Handgriff ein.
„Bitte“, brummte er entnervt und gab Hidda einen unsanften Stoß, der sie weiter den Weg entlang beförderte. Sie konnte sich gerade noch so vor dem Sturz bewahren. „Kein Theater mehr, verstanden?“
„Ist ja gut... Arschloch“, murmelte sie und rieb sich den Arm. Sie wischte sich trotzig eine Träne aus dem Auge und reihte sie sich mit hängendem Kopf ein. Es forderte meine gesamte Willensstärke, nicht augenblicklich zu ihr zu eilen. Ich hasste diesen Plan!
„Aufmüpfig, die Kleine, wie? Hmmm, das mag ich“, kicherte Zuak, der über seine Schulter schaute und sich die Lippen leckte. Der Schmerz, der von meiner Hand ausstrahlte, war meine zum Zerreißen geballte Faust. Ich kämpfte gegen den Drang an, mit ihr sein Gesicht zu bearbeiten.
Wir drangen weiter in den Bau vor. Es ging nun nicht mehr tiefer unter die Erde, stattdessen öffnete sich der Korridor in eine gewaltige, kathedralenhafte Höhle. Die hohe Decke wurde von massiven, groben Säulen gestützt, der Raum fächerte sich weit in die Breite auf. Auch die Ausstattung wurde opulenter, die lichtspendenden Kerzenhalter größer, überall entdeckte ich zu verspielten Dekorationen verarbeitete Knochen und Felle. Überrascht erspähte ich verstreute Haufen von Diebesgut, wie ich vermutete: blutverschmierte Rüstungen, Gegenstände aus glänzenden Edelmetallen, aufwendige Holzschnitzereien. Dass die Keszz ein materielles Interesse hatten war mir neu.
„Was ist das alles hier?“, fragte ich. Ein erdiger, abgestandener Geruch stieg mir in die Nase, der von der warm-feuchten Luft gut transportiert wurde.
„Erinnerst du dich denn an überhaupt nichts mehr?“, seufzte Zuak. Er lächelte nachsichtig zu mir herüber. „Siehst du, so beeindruckend der Griff der Matriarchin ist, in dem sie euch Oger hält, ist er doch nicht perfekt. Gedächtnisverlust.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie ist einfach zu gutherzig. Lässt euch zu viel durchgehen.“ Sein verschwörerischer Blick unterstrich seinen Flüsterton.
„Ja, ja, sie ist ein wirklicher Sonnenschein. Und bekomme ich jetzt noch eine Antwort?“
„Schön. Dieser Bau hier ist einer, wie es ihn in dutzenden anderen Welten, auf jeder einzelnen, die die Königin erobert hat, auch gibt. Die Kammern am Eingang hast du gesehen?“ Ich nickte. „Gut. Dort wohnen die Drohnen. Ihr macht euch keine Vorstellung davon, wie riesig das Netzwerk ist, das sich dort verzweigt!“ Er lachte, als könne er es selbst kaum glauben.
„Wie auch immer. Hier ist die Haupthalle... die Wohnstube, wenn du so möchtest. Der Matriarchin gefällt eben ein bisschen Tand. Üblicherweise schmückt sie diesen Raum mit den typischen Habseligkeiten der Bewohner der jeweiligen Welt. Es ist eine Hommage, wenn du so willst.“ Er kicherte, zweifellos über seinen eigenen Witz.
„Links Brutkammer und Vorratskammer, in der ich aber auch noch nie gewesen bin.“ Er fuchtelte in Richtung der jenseitigen Wand, in der ein Durchgang zu erkennen war. „So sehr ich dieses Volk verehre, aber es gibt einfach Grenzen des guten Geschmacks.“ Er zwinkerte mir zu.
„Den Trakt auf der Rechten, an den müsstet ihr euch nun aber wirklich erinnern. Es ist schließlich nicht allzu lange her, dass ihr dort wart. Die Kerker, das Quartier der Matriarchin-“
„Und die Küche“, ergänzte ich. Der bloße Gedanke an den Ort ließ mich erschaudern.
„Oh, du hast sie gesehen? Faszinierend, nicht? Beinahe jede freie Minute verbringe ich dort.“ Seine Augen funkelten im schummrigen Zwielicht, die Stimme schwärmerisch. „Wie ein Meer an Möglichkeiten, das beinahe unbegrenzte Möglichkeiten bietet. Die Zutaten des Lebens nach eigener Willkür zu formen, wie... Burgen aus Sand und Wasser zu bauen! Natürlich spült oft genug die nächste Welle alles wieder weg oder das Bauwerk ist in sich zu instabil, um langen Bestand zu haben. Dennoch...“ Er zügelte seinen Enthusiasmus mit sichtbarer Mühe. Sein Blick glitt mit wohliger Zufriedenheit zu Morg und mir. „Hin und wieder landet man einen Volltreffer.“
Ich beschloss, seine abartige Faszination nicht näher zu erforschen, und heftete meinen Blick geradeaus. Wir schritten weiter, unsere Schritte hallten einsam durch die Leere und wurden dumpf zurückgeworfen. Niemand war hier, keine Spur der anderen Menschen oder der Oger, nicht einmal eine Drohne huschte durch die Dunkelheit. Mir gefiel das alles nicht.
„Warum ist es hier so ruhig? Müssten hier nicht überall irgendwelche Kreaturen herumwuseln?“
Doch Zuak blieb eine Antwort schuldig, schüttelte nur verschmitzt lächelnd den Kopf. Erneut hatte ich das Gefühl, sehenden Auges in die Falle der Königin zu laufen, die uns stets einen Schritt voraus war. Wir marschierten voran, währenddessen Morg hin und wieder die obligatorische Disziplinarmaßnahme unter der Lintbrut verteilte. Schließlich galt es, den Schein zu wahren.
Eine gefühlte Ewigkeit später gelangten wir am anderen Ende an und durchquerten einen erneuten Übergang. Die große Halle ging beinahe nahtlos in den nächsten, ähnlich dimensionierten Raum über. Ein dumpfes Summen schlug uns entgegen, das eher zu fühlen als zu hören war; wie eintausend Bienenstöcke, die in den Wänden versteckte waren. Ich erkannte die Szenerie wieder! Es war hier, wo der gigantische Wurm seinen Schlund in diese Welt geschlagen hatte. Ich erblickte den Durchbruch in der jenseitigen, weit entfernten Wand, der dieses Mal aber leer und gähnend dalag – ebenso wie der Rest der Halle. Ich erinnerte mich an die wuselige Betriebsamkeit, die hier unten herrschte, als ich zusammen mit der Königin von der Empore herunterblickte. Überrascht schaute ich mich um, als Zuak unvermittelt stehenblieb.
„Warum ist hier alles verlassen?“, fragte Morg. Mein Blick huschte zu der Empore empor, unter der wir uns nun befanden – ebenfalls leer. Seine Stimme hallte leise von den kahlen Wänden wider.
Zuak schwieg eine Weile und lächelte lediglich wissend vor sich hin. Hidda flüsterte etwas zu den anderen, doch ich verstand sie nicht.
„Es scheint, als würde die Matriarchin euch einen besonderen Empfang bereiten wollen. Ein wenig Geduld, sie wird gleich hier sein.“
Ich schluckte trocken. Etwas ging hier vor sich, das ich nicht erkannte.
„Hilf mir doch mal, etwas zu verstehen“, begann ich, und wanderte – betont entspannt – ein wenig umher. „Du bist also ein Agent der Matriarchin, ja?“
„Ach. Agent. Sehe ich aus wie ein dahergelaufener Speichellecker?“ Er schnaufte.
„Ihre rechte Hand, wie auch immer du dich selbst bezeichnen möchtest.“
Er neigte gönnerisch seinen Kopf.
„Seit wann?“, wollte ich wissen.
„Oh, weißt du.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Schon lange. Sehr lange. Nachdem mich die Menschen aus ihren Städten gejagte hatten wie einen räudigen Hund-“
„Der Mann hat sein Augenlicht verloren, Scharlatan!“, zischte Isengrim.
„Ja, Gott, natürlich! Und das war meine Schuld oder wie? Schon klar. Dass er aber mit dem Gebräu, das ich ihm hergestellt hatte, seinen Nachbarn ausräuchern wollte, habt ihr alle schön unter den Teppich gekehrt.“ Er funkelte sie angriffslustig an.
„Wie dem auch sei“, fuhr er in ruhigem Tonfall fort, „nachdem sie mich verbannt hatten, schwor ich mir, dieses ganze Konstrukt, das diese Kleingeister ‚Gesellschaft‘ nennen, zu zerstören. Ihre ganzen willkürlichen Regeln und Gesetzte zu zerfetzen.“
„Und dich selbst zum Herrscher aufzuschwingen“, ergänzte Isengrim.
„Nun, wenn das die Begleiterscheinung sein sollte, bitte.“ Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Aber darum ging es mir nie. Nie um Macht, zumindest nicht in ihrer weltlichen Definition. Mich interessierte immer nur Wissen, das Sprengen von Grenzen, der Blick hinter den Horizont. Nichts, was ihr je verstehen würdet.“ Er warf den Gefangenen einen mitleidigen Blick zu.
„Und die Matriarchin war dein Weg da hin?“, fragte ich.
„Mein Weg? Nein. Sie war das Produkt daraus! Bereits unter Lazar begann ich, verbotenes Wissen zu studieren.“ Er kicherte. „Verstehst du das Oxymoron? Verbotenes Wissen! Nur der Mensch ist so kleingeistig und deklariert etwas als verboten, nur weil er es nicht versteht... oder Angst davor hat.“
„Und er hat dich dabei erwischt“, folgerte Yosanna.
Sie musste einen wunden Punkt getroffen haben, denn seine Kiefermuskeln fingen zornig an zu arbeiten. „Er hat mich angezeigt... beim Bund. Kurze Zeit später war ich raus, niemand unseres Standes wollte mehr etwas mit mir zu tun haben. Ich war allein – aber umso entschlossener.“
Mit einem Mal hörte ich Fußschritte; zunächst kaum wahrnehmbar, doch rasch lauter werdend. Schlurfendes Rascheln legte sich über das niederfrequente Brummen.
„Und wisst ihr, was es war? Dieses verbotene Wissen?“
Zu dem Schlurfen gesellte sich leises, metallisches Klimpern. Ich ließ meinen Blick schweifen, sah aber nichts.
„Beschwörung!“, hauchte Zuak. „Beschwörung von außerweltlichen Wesen. Öffnung von Toren in andere Dimensionen. Manche nennen es auch Dämonologie. Mein erster, richtiger Versuch ging übrigens gehörig daneben. Ihr erinnert euch noch an diese Kreatur in meiner Hütte?“
„Das Loqi. Bei dem du dich eingeschissen hast?“, fragte ich.
Er räusperte sich. „Ja, ähm... ja. Es spielt keine Rolle. Aber für einen Erstversuch doch gar nicht schlecht, was denkt ihr? Danach machte ich rasende Fortschritte.“
Hinter uns betraten plötzlich vom Halbdunkel verborgene Gestalten den Raum. Sie hielten sich dicht an der Wand, waren so kaum zu erkennen, und... zogen etwas hinter sich her.
„Dass ihr eins meiner am längsten vorbereiteten Experimente zunichtegemacht habt, nehme ich euch im Übrigen immer noch übel. Die Vasallen der Dämmerung?“, schob er auf meinen fragenden Blick hinterher.
Die schlurfenden, metallisch-klirrenden Gestalten hatten uns mit einer halbkreisförmigen Aufstellung den Ausweg abgeschnitten. Es mussten etwa zwei Dutzend von ihnen sein. Grollendes Schnaufen drang zu uns herüber. Irgendwas kam mir an diesen Geschöpfen bekannt vor, auch wenn ich so gut wie nichts erkennen konnte.
„Oh, was hätten wir mit eurem Blut, eurer Seele anstellen können. Welche Tore hätten wir öffnen können! Wenn ihr uns doch bloß nicht entwischt wärt.“
Berauscht sah er zu Morg und mir. Einen Moment schien er sich in der Vorstellung zu suhlen, bevor er bedauernd den Kopf schüttelte und über seinen Bart strich.
„Es spielt keine Rolle. Seht, was ich erreicht habe. Seht, wo ich stehe!“ Ein diabolisches Grinsen schlich sich in sein Gesicht, als er mit tiefer, unmenschlicher Stimme rief: „SEHT, WEN ICH BEFEHLIGE!“ Mit ausgebreiteten Armen ging er ein Mal theatralisch im Kreis, sein Kopf zuckte wild hin und her, seine Stimme hallte laut und donnernd von den Wänden wider.
In diesem Moment traten die Gestalten, die uns umstellt hatten, zeitgleich drei Schritte vor. Wie einstudiert überschritten sie die Grenze von dunkel zu hell, in das violette Licht der gespenstischen Leuchter hinein.
Mir stockte der Atem. Es waren Riesen, über und über mit Stahlplatten bestückt, aus denen grotesken Dornen und spitze Stacheln wuchsen, ihre Augen dunkle, seelenlose Schlunde. Nun erkannte ich auch, warum sie mir bekannt vorgekommen waren: Es waren Oger meines Stammes!
„Mein... Gott!“, stöhnte Hiskam.
Mein Blick wanderte weiter, zu ihren Händen, in denen sie grobe Metallketten umklammert hielten. An den Enden der Metallketten waren Ringe befestigt, die sich wiederum um Hälse klammerten – menschliche Hälse. Zumindest waren dies einmal Menschen gewesen, nun waren sie missgestaltete Kreaturen, die nur noch entfernt an ihr früheres Selbst erinnerten. Wie tollwütige Hunde zerrten sie an den Ketten, geiferten und keuchten, schnappten in unsere Richtung. Ihre Körper sahen verformt und mutiert aus, ähnlich den bemitleidenswerten Bauern, die wir in der Kapelle abgeschlachtet hatten. Scharfe Klauen sirrten angriffslustig durch die Luft, blutunterlaufene Augen starrten uns wild an.
„Was hast du getan?!“, schrie Mina.
„Sind sie nicht wunderschön?“, strahlte Zuak vor Stolz. „Noch nicht ganz perfekt... aber wir haben ja einen beinahe endlosen Vorrat an Versuchsobjekten – und sehr viel Zeit!“
„Du Wahnsinniger-!“, knurrte Hiskam und wollte sich auf Zuak stürzen, doch Morg stellte sich ihm in den Weg.
„Noch einen Schritt und du wirst das nächste Versuchsobjekt sein!“, bellte er.
„Ich habe geahnt, dass euch die Weitsichtigkeit fehlt, um dies anzuerkennen“, kommentierte Zuak.
„Noch eine Minute“, hörte ich Hidda hastig in Minas Richtung flüstern, was in dem allgemeinen Tumult aber so gut wie unterging. Hatte ich sie richtig verstanden? Irritiert warf ich ihr einen schnellen Blick zu, den sie aber nicht auffing.
„Alles schön und gut“, sagte Morg. „Jetzt hast du also deine Schoßhündchen vorgeführt. Und nun?“
„Oh, keine Sorge. Es ging nicht um die Vorführung. Das sind reine Sicherheitsmaßnahmen. Jemand möchte mit euch sprechen“, antwortete Zuak und deutete zur Empore hinauf, die dunkel etwa zwanzig Schritt über uns schwebte. Ich folgte seiner Geste und entdeckte eine schlanke, große Gestalt, die am Rand auftauchte.
Die Königin! Milde lächelnd schaute sie auf uns herab, ihre hohe Stimme ließ die Temperatur im Raum auf der Stelle absinken.
„Die verlorenen Söhne kehren zurück“, verkündete sie. „Und ihr habt Gäste mitgebracht.“
Die schnaufenden Oger und klirrenden Menschenbestien verstummten auf der Stelle. Gespenstische Stille trat ein, lediglich gestört vom Nachhallen ihrer Stimme und dem beständigen, tiefen Brummen.
„Mutter“, sagte ich. Das Wort schmecke wie ein fauler Apfel in meinem Mund. Morg nickte nur.
„So, ihr habt euch also mit der Wahrheit abgefunden. Aber warum“, sie stützte sich auf die niedrige Brüstung und schaute zu uns herab, „spüre ich euch dann nicht?“ Sie bemaß uns mit kritischem Blick. Ich spürte ihn auf meinem nackten Handgelenk. „Ahh“, seufzte sie schließlich.
„Jeden Augenblick“, flüsterte Hidda. Ich ignorierte sie.
Lässig, beinahe beiläufig schwang die Königin ihre langen Beine über die Brüstung und sprang in die Tiefe. Sie raste dem Boden entgegen und für einen Moment hatte ich die Hoffnung, der wuchtige Aufprall würde sie zerschmettern. Selbstverständlich eine sinnlose Hoffnung. Elegant landete das gebrechlich wirkende Geschöpf auf beiden Beinen ohne den Blick von uns zu nehmen. Sie löste ihre Füße aus den beiden kleinen Kratern, die der Aufprall gerissen hatte, und schlenderte auf uns zu. Kurz vor uns blieb sie stehen und ergriff meine Hand. Ein kalter Schauer durchfuhr mich wie der Sprung in einen Bergsee im Winter. Sie fuhr bedauernd mit ihrer knorrigen Hand über mein Handgelenk.
„Sag‘ mir, hast du deine Fähigkeiten nicht genossen?“, knarzte ihre Stimme. „Warum weist du mein Geschenk ab?“
„Ich war verwirrt“, log ich. „Ich... wusste nicht... Die Wahrheit, die du mir gezeigt hast, hat mich überwältigt.“ Das wiederum war nicht gelogen. Ich starrte auf den Boden wie ein ungezogener Schuljunge.
„Es ist nicht deine Schuld, hörst du? Dieser Makel in dir. Deine innere Abwehr meinem Geschenk gegenüber. Das hast du von deinem Vater. Auch er war ein Dickkopf.“
„Hidda“, zischte Mina, nicht ganz so unhörbar, wie sie dachte.
„Mein Vater?“, fragte ich. „Wer ist er... war er?“
Lächelnd trat die Königin einen Schritt zurück. „Dafür haben wir noch mehr als genug Zeit. Zunächst beenden wir diese Posse.“ Sie ließ ihren zu Stein verhärteten Blick zu den Menschen gleiten.
„Posse?“, stotterte ich. Die Menschen starrten die Königin aus weit aufgerissenen Augen an.
„Ach, bitte. Euer kleines Schauspiel hier war so leicht zu durschauen, das hat ja fast keinen Spaß gemacht.“ Sie trat einen Schritt auf die anderen zu, die vor Schreck zusammenzuckten.
„Ich habe keine Verwendung für euch“, stellte sie sachlich fest. Ihr brennender Blick fixierte Hidda. „Nur du... Du bist etwas Besonderes, nicht wahr?“ Ein weiterer Schritt.
Ich versuchte sie aufzuhalten, doch meine Gliedmaßen gehorchten mir nicht. Ein schneller Blick zu Morg bestätigte meine Befürchtungen: Sein Gesicht war von Schatten umwölkt, seine Iris versank in dunklen Schleiern.
„Morg“, flehte ich. „Komm schon! Nicht jetzt!“
„Warum passiert denn nichts?“, rief Isengrim.
„Keinen Schritt weiter, du Missgeburt!“, bellte Mina, wenig überzeugend, und zog einen Dolch aus ihrem Schuh. Das rang der Königin nur ein amüsiertes Lächeln ab, das sie auf sie herabtropfen ließ.
„Schneid“, stellte sie anerkennend fest. „Vielleicht habe ich doch eine Verwendung für dich.“ Bedrohlich ragte ihre Gestalt einen Kopf über die hinaus.
„Hidda!“, brüllte Hiskam.
„Ich weiß es nicht!“
Mina machte einen blitzschnellen Ausfallschritt, tauchte unter der Königin hindurch und trieb ihr den Dolch tief in die Seite. Mit einem trockenen Pochen drang die Klinge in den Brustkorb. Einen Moment herrschte Stille, als die Kreatur verwundert auf den Griff starrte, der aus ihrem Körper ragte. Jedes andere Lebewesen wäre auf der Stelle totgewesen. Doch die Königin holte mit ihrer langen Pranke wie beiläufig, jedoch mit übermenschlicher Geschwindigkeit, aus und fegte Mina von den Füßen. Sie wurde brutal zurückgeschleudert, flog einige Schritt weit über den harten Felsboden und blieb dort reglos liegen.
„Nein!“, schrie Isengrim.
Die Königin machte sich nicht einmal die Mühe, den Dolch zu entfernen. Sie genoss diesen Moment, das war beinahe zu spüren.
Ich mobilisierte alle Kräfte, die ich hatte. Unsere Freunde hatten nur noch Augenblicke zu leben. Wenn wir jetzt nicht eingriffen, war es um sie geschehen! Mit aller Kraft warf ich mich gegen die innere Mauer, die Morg und mich trennte – dieses tiefschwarze, fremde Bollwerk, das ihn eingehüllt und gefangen genommen hatte und mich ausschloss. Ich trommelte dagegen, schrie und brüllte dagegen an, bot alle Kräfte auf, die ich hatte.
Vergebens.
Hilflos musste ich zuschauen, wie die Königin nur noch einen Schritt von meinen Freunden entfernt war. Hinter ihnen die Oger mit den menschlichen Kettenhunden, vor ihnen die abscheuliche Kreatur. Sie konnten nirgendwo hin. Seelenruhig streckte die Königin ihre knorrige Hand nach Hiskam aus, ihre langen Finger Tentakeln gleich.
Das Beben durchzuckte in Wellen den gesamten Bau. Ließ die Erde erzittern, schickte sich rasend schnell ausbreitende Risse über Decke, Wände, Boden; Staub rieselte von oben herab. Es fegte Menschen und Oger gleichermaßen von den Füßen. Die Königin taumelte zwei Schritte zurück, ihre Augen versprühten überraschtes Erstaunen. Nur einen Wimpernschlag darauf folgte die Druckwelle. Wie ein Wintersturm aus komprimierter Luft fegte er durch die Halle, schob eine Wand aus Staub und Dreck vor sich her. Von einem Moment auf den anderen waren wir in einen dichten Schleier aus Sand gehüllt, der jegliche Sicht nahm.
Morg und ich taumelten umher, in den Ohren ein brüllendes Klingeln. Übelkeit breitete sich in der Magengegend aus. Das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich schloss die Augen, kämpfte gegen den Drang an – und fand die Mauer in meinem Inneren eingerissen vor!
„Morg!“, schrie ich, über das allgemeine Chaos hinweg.
„Ja! Ich bin da!“
„Verdammt, wo warst du?“
„Ich... hatte Schwierigkeiten. Aber nun ist es gut. Was war das gerade, bei Tÿl?!“
„Ich weiß es nicht! Aber es hat uns eine Chance verschafft! Bist du bereit?“
„Bereit!“, donnerte er.
Morg hob seinen Streithammer auf und umklammerte ihn fest. Nicht einen Schritt weit konnte ich sehen.
„Hidda?“, rief ich in den staubigen Nebel hinein. Keine Antwort.
Wir stolperten umher, benommen und orientierungslos, in dem Meer aus irritierenden Sinneswahrnehmungen und verwirrender Hilflosigkeit. Vor uns tauchte plötzlich ein Schatten auf, manifestierte sich aus dem Nichts und kam auf uns zugeflogen. Morgs Reflexe brachten gerade noch rechtzeitig den Hammer herum, der das Ding aus der Luft pflückte. Der Treffer zerschmetterte etwas in dem Körper, der unter metallischem Rasseln zum Erliegen kam.
Einer der Kettenhunde!, schoss es mir noch durch den Kopf, kurz bevor auch dessen Besitzer auftauchte. Morg zögerte nicht lange und brachte den mit Stacheln gespickten Hammerkopf auf Kollisionskurs. Der Einschlag war brutal, seine Wucht pflanzte sich durch die Waffe hindurch fort bis zu Morgs Händen, wo sie schmerzhaft widerhallte.
„Uff“, machte der Oger nur, als seine Panzerung in hohem Bogen abplatzte und er in die Unsichtbarkeit zurückgeschleudert wurde.
Langsam lichtete sich der Staub, die Sichtweite erhöhte sich schleichen. In einiger Entfernung erspähte ich die Menschen, die sich um Mina gescharrt hatten und gerade dabei waren, ihr aufzuhelfen. Ich eilte zu ihnen und ließ mich auf die Knie sinken.
„Geht es euch gut?“, rief ich und fand Hiddas Blick, der Verwirrung aber auch Erleichterung in sich trug. Sie nickte hektisch.
„Was, verdammt nochmal, war das?“, rief ich, als ich Minas Hand ergriff und ihr schwankend auf die Füße half.
„Ein Willkommensgeschenk von uns“, keuchte Mina und spuckte einen Mundvoll Blut auf den Boden.
„Knallpulver nennen wir das. Höchst experimentell“, rief Hidda.
Mit einem Mal wurde es mir klar. „Deine Tasche vorhin! Da drin war dieses Knallpulver?“
Sie nickte. „Umgeben von einer zerbrechlichen Schale, die den Katalysator enthält. Zeitverzögerte Reaktion“, kürzte sie die Erklärung ab.
„Die Explosion sollte diesen Teil des Baus von den Unterkünften der Keszz-Drohnen getrennt haben“, sagte Mina und zog ein Schwert aus Hiskams Tasche, die er auf dem Rücken trug.
„Und das war also euer Plan?“, fragte Morg.
Durch den sich lichtenden Staub konnte ich nun undeutlich die Königin sehen, die sich, ihre Oger im Rücken, uns zuwandte.
„Ich hoffe, das war nur ein Teil des Plans“, murmelte ich.
„Bravo!“, sagte die Königin ruhig, mit das Chaos aus Lärm und Bewegung mühelos durchschneidender Stimme. „Ich muss sagen, die Überraschung ist gelungen.“
Sie zog Minas Dolch wie einen lästigen Splitter aus der Haut und warf ihn verächtlich beiseite.
„Ich muss alles über dieses Knallpulver erfahren! Wie nett von euch, mir ein solch mächtiges Geschenk zu machen.“
Ihre Oger formierten sich und schwärmten zu den Seiten aus, die ehemals menschlichen Kreaturen zu wildem Schnappen und Fauchen aufgeheizt. Bedrohlich kreisten sie uns ein. Hinter ihnen erblickte ich den Ausgang in unerreichbarer Ferne, getrennt durch eine Mauer aus Fleisch und Stahl, Klauen und Dornen, Zähnen und Äxten.
Schnell schaute ich mich um. Wir waren in dem Durcheinander weit in den Raum hinein geraten und sahen uns nun an die Wand gedrängt, in der das verlassene Loch gähnte, durch das einst der Wurm sein Maul geschoben hatte. Dunkles Erdreich tat sich dahinter auf, das ins Nichts zu führen schien.
„Scheint, als säßen wir fest“, stellte Isengrim nüchtern fest. Sie hatte von irgendwo zwei lange Einhandschwerter hergeholt, die sie nun lässig durch die Luft rotieren ließ.
Ich sah Hidda ihre automatische Armbrust entfalten und einsatzbereit machen, Hiskam seine Axt hervorspringen lassen, Yosanna sich einen Gürtel mit unterschiedlichsten Phiolen und Fläschchen umbinden und Mina ihr Kurzschwert hervorzaubern.
Überrascht warfen Morg und ich uns einen kurzen Blick zu.
„Nun, es ist ein Anfang“, grinste ich.
Die Königin blieb stehen und schaute uns einen Augenblick lang einfach nur an.
„Somit haben sich meine Befürchtungen wohl bestätigt. Wisst ihr, tief in mir drinnen, da wohnt ein kleines naives Mädchen, das tatsächlich geglaubt hat, ihr beide wärt zur Vernunft gekommen. Zugegeben, ihre Stimme war von Anfang an dünn und leise... aber sie war da! Ich hatte Großes mit euch vor. Eine so vielversprechende Kombination aus roher Gewalt“, sie schaute zu Morg, „und magiebegabter Intelligenz.“ Ihr Blick kam auf mir zum Ruhen.
„Aber gut! Wie ich sehe, widersetzt ihr euch weiterhin eurer Bestimmung und versucht, diesen Kreaturen zu helfen.“ Sie spuckte das Wort beinahe in Richtung der Menschen.
„Dann werden wir das eben auf die altertümliche Art erledigen. Un’ro!“, donnerte sie.
„Was? Nein!“, entfuhr es Morg.
Aus den Reihen der Oger löste sich eine Gestalt und trat mit bebenden Fußtritten vor. Wenn dies wirklich Un’ro war, so konnte ich ihn nicht erkennen. Sein gesamter Körper war in eine massive, organisch wirkende Panzerung gekleidet, die mit scharfen Stacheln und Widerhaken übersät war. Der Mensch an seiner Kette mochte einst eine Frau gewesen sein, doch jede Ähnlichkeit war abhandengekommen. Den Kopf zierte ein immenses Maul voller scharfer Zähne, das wild in die Luft schnappte.
„Bring‘ sie mir“, ordnete die Königin in aller Ruhe an.
Ohne auch nur zu zögern, stapfte er entschiedenen Schrittes los und auf uns zu.
„Un’ro, warte!“, rief ich. „Du kennst uns! Wir sind Freunde! Halt!“ Doch es war sinnlos, unter seinem Panzerhelm zeichnete sich keine Reaktion ab, die eine Erkenntnis vermuten ließ. Die Menschkreatur zog gierig an der Kette.
„Was sollen wir machen?“, rief Morg, der einen sicheren Stand einnahm und den Hammer fest mit beiden Händen umklammerte. Un’ro war noch zehn Schritte entfernt und kam schnell näher.
„Scheiße. Er oder wir, Morg! Verteidige uns!“
Un’ro holte hinter seinem Rücken die gewaltige Axt hervor, die Hidda einst für ihn geschmiedet hatte, und stürzte sich brüllend auf uns.
Morg brachte hastig den Schaft des Hammers zwischen uns und die Axt. Kreischend prallte Metall auf Metall, der Einschlag riss Morg schmerzhaft die Waffe aus der Hand und warf uns zu Boden. Kaum hatte ich verstanden, was passiert war, da ging bereits der nächste Hieb auf uns nieder. Im letzten Augenblick schaffte es Morg, sich mit einer Rolle aus der Flugbahn der Klinge zu retten, die sich tief in den harten Felsboden bohrte und dort stecken blieb.
Noch während wir uns aufrappelten, stürzte sich Un’ros Menschkreatur auf uns und bohrte seine Fänge tief in meine Schulter. Glühender Schmerz explodierte vor meinen Augen.
„ARGH! Jetzt habe ich aber... die Schnauze... voll!“, brüllte Morg. Ich spürte, wie die rote Flut seinen Körper durchströmte und er in den Rausch abglitt. Wahrscheinlich war es unsere einzige Chance, gegen Un’ro zu bestehen, und doch hatte ich Zweifel, ob die Königin sich dieser gesenkten Hürde zwischen ihr und ihm nicht zunutze machte.
Er fuchtelte nach der Kreatur und bekam ein Bein zu fassen. Mit einem heftigen Ruck riss er an ihr, was die Kreatur zwar von uns löste, mich jedoch auch ein großes Stück Fleisch kostete. Warme Feuchtigkeit ergoss sich über unseren Rücken. Doch ich spürte es kaum, Morg war überall in unserem Körper.
„Du verdammtes-“ Er wirbelte das Wesen wie eine Puppe herum und donnerte es brutal auf den harten Boden. Knochen brachen, Haut platzte auf, Blut ergoss sich aus dem mutierten Körper. Ein jaulendes Zischen entfuhr dem Geschöpf, kurz bevor ihm alles verbleibende Leben entwich.
Morg hielt nicht inne, nutzte seinen Schwung und katapultierte den blutigen Fleischhaufen in Un’ros Richtung. Mit einem satten Schmatzen prallte das Knäuel aus Gliedmaßen gegen ihn. Auch wenn ein Oger sicherlich fünfmal so viel wog wie ein Mensch, und ihn die Kollision kaum kümmerte, reichte sie doch aus, um ihn für kurze Zeit aus dem Gleichgewicht zu bringen. Diese Zeit reichte Morg, um einen Angriff zu platzieren. Er legte alle Kraft in einen aufwärtsgerichteten Schwung und schickte den riesigen Kopf seines Streithammers in Richtung Un’ros Körpermitte. Die Waffe schlug mit brachialer Gewalt ein, sodass dessen Panzerung in mehrere Teile zersplitterte. Ich hörte das altbekannte Brechen von Knochen, als Un’ro zur Seite geschleudert wurde und dort ohnmächtig liegenblieb.
Ich schaffte es gerade noch, Morg davon abzuhalten, seinen tödlichen Tanz fortzuführen und ihm mit einem finalen Hammerschlag den Rest zu geben.
„Nicht! Halt! Er ist unser Freund“, rief ich.
„Du! Du... hast recht“, keuchte er und ließ sich neben dem Oger auf die Knie fallen. Un’ro atmete gleichmäßig, war also am Leben.
„Mitgefühl“, hörte ich den Tadel der Königin über meinen rasselnden Atem hinweg. „Ein so nutzloser Wesenszug. Wir haben noch viel zu tun“, seufzte sie. „Also schön. Das war ja alles höchst amüsant und unterhaltsam, aber ich verliere die Geduld. Ich brauche eure Kooperation nicht, wisst ihr? Ich brauche nur euer aller Körper, euer Blut.“
Die ‚Küche‘ tauchte vor meinem geistigen Auge auf, wie das Blut, die Essenz des Wesens in einen Behälter gepumpt wurde.
„Das wirst du dir hart erarbeiten müssen!“, rief Mina.
„Arbeit? Das klingt so mühsam“, lächelte sie. Mit einem Mal fuhr ein tiefes Grollen durch den Boden der Höhle, das uns schwanken ließ.
„Noch eine Ladung Knallpulver?“, flüsterte ich, als wir zu der Lintbrut geeilt waren.
„Nein, ich hatte nur die eine“, antwortete Hidda. „Das ist etwas-“
Aus der klaffenden Öffnung in der Wand hinter uns tönte plötzlich ein Zischen und Schnaufen, das die Luft vibrieren ließ. Vereinzelte Gesteinsbrocken lösten sich aus der Wand und purzelten in den Schlund hinab. Etwas schien sich darin emporzuarbeiten.
„-anderes“, beendete Hidda ihren Satz in dem Moment, als der Wurm hervorstieß und rumpelnd in dem Durchbruch zur Ruhe kam. Sein riesiges Maul begann sich langsam zu öffnen und entließ stinkende Gase in die Halle.
„Was zur Hölle ist das?“, fluchte Hiskam und stolperte einen Schritt zurück, den Kopf in den Nacken gelegt, um die ganzen Ausmaße der Kreatur zu begreifen.
„Unwichtig“, rief ich. „Aber in wenigen Minuten werden sich Horden von Keszz daraus ergießen und uns ertränken.“
„Man, warum habe ich mich bloß für diese verdammte Mission gemeldet?“, fluchte Isengrim. „Was jetzt, Chef?“
„Schnappt sie euch“, durchschnitt die eiskalte Stimme der Königin den dumpfen Lärm des sich setzenden Wurms. „Ob tot oder lebendig ist egal.“
Die angeketteten Menschenkreaturen gerieten in ekstatische Rage, als die Oger mit ihrem Ansturm begannen.
„Oh“, sagte Mina nur.
Wir nahmen hastig Aufstellung, fünf Menschen und ein Oger gegen zwei Dutzend Feinde, jeweils mit angekettetem Diener, im Rücken der klaffende Schlund der Wurms, aus dem hintergründiges Rascheln und Zischen zu hören war – die herannahenden Horden der Keszz.
„Das sieht nicht gut aus!“, rief Yosanna und brachte ihre ominöse Metallbüchse in Anschlag.
„Ach so? Sonst noch Neuigkeiten?“, bellte Isengrim zurück. „Scheißescheißescheiße!“
Wir hatten nur noch Sekunden, bis die rollende Wand aus Fleisch und Stahl uns plattgewalzt haben würde.
Plötzlich zischte von irgendwo ein Projektil heran und fand zielsicher die Lücke in der Panzerung eines der Oger. Auf der Stelle knickten ihm die Beine Weg und er fiel zu Boden, noch ein Stück weit vorangetrieben von seinem Schwung.
„Was?“, keifte die Königin. Ohne hörbares Kommando brachen die Oger ihren Ansturm ab und kamen mit schlitternden Füßen zum Stehen.
„Da oben!“, rief Mina. Auf der Empore war eine Gestalt zu erkennen, eine große Armbrust im Anschlag, die offenbar der Absender des Projektils war. Es war ein Mensch, der kurz die Hand zum Gruß hob und dann eilig die Waffe nachlud.
„Dahlas Truppen“, rief Hidda erleichtert. „Keinen Moment zu früh!“
Zu der Gestalt gesellten sich Weitere, bis etwa zehn Menschen nebeneinander an der Brüstung standen und begannen, die Oger unter Beschuss zu nehmen.
„Woher-?“, begann ich. In dem Eingang hinter der Königin sah ich nun weitere Menschen in die Halle stürmen.
„Dein kleiner Geheimgang, du erinnerst dich?“, rief Mina über den sich entfaltenden Schlachtenlärm. Die Oger machten kehrt, um sich der neuen Bedrohung zu stellen.
„Wie haben die ihren Weg durch das Labyrinth bloß gefunden?“
„Zeit genug haben sie sich jawohl gelassen“, antwortete Hiskam.
Mina trat zu uns und packte ihn am Kragen. „Seid ihr fertig mit Quatschen? Wir haben eine Schlacht zu schlagen!“
Er nickte ihr mit breitem Grinsen zu. „Zeigen wir’s ihnen.“
„Fertig, Morg?“, fragte ich.
„Fertig!“
„Auf sie!“
Damit stürzten wir uns in die Schlacht, die von einem Moment auf den anderen zu unseren Gunsten zu stehen schien. Wenn Dahla tatsächlich ihre gesamte Truppe durch den Tunnel geführt hatte, waren wir etwa fünfzig Männer und Frauen. Unser Sieg war mit einem Mal ein realistischer Ausgang dieser Schlacht – doch ein steiniger Weg führte dorthin.
Viel Zeit blieb nicht, um Siegchancen zu kalkulieren, denn die Oger hatten ihre Kreaturen von den Ketten gelassen. Eine von ihnen huschte geschickt im Zickzackkurs auf uns zu, wich Morgs Hammer aus und tauchte durch unsere Deckung. Eine scharfe Kralle, die eher einer Klinge glich, fuhr längs über unseren Torso und hätte, wäre unsere Panzerung nicht gewesen, uns den Bauch aufgeschlitzt. Metallisches Kreischen zeugte davon, dass diese Begegnung einen tiefen Kratzer hinterlassen würde. Morg holte mit dem Knauf aus und ließ ihn kurzerhand auf den Kopf der Kreatur niedersausen. Ein saftiges Knacken quittierte irreparablen Schaden.
Weiter!
Ein Oger, düstere Augen hinter engen Schlitzen seines Helms, war zwei Schritt entfernt und holte soeben Anlauf, als er mit einem Mal in eine giftgrünen Wolke eingehüllte wurde. Es zischte und brodelte, seine Schreie zeugten von unermesslichen Qualen. Als er aus der Wolke heraustorkelte, hatten sich tiefe Löcher in seine Panzerung gefressen, die auch vor Haut und Knochen nicht Halt zu machen schienen. Ich hörte Yosannas triumphierenden Schrei.
Mitleid schlich sich in meine Gedanken. Das sind deine Leute!, rief eine Stimme. Doch ich würgte sie ab. Um uns alle zu retten, mussten diese hier sterben.
Ich erspähte die Königin, die damit beschäftigt war, ihre Krieger neu aufzustellen und Geschossen von der Empore auszuweichen. Wir mussten das hier beenden, so schnell es ging!
„Mina!“, rief ich und schaute mich um. Sie war gerade dabei, in einer tänzelnden Pirouette eine der Menschenkreaturen geschickt zu umrunden und ihr Kurzschwert in dessen Nacken zu versenken. Ihr Kopf schnellte hoch.
Ich gestikulierte in Richtung der Königin. Sie verstand augenblicklich und pfiff der Lintbrut ein präzises Kommando zu. Ohne abzuwarten wandten wir uns um und begannen zu laufen.
Eine weitere Menschenkreatur sprang uns in den Weg, doch wir trampelten sie einfach nieder. Ich fühlte ihren Körper unter unseren Füßen knirschen und knacken.
Ein Oger, der uns in die Flanke fiel, hieb mit seinem stachelbewährten Knüppel auf uns ein. Morg reagierte zu spät und konnte Schaden nur abmildern, nicht verhindern. Er drehte sich im letzten Moment weg, sodass der Knüppel nicht seinen Kopf, sondern nur seine Schulter erwischte. Die Waffe grub sich tief in sein Fleisch, riss die Haut auf und hinterließ eine klaffende Wunde.
Ein Donnern rollte durch die Kammer, kurz darauf sackte der Oger erschlafft zu Boden. Ich warf einen hastigen Blick zurück und sah Hidda, die ihre kuriose Waffe im Anschlag hatte. Ein dünner Rauchfaden kräuselte sich aus ihrer Öffnung.
Morg stoppte nicht. Wie eine Felsbrocken, der einen Abhang hinunterrollt, walzten wir unaufhaltbar auf die Königin zu. Und auf einmal hatten wir den Raum durchquert. Nur noch drei Schritte trennten uns von der Königin! Ein massiges Schwert sirrte von der Seite heran, dem Morg mit einem geschickten Hechtsprung auswich. Wir schlitterten über den Boden auf die Königin zu, während wir den Hammer herumbrachten. Bereit zum Schlag. In diesem Moment hallte eine Frage durch meinen Kopf: Im Grunde hatten wir keine Idee, wie wir sie besiegen wollten!
Die Zeit schien sich in die Unendlichkeit zu dehnen, das Schlachtengetümmel um uns herum schien stillzustehen. Ich nahm meine Verbündeten um mich herum wahr: Generalin Dahla, die alle Hände damit voll hatte, die Verteidigungslinie am Übergang zur Haupthalle zu halten; entdeckte die beiden unglücklichen Wachtposten, die uns in der Nacht am Tümpel beinahe erschossen hatten, von denen nun der eine den anderen verblutend im Arm hielt; sah die Lintbrut, wie sie schoss, stach und Phiolen warf; stellte irritierend zufrieden fest, dass ein Oger nach dem anderen fiel; und nicht zuletzt Hidda, die mir hinterherschaute, ihr Blick an meinen geheftet, den Mund zu einem immerwährenden O geformt.
Der Moment verstrich. Die dämonisch lodernden Augen der Königin tauchten vor mir auf. In aller Ruhe – ja, beinahe schon erfreut – schaute sie auf uns herab, wie wir ihr entgegen rutschten. Sie hatte sich bisher noch nicht die Mühe gemacht, persönlich in die Schlacht einzugreifen. Ihre pergamentartigen, vertrockneten Lippen war zu einem Lächeln geformt. Eine innere Stimme stellte noch irgendwo in meinem Hinterkopf die Frage, warum sie nach wie vor so selbstsicher war, wo doch die Schlacht nicht gerade zu ihren Gunsten verlief.
Morg stemmte die Beine in den Boden, was uns ruckartig abbremste und auf die Beine katapultierte. Im selben Moment vollführte er einen blitzartigen Auffwärtsschwung mit dem Hammer, der selbst für mich überraschend kam – und doch nur Luft traf.
Wir hatten sie verfehlt! Wie war das möglich? Nichts und niemand ist so schnell!
„Na na!“, tadelte die Königin entspannt.
Morg schwang herum und legte alle ihm zur Verfügung stehende Kraft in den nächsten Hieb. Doch die Königin – sie war ein zuckender Blitz, ein undeutlicher Schatten am Rande meines Sichtfelds. Mit unbeschwerter Leichtigkeit wich sie dem blutigen Hammerkopf aus.
„Oh, gar nicht schlecht!“, lobte sie nun.
Morg geriet in Rage ob dieser Provokation. Er hieb und schwang, boxte und pirouettierte – vergebens! Sie war uns stets einen Schritt voraus, was ihn noch weiter in die Raserei trieb.
„Bleib bei mir, Bruder!“, schrie ich ihn an. Doch er hörte nicht, blendete alles aus, was um ihn herum existierte. Zu spät spürte ich die sich auftürmende Mauer, die Fänge der Königin, die langsam aber unaufhaltsam in seinen Geist und somit unseren Körper krochen.
„Morg, verdammte Scheiße, nicht jetzt!“
Hoffnungslos. So optimistisch er seine Verteidigung gegen sie beurteilt hatte, so sehr strafte sie nun seine Naivität. Er war zu weit gegangen, war bis zur Klippe gerannt und hatte dann den entscheidenden letzten Schritt zu viel getan. Er befand sich im freien Fall, in den Schlund der Bestie hinein.
Wir erstarrten mitten in der Bewegung, vornübergebeugt, den Hammer mit beiden Händen umklammert.
„Morg?“, brüllte ich, bekam jedoch keine Antwort.
„Sei nicht so streng zu ihm“, säuselte die Königin und trat auf uns zu. Zärtlich strich sie über seine Wange, hinterließ mit ihren Fingerspitzen muster in seinem blutbesprenkelten Gesicht. „Er war immer der bravere von euch beiden, weißt du?“
Ich zuckte hilflos mit dem Kopf hin und her. Um uns herum tobte die Schlacht, nur die Königin und wir schienen uns im Auge eines Orkans zu befinden.
„Du bist derjenige, der ihn zu solcher Rebellion anstiftet, der ihn auf dumme Ideen bringt.“ Sie beugte sich zu mir, ihr fauliger Atem strich kalt über mein Gesicht.
„Freier Wille?“, sie spie die Worte angewidert aus. „Bestrafen werde ich dich, auch nur an so etwas zu denken! Ein Jammer, dass du deinen Bruder da mit reingezogen hast, denn er wird zwangsläufig auch darunter leiden.“ Ihre Augen waren eiskalte Grausamkeit.
„Aber zunächst werden wir dieses Schauspiel hier beenden. Hörst du das?“ Über den Schlachtenlärm hatte sich beständiges Summen und Flattern gelegt.
„Es war ein wirklich schlauer Zug, den Zugang vorne zu sprengen. Aber!“ Sie kicherte. „Woher sollten die Menschen auch wissen, dass es einen Hintereingang gibt?“ Sie nickte in Richtung des Wurms. „Einen Hintereingang, der in Dutzende Welten führt, wo Abermillionen meiner Diener warten. Und die sind jeden Augenblick hier.“
Glühend heißer Zorn brach sich Bahn, stroboskopartig flackerten Bilder in meinem Geist auf, von Freunden, Gefährten und Geliebten, deren Leben die Königin bereits zerstört hatte oder im Begriff war, es zu tun. Verkohlte Landschaften, zerstörte Dörfer, purpurner, giftiger Himmel.
„Was-?“, rief sie. Es war das erste Mal, dass ich Überraschung in ihrem Gesichtsausdruck entdeckte. Sie glotzte mich mit weit aufgerissenen Augen an; erst mich, dann meinen Arm und schließlich meine Hand, die sich um ihren Hals geschlungen hatte.
„Wie?“, krächzte sie.
Ich war mindestens genauso überrascht wie sie.
Dann Dunkelheit.