Chronologie der Weltgeschichte, verfasst von Chronist Walarian
Transskript des Gesprächs mit Major Dschenn
Walarian: Major, Sie haben sich ja nun seit ihrer ersten Sichtung mit den Ogern beschäftigt. Was können Sie mir über sie erzählen?
Dschenn: Erzählen? Was soll ich dir über die erzählen? Hast du schon mal einen gesehen?
Walarian: Nur kurz, damals in Augul. Also, bevor er sich losriss und... nun ja.
Dschenn: Na bitte, dann weißt du doch schon alles. Mehr musst du über sie nicht wissen. Sie sind dumm, sie sind gefräßig, man kann nicht mit ihnen reden. Oh, ich vergaß: sie sind riesengroß und übermenschlich stark. Noch Fragen?
Valerius blickte anerkennend zu Zuak herüber, vielleicht mit einer Spur Spott. Auch ich musste rückblickend zugeben: Wäre Zuak nicht derart wagemutig – oder dumm – gewesen, hätte die Annäherungen zwischen den Menschen und uns sicherlich sehr viel länger gedauert, wenn sie denn überhaupt geklappt hätte.
„Meister Zuak, einen solchen Wagemut hätte ich dir überhaupt nicht zugetraut!“, sinnierte sie amüsiert. „Es scheint beinahe, als müsste ich mein Urteil über dich revidieren.“ Doch das Lächeln, das sie Zuak zuwarf, war kühl und wenig freundlich. Um das Eis zu brechen, machte ich weiter.
***
So machten wir uns also, mal wieder, auf den Weg nach Augul – Zuak, Morg und ich. Von unserem Stamm ernteten wir nur hämisches Gelächter, als wären wir trotzige Kinder, die verblendet einer hirnverbrannten Idee hinterherliefen. Trotz mochte eine Rolle dabei spielen, doch ich war fest davon überzeugt, dass wir in Zuak einen Verbündeten gefunden hatten. Mit ihm an unserer Seite würden wir erfolgreich sein. Außerdem konnte ich mit den Menschen nun kommunizieren, was einen riesigen Unterschied machte. Die einzige Ungewissheit blieb nun lediglich, wie nachtragend sie sein würden. Ich schüttelte diese Zweifel bewusst ab. Sicherlich würden sie schnell die Fehler ihres Handelns einsehen.
Wir kamen nur langsam voran, was hauptsächlich an Zuak lag. Die vom Regen aufgeweichte Erde bereitete ihm Schwierigkeiten und ohnehin waren Menschen langsam. Mitte des zweiten Tages standen wir schließlich vor seiner Behausung. Wir hatten einen Umweg eingelegt und waren nicht direkt nach Augul gereist, da Zuak meinte, er müsse für dieses Vorhaben die 'beste Version seines Selbst' sein, was auch immer das hieß. Ich gebe aber zu, seine Kleidung war nach der langen Zeit bei uns kaum mehr als ein löchriger Fetzen, der ihm schlaff am Leib hing. Unsere traditionelle Kleidung – locker zu einer Robe gewickelte Stoffbahnen – hatte er bis zuletzt nicht gemeistert.
"Und hier wohnst du also?", murmelte ich anerkennend, als ich die einfache Behausung betrachtete. Die niedrige Hütte war bis auf wenige Holzlatten aus Materialien zusammengezimmert, die der Wald so hergab: Äste und Zweige, kleinere Findlinge und Tierfelle. Kurzum, es sah äußerst zugig und nass aus, fast wie eine Oger-Hütte, bemerkte ich angenehm überrascht.
Zuak nickte stolz. "Toll, was? Ein Leben im Einklang mit Mutter Natur!"
"Deine Mutter wohnt hier auch?", hakte ich nach und schaute mich verdutzt um.
"Was? Ach so. Nein, das sagt man nur so. Im Einklang mit der Natur. Besser?"
"Kann man denn nicht im Einklang mit der Natur leben?" Die Lebensweise der Menschen gab mir nach wie vor Rätsel auf.
"Nun, du hast doch die Menschen in Augul gesehen bei deinem ersten, ähm, Besuch, oder? Glaubst du, ein einziger von diesen Stadtmenschen versteht etwas davon, sich ein Tier zu jagen oder giftige von essbaren Pilzen zu unterscheiden?" Er schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, einen Stadtmenschen könntest du hier im Wald aussetzen, der würde sich verirren und verhungern."
"Aber nicht du."
"Nicht ich, ich lebe im Einklang mit Mutter Natur", sagte er erneut und lächelte milde. "Also, einen kurzen Moment, während ich mich schnell stadtfein mache und dann können wir auch schon weiter." Damit warf er den schweren Stoffvorhang, der als Tür diente, zur Seite und verschwand im Inneren. Der unmittelbare Umkreis der Hütte sah zugegeben ein wenig chaotisch aus, überall lag achtlos fortgeworfener Unrat herum.
Ein wenig gelangweilt stapften Morg und ich umher, ohne so richtig zu wissen, wie wir uns die Zeit vertreiben sollten. Es schien allmählich kälter zu werden, die Tage waren schon deutlich kürzer geworden im Vergleich zu einigen Mondzyklen vorher. Mit einem Mal ertönte aus dem Inneren der Hütte ein gellender, hoher Schrei. Etwas schien dort drin in Panik zu sein.
Ohne zu zögern eilte ich zum Eingang und zwängte mich durch die schmale Tür. In der Hütte selbst war es zwielichtig, sodass ich einen Moment brauchte, um etwas zu erkennen. Aufgrund der niedrigen Decke musste ich auf die Knie kriechen und obendrein noch den Kopf einziehen. Morg hatte das nicht beachtet und stieß sich heftig den Kopf, sodass die Decke bedrohlich knackte.
"Au", murrte er und schaute an die Decke, wo sein Stirnhorn ein Loch hinterlassen hatte.
In der Ecke sah ich schließlich Zuak hocken, die Arme um die Beine geschlungen. Mit aufgerissenen Augen starrte er panisch auf etwas am Boden.
"Zuak, was ist?", fragte ich und krabbelte ein Stück auf ihn zu.
"Kommt nicht näher!", kreischte er wie von Sinnen. "Da ist ein... ein..."
Mit einem Mal erkannte ich, was ihm diesen Schock versetzt hatte: Auf dem Boden vor ihm saß ein etwa faustgroßes Geschöpf, aus dessen wurmartigen Körper Dutzende dürrer Beinchen ragten. Es schien Zuak zu fixieren, ohne sich zu bewegen.
"Ein Loqi?", vermutete Morg.
"Du hast recht", pflichtete ich ihm bei.
"Ein was?", kreischte Zuak.
"Wir nennen sie Loqi. Wie nennt ihr es?"
"Ich habe... so etwas noch nie gesehen!", jammerte Zuak. "Und es kann Blitze schicken!"
Morg und ich lachten gleichzeitig auf. "Oh ja, das können sie", bestätigte ich. Das kleine Scheusal verhielt sich nach wie vor ruhig. "Aber nur, wenn sie sich bedroht fühlen. Aber warte mal, du hast noch nie einen von ihnen gesehen?"
"Darf ich das bitte später erklären? Was machen wir jetzt... damit?", rief er und fuchtelte in Richtung des Loqi, das zischend zurückfauchte.
Wir zuckten mit den Schultern. "Einfach", brummte Morg, krabbelte langsam auf das Loqi zu und hieb schließlich mit der flachen Pranke auf das nichtsahnende Geschöpf ein. Ein schmatzendes Geräusch kündete davon, dass das Problem auf der Stelle behoben war. Morg zog seine mit Innereien beschmierte Hand langsam zurück und betrachtete sie eingehend. Der dunkle Fleck, der einst das Loqi gewesen war, brutzelte leise.
"Ist es...?", stammelte Zuak.
"Tot, ja. Aber ich würde vielleicht einen Bogen um diesen Fleck machen. Die Berührung damit kann immer noch wehtun", erwiderte ich und grinste ihn an.
"Was zum Teufel ist das?", murmelte er, während er behutsam auf die Überreste zukroch.
"Du meinst das also ernst, dass du von denen noch nie einen gesehen hast?", fragte ich baff.
Zuak schüttelte nur abwesend den Kopf.
"Interessant. In unserer Welt sind sie heimisch, man findet sie in jeder Höhle." Ich hörte genüssliches Schlecken zu meiner Linken und konnte mir gut vorstellen, was Morg gerade mit den Überresten an seiner Hand machte. "Bei uns gelten sie als, hm, Leckerei." Ich wusste nicht, warum mich Morgs Verhalten in diesem Moment ein wenig peinlich berührte.
"Als mich sein Blitz traf, war mein ganzer Körper gelähmt, ich fiel einfach so um. Solche Schmerzen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt", stammelte Zuak und rieb sich das Bein.
"Oh, ja, die Blitze sind unangenehm, aber nicht mehr als ein Piekser. Bei unseren Jungspunden ist es eine Mutprobe, sie lebendig herunterzuschlucken. Das solltest du mal ausprobieren."
Ungläubig blickte er zu mir auf und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. "Du veräppelst mich."
"Veräppelst?"
"Du tischst mir eine Geschichte auf, flunkerst mich an."
Ich musste laut lachen. "Nein, mache ich nicht. Aber, warte! Wenn du sagst, du hättest noch nie einen gesehen...?"
"Niemand hat schon einmal so etwas gesehen oder davon gehört", behauptete er entschieden und richtete sich mit wackligen Knien auf.
"... wo kommt es dann her?“ Ich hatte eine vage Ahnung, dass das eine wichtige Frage war, doch ich kam nicht darauf, warum. „Sei's drum. Bist du fertig... bist du die beste Version deines Selbst?"
"Ähm, ja, ich bin... nein. Ich brauche eine neue Hose."
Am Morgen des nächsten Tages, wir hatten eine kühle Nacht unter freiem Himmel verbracht, sahen wir erneut die Spitzdächer Auguls sich aus der Landschaft erheben.
"Also der Bürgermeister regiert die Stadt, der Vogt regiert das Land und der König das ganze Reich, sagst du?", fasste ich nochmal Zuaks Erklärungen zusammen.
"Kurzgefasst, ja."
"Das bedeutet also, der Vogt steht über dem Bürgermeister. Warum gehen wir nicht direkt zu ihm? Oder zum König?"
Doch Zuak winkte umgehend ab. "Die Kunde von euren, ähm, Taten haben sich sicherlich wie ein Lauffeuer im Reich verbreitet. Wir brauchen einen Fürsprecher. Und am besten wäre da jemand geeignet, der dabei gewesen ist."
"Ja, schon in Ordnung. Du kennst deine Leute besser als ich. Was hast du vor, welche Strategie hast du dir überlegt?"
"Strategie? Wie?" Zuak runzelte die Stirn, was sich bis zu seinem kahlen Haupt fortpflanzte. "Nein, brauche ich nicht. Ich lasse das einfach auf mich zukommen." Er lächelte mich dünn an. "Ich improvisiere."
"Impro-", wiederholte ich, nicht gänzlich überzeugt.
"-visieren. Wirst schon sehen, ist ein ganz einfaches Konzept." Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Trinkbeutel und streckte die Brust raus. In der Ferne hörte man Glocken angsterfüllt läuten. "Ich denke, wir werden erwartet. Auf gehts!"
Morg brummte ein wenig widerwillig. Ich hoffte, er hatte dieses Mal gut gefrühstückt.
Wir nahmen denselben Weg in die Stadt wie damals. Ich erinnerte mich an die Hütten und den Straßenverlauf. Der Unterschied war allerdings dieses Mal, dass keine Menschenseele zu sehen war, die Wege waren wie leergefegt – oh, und natürlich waren wir dieses Mal nicht in einen Käfig gesperrt. Am Straßenrand starrte uns ein kleines, beharrtes Raubtier an, das einen Buckel machte und laut fauchte, als es uns sah. Abgesehen davon herrschte Totenstille.
"Wo sind all die Menschen?", fragte ich.
"Ich bin mir sicher, die haben sich versteckt. Haben Angst", murmelte Zuak und schluckte schwer.
Wir stapften weiter die schlammige Piste entlang, bis wir schließlich das steinerne Tor erblickten. Das massive Fallgitter war verschlossen, auf den Zinnen der Wehrmauer waren undeutliche Umrisse zu erkennen, wahrscheinlich Soldaten. Als wir stehenblieben und emporblickten, legte sich angespannte Stille über die Szene, nur hin und wieder unterbrochen von knisternden Fackeln, die die Trübheit des Tages zu verscheuchen versuchten. Niemand regte sich. Hin und wieder hustete jemand.
"Soll ich vielleicht-", flüsterte ich zu Zuak.
"Nein, ähm, lass' mich das mal machen", erwiderte er eilig. Ihm standen die Schweißperlen auf der Stirn.
Warum ist er so nervös? Er will doch improvisieren, dachte ich mit einem Hauch von Besorgnis. Morg wand sich unruhig hin und her, auch ihm war die Situation nicht geheuer.
"Guten Morgen!", rief Zuak schließlich mit lauter Stimme, die aber mittendrin in ein nervöses Krächzen abglitt. Er räusperte sich und fuhr fort: "Wir kommen ohne böse Absicht und möchten den Bürgermeister sprechen!"
Verwundertes Gemurmel brandete auf den Zinnen auf. Schließlich trat jemand in schwerer Rüstung in den Tordurchgang und an das Fallgitter heran. Er schien Soldat zu sein, an seiner Hüfte hing ein langes Schwert und einen Helm hatte er sich unter den Arm geklemmt. Sein vernarbtes Gesicht trug einen verwunderten Gesichtsausdruck.
"So so, was hat der Südwind da vor unsere Stadtmauern geweht?", knirschte er mit rauer Stimme. "Was willst du hier? Noch dazu mit diesem... Ding?" Sein Blick huschte abschätzig zu Morg und mir.
"Guten Morgen, Hauptmann. Ich habe von den misslichen Vorkommnissen vor einigen Monaten gehört und dachte mir, ich helfe allen dabei, dieses unsägliche Missverständnis aus der Welt zu räumen."
Der Mann bellte ein kerniges Lachen, das aber wenig Belustigung in sich trug.
Hauptmann, welch ein kurioser Name, dachte ich.
"Zuak, du? Ein selbstloser Gutmensch? Für die Gemeinschaft nur das Beste im Sinn? Leck‘ mich am Arsch! Ich erinnere mich da an andere Umstände... als wir dich damals aus der Stadt gejagt haben." Sein Lachen war restlos verschwunden.
"Aus der Stadt gejagt? Zuak, wovon redet Hauptmann?", flüsterte ich ihm zu.
"Oh, schau an, es kann reden", unterbrach Hauptmann und stierte mich unvermittelt an. Überraschtes Gemurmel unter den wachhabenden Soldaten. "Nenn mir einen Grund, warum ich nicht auf der Stelle den Schießbefehl geben sollte, Scheusal?"
"Mein Name ist Grom, nicht Scheusal. Es freut mich, dich kennenzulernen, Hauptmann", erwiderte ich offen und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Erschrocken wich der einen Schritt zurück und zog sein Schwert, obwohl uns nach wie vor das Gitter trennte. Überall entlang der Mauer hörte ich das metallene Schaben von Waffen, die gezückt wurden. Morg schnaufte aufgeregt.
Wie angewurzelt blieb ich stehen und schielte zu Zuak herüber. "Du hast gesagt, so begrüßen die Menschen sich", wisperte ich und ließ schnell meine Hand sinken.
"Normalerweise schon. Aber hier ist es, ähm, kompliziert", flüsterte er zurück.
"Hauptmann, ich versichere dir", fuhr er an den Mann gewendet fort, "wir kommen in Frieden. Der unglückliche Vorfall mit Gregor war nichts weiter als ein Missverständnis, das wir aus der Welt schaffen müssen! Meinem Freund hier tut es außerordentlich-"
"MISSVERSTÄNDNIS?!", brüllte Hauptmann plötzlich. "Dieses Ding hat fünf Menschen das Leben genommen, vier weitere werden ihr Leben lang Krüppel bleiben! Das nennst du ein Missverständnis?!" Sein Gesicht hatte die Farbe zu Rot gewechselt.
"Nun, ihr habt ihn in einen Käfig gesperrt, wie ein Tier. Wenn ihr ihn behandelt wie ein Tier, dann verhält er sich auch wie ein Tier." Zuak trat an das Tor heran und kratzte offensichtlich jegliches Selbstbewusstsein zusammen, das er aufzutreiben vermochte. "Hauptmann, hört mir zu! Ich war bei ihnen im Dorf. Ja, Ihr habt richtig gehört, ein Dorf! Er ist nicht der einzige seiner Art. Es gibt dutzende mehr. Und mit ihm kann man reden, mit den anderen nicht." Er umklammerte mit seinen Händen die Eisenstäbe und schaute dem Mann tief in die Augen. "Ihr habt gesehen, was er alleine anzurichten vermag. Wollt Ihr wirklich eines Tages seinen gesamten Stamm vor Euren Toren stehen sehen?"
Morg grunzte selbstsicher, obwohl er wahrscheinlich höchstens die Hälfte verstand.
"Glaubt mir, dies ist die eine Chance auf Diplomatie und Frieden zwischen ihnen und uns. Bitte, vergesst meine persönlichen Verfehlungen, haltet sie mir weiter vor, jagt mich wieder aus der Stadt, wenn ihr wollt, aber vergebt nicht diese Möglichkeit, ein grausames Blutvergießen zu verhindern. Ich bürge auf für ihn, wenn Ihr wünscht."
Zugegeben, ich war beeindruckt. Eine tolle Rede, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Auch wenn ich menschliche Emotionen noch nicht gänzlich verstand, konnte ich den Zweifel tiefe Hautfalten auf Hauptmanns Gesicht treiben sehen. Er stand offensichtlich unschlüssig dort, sein Mund zu einer dünnen, gerade Linie geformt. Schließlich nickte er wortlos und verschwand durch das Tor in die Stadt hinein.
Zuak drehte sich zu mir um und nickte. "Nun müssen wir warten und auf das Beste hoffen. Aber ich denke, das lief bisher ganz gut."
Ich grinste ihn dankbar an, fühlte meine Hoffnung steigen. "Und was meinte Hauptmann damit, dass sie dich aus der Stadt gejagt haben?", wollte ich wissen.
"Das, ähm, ist eine lange Geschichte. Auch ein Missverständnis", erwiderte er mit unsicherer Stimme.
"Ihr Menschen müsst dringend an eurer Kommunikation arbeiten. So viele Irrtümer, das ist doch nicht gut!"
"Ja, ähm, da magst du, äh, recht haben."
Ein tiefes metallenes Knarzen ertönte und mühsam begann das Tor, sich zu heben. Wieder einmal kam ich nicht umhin mich zu wundern, wie ein derartiges Wunderwerk funktionierte.
"Also dann. Willkommen in Augul", murmelte Zuak und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Gott steh' uns bei", schob er nach.
Sie hatten eine beeindruckende Garde aufgestellt, die uns durch die Stadt geleitete. Zehn Schwerbewaffnete gingen uns voraus und weitere zehn folgten uns. Durch die Helme konnte ich ihre Gesichter nicht sehen, doch ihre Körperhaltung verriet Anspannung. Auch auf dieser Seite der Wehrmauer waren die Straßen wie ausgestorben. Lediglich hin und wieder lugte jemand vorsichtig durch die Tür oder aus dem schummrigen Fenster eines Wohnhauses.
Werden die Menschen uns jemals vertrauen können?, dachte ich besorgt.
Ich versuchte, möglichst unbekümmert und offenherzig zu schauen, doch ein Blick zu Morg herüber machte mir klar, dass ich allerhöchstens zu Hälfte nahbar wirkte. Die andere Hälfte wirkte wohl eher grimmig und schlecht gelaunt.
Kurze Zeit später standen wir in einer engen, von hohen Mauern umgebenen Gasse. Ein Blick zu den Zinnen verriet mir, dass die Unterredung mit sehr viel strengeren Sicherheitsvorkehrungen einhergingen als die letzte. Mein Blick blieb an einem großen Apparat hängen, der oben auf der Mauer befestigt war: Er sah aus wie eine jener Waffen, mit denen die Soldaten diese kleinen Holzschäfte abfeuern konnten, jedoch wesentlich größer, und geladen war er mit einer zwei Schritt langen Lanze. Einer Lanze, die auf mich gerichtet war.
"Könnte wehtun", flüsterte ich, weniger ängstlich als vielmehr beeindruckt. Was den Menschen an körperlicher Stärke fehlte, machten sie durch ihren Erfindergeist wett.
"Das ist eine Ballista“, erläuterte Zuak. „Beschleunigt Geschosse über einen kräftigen Mechanismus auf tödliche Geschwindigkeit. Und diese Gasse hier nennt man einen Zwinger. Hier werden feindliche Angreifer in die Enge getrieben und vernichtet. Kräftige Geschosse ohne Platz zum Ausweichen – du kannst es dir denken. Ich rate euch also dringend, es dieses Mal beim Reden zu belassen." Seine Augen ruhten auf Morg, der langsam nickte.
"Oger!", tönte es mit einem Mal laut von der Mauer herab. Ich hob meinen Blick und schaute geblendet in die schwache, hochstehende Sonne. Eine undeutliche Gestalt zeichnete sich davor ab. "Wie mir berichtet wird, sprichst du unsere Sprache. Also dann: nenne mir einen Grund, warum wir dich nicht auf der Stelle vernichten sollten!" Hatte der Mann sich mit Hauptmann zusammen einen Text überlegt?
Zuak holte bereits Luft, um daraus eine Antwort zu formulieren, als ich ihm sanft meine Hand auf die Schulter legte. Überrascht drehte er sich um und trat schließlich einen Schritt zur Seite.
"Verehrter Herr!", begann ich und hörte meine Stimme donnernd von den Wänden widerhallen. Bei den Menschen schien das kaum Vertrauen zu erwecken. "Zunächst möchte ich mich vorstellen: mein Name ist Grom und das hier ist Morg." Ein belustigtes Grunzen zu meiner Linken bestätigte die Richtigkeit meiner Angabe. "Wenn ihr gestattet: mit wem habe ich die Ehre?"
Die undeutlichen, dunklen Umrisse des Mannes ließen überrascht die verschränkten Arme zu den Seiten fallen. Er wandte seinen Kopf und flüsterte etwas Undeutliches zu einem daneben stehenden, weiteren Umriss. Unsicher schielte ich zu Zuak, der mich mit einem selbstgefälligen Grinsen ermunterte.
"Hendrik. Bürgermeister", schallte es von oben, weniger aggressiv.
"Hendrik, es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Ich möchte meine Hand ausstrecken als Geste des Friedens! Lass die Vergangenheit ruhen, unsere Fehler vergessen und uns ein neues Kapitel aufschlagen! Ein Kapitel der Freundschaft zwischen Ogern und Menschen." Ich hatte lange an dieser Formulierung gefeilt und war tatsächlich stolz auf mich. Die Worte mussten einfach Eindruck schinden, dessen war ich mir sicher. Zumindest bis ich aufbrandendes Gelächter vernahm, zunächst vereinzelt, sich jedoch schnell ausbreitend. Hendriks Schatten schien sich den Bauch zu halten und vor Lachen zu krümmen.
"Mann... Zuak", keuchte irgendwann der Bürgermeister amüsiert und außer Atem. "Ich habe dir wirklich viel zugetraut, aber dass du einem solchen hirnlosen Ding das Sprechen beibringst und dann auch noch einen derart schwülstigen Dünnpfiff, das schlägt wirklich alles." Wieder verfiel er in einen Lachkrampf, genauso wie die umstehenden Soldaten auf den Mauern. Einige legten ihre Waffen ab und stützen sich auf ihre Knie.
Heiterkeit. Ein gutes Zeichen, oder nicht?
Zuak rollte unbehaglich die Schultern. "Hör' zu, Hendrik, wir sind nicht die besten Freunde, das weiß jeder", rief er nach oben. "Und wir müssen das auch nicht sein. Aber du hast sicherlich gehört, was einer von ihnen anrichten kann. Also stell dir vor, was-"
"Ich war dabei, Zuak", zischte er plötzlich bedrohlich. "Ich habe Gregor gesehen – oder besser gesagt dessen Überreste – nachdem dieses Ding aus heiterem Himmel durchgedreht ist."
"Hendrik, wenn ich darf?", mischte ich mich ein. "Was dort geschehen ist auf dem Platz, tut Morg und mir schrecklich leid. Wirklich, nichts von dem haben wir gewollt. Aber ihr seid selbst schuld!" Ein zorniges Raunen ging durch die Menge. "Schaut, ihr habt uns in diesen Käfig gesperrt, habt uns wie eine Trophäe durch die Stadt paradiert und uns jegliche Nahrung vorenthalten. Letzteres war euer schwerster Fehler. Wenn ihr einen Oger hungern lasst, verliert er den Verstand."
Hendrik stöhnte laut auf. "Zuak, ist dieses Schauspiel hier dein Ernst? Dieser Oger stellt sich hier hin und gibt auch noch offen und ehrlich zu, nichts weiter als ein Tier zu sein? Gibt unverblümt zu, dass er zu gefährlich ist, um am Leben gelassen zu werden?"
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Wie konnte der Mann nicht verstehen, dass Morg und mich keine Schuld traf? Auf jeden Fall entwickelte sich dieses Treffen nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
"Ich gebe dir recht", erwiderte Zuak und bedeutete mir schleunigst, keine Widerworte zu geben. "Sie sind sicherlich primitiver als wir, verstehen nichts von Literatur oder Musik, aber..." Er ging einen Schritt vor und breitete die Arme aus. "Siehst du nicht, welche Chance sich uns, ähm, dir hier bietet? Ihn als Verbündeten zu haben? Eine ganze Armee bestehend aus Ogern? Du wärst unbesiegbar!"
"Ach, verschone mich mit deinem Gerede! Bevor ich diesen Ungeheuern auch nur eine einzige unserer Taktiken beigebracht habe, haben die uns doch längst verspeist! Wie soll-"
Ein anderer, dunkler Umriss trat eilig zu Hendrik und schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Überrascht drehte der sich zu dieser Person um und tauschte einige schnelle Sätze mit ihr aus, bis er schließlich nickte und sich wieder zu uns umwandte.
"Nun gut", fuhr er beinahe versöhnlich fort. "Ich habe darüber nachgedacht und mir ist ein Einfall gekommen: vielleicht seid ihr Oger ja wertvolle Verbündete?"
Zuak murmelte etwas Unverständliches.
"Aber ich werde euch nicht einfach so mein Vertrauen schenken, das habt ihr gründlich verspielt. Daher müsst ihr es euch zurückgewinnen. Und ich habe auch schon die passende Art und Weise, wie ihr das unternehmt." Ich konnte sein Grinsen förmlich hören.
"Das ist doch gut gelaufen, meinst du nicht?", sagte ich zu Zuak, während wir den Zwinger verließen und in Richtung des Stadttors gingen. Die Soldaten um uns herum waren nach wie vor angespannt und trauten uns immer noch nicht.
"Ja, ähm, wahrscheinlich hätte es schlimmer kommen können", entgegnete er nebulös. Er sah kurz zu mir auf, bevor er sich wieder auf den Weg konzentrierte.
"Du scheinst nicht überzeugt", hakte ich nach. Morg grunzte seine Zustimmung.
"Nun... nein, nein, ich bin zufrieden soweit. Aber mir gefällt nicht, was Hendrik da vorhat. Merk' dir eins bei den Menschen: die führen immer etwas im Schilde. Immer. Sie sagen dir eine Sache zu und haben hinter deinem Rücken etwas ganz anderes vor. Insbesondere Hendrik hat es faustdick hinter den Ohren."
"Was hat er hinter den Ohren? Ah, verstehe, wieder eine Redensart."
"Du lernst schnell", grinste er mich an. "Was auch immer sein Vorschlag sein wird, wir müssen..." Zuak brachte den Satz nicht zu Ende, denn gerade als wir das Stadttor erneut durchquert und die Stadt verlassen hatten, trat uns eine Frau in den Weg. Mittlerweile hatte ich den Trick recht gut gemeistert, wie ich die Weibchen von den Männchen unterscheiden konnte. Sie sah aus wie eine erfahrene Kriegerin, Gesicht und Arme von einigen Narben übersät, die schwere Lederrüstung hatte Kämpfe gesehen. Sie war für einen Menschen wohl eine recht beeindruckende Erscheinung, die von der schweren Axt, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatte, noch unterstrichen wurde.
"Mina. Natürlich", seufzte Zuak.
Doch sie ignorierte ihn und starrte mich an. Nicht ängstlich, eher fasziniert.
"Du – oder eher: ihr – seid also die, die sie Morg und Grom nennen", stellte sie mit überraschend heller Stimme fest, die kaum zu ihrer äußeren Erscheinung passen wollte.
"Morg", stimmte Morg mit tiefer Stimme zu.
"Das ist richtig", gab ich zurück. Ich ging einen Schritt auf sie zu und hielt ihr meine Hand hin. "Grom. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Mina."
Sie zögerte einen Moment, kam mir dann aber entgegen und ergriff sie, sich dabei auf die Zehenspitzen stellend. Ihre Hand verschwand vollständig in meiner. Ihr Blick glitt zwischen mir und Morg hin und her.
"Ich rede also mit dir?", fragte sie mich schließlich und trat einen Schritt zurück.
"Nun, wir können beide reden, aber von mir wirst du wahrscheinlich eher eine Antwort bekommen", erwiderte ich und versuchte ein Lächeln. Mina schaute eher irritiert als erfreut.
"Mina, was wird das hier?", mischte Zuak sich ein.
Zögerlich löste sich ihr Blick von mir und wanderte zu meinem Gefährten herüber. Sie grunzte abschätzig. "Du kannst jetzt gehen, Zuak. Wir übernehmen."
"Übernehmen? Was soll das heißen?" Seine Stimme wurde laut.
Doch Mina ignorierte ihn erneut und fuhr an mich gewandt fort: "Kommt mit mir, ich möchte euch ein paar Leute vorstellen." Sie winkte mir zu und ging voran. Ein schneller Blick über meine Schulter sagte mir, dass Zuak nun wohl die Verantwortung für mich abgegeben hatte. Er winkte mir noch kurz zu und verschwand dann durch das dunkle Portal des Stadttors, das mit einem schweren Rumpeln zufiel.
"Ist schon in Ordnun, du wirst ihn schon noch wiedersehen, bevor wir abreisen", beschwichtigte Mina, als sie meinen Blick sah.
"Abreisen? Wohin?", wollte ich wissen, doch sie bedeutete mir, mich zu gedulden.
In einiger Entfernung entdeckte ich eine kleine Schar Menschen warten und zu uns herüberstarren. Wir hielten auf sie zu, also mussten dies die Leute sein, von denen Mina sprach. Drei Schritt vor der Gruppe blieben wir stehen.
"Grom, Morg. Darf ich vorstellen, wir sind die Drachenjäger." Ich schaute in regungslose, skeptische Gesichter. Sie fuhr fort, jeden einzelnen von ihnen vorzustellen. "Rualab, Marius, Isengrim, Hiskam, Muonn und Hidda." Jeder einzelne von ihnen nickte kurz, als er oder sie aufgerufen wurde.
"Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen", erwiderte ich offen. "Ich bin Grom, das ist Morg, der Kinder von Tÿl. Euer Stamm ist sehr klein."
Einer der Männer, Marius, lachte laut auf. "Ruhe", zischte Mina. "Nun, wir sind kein Stamm", erläuterte sie an mich gewandt. "Eher eine Gruppe von Soldaten, eine kleine Armee.“
„Drachenjäger eben", erklärte die Frau namens Isengrim.
"Drachen?", rumpelte Morg neugierig.
"Lange Geschichte", mischte sich Hidda ein und kicherte amüsiert.
"Und was habt ihr mit uns vor?", wollte ich wissen.
"Nun, wie ich hörte, hat hier jemand ein wenig Vertrauen zurückzugewinnen. Dies ist der Weg", antwortete Mina mit der Andeutung eines Lächelns. Mein Blick wanderte über die grobe, schwere Lederrüstung, die Waffen, die grimmigen Gesichtsausdrücke. Sie sahen aus, als hätten sie bereits die eine oder andere Schlacht gesehen.
"Wir sollen gegen euch kämpfen?"
"Was? Nein! Mit uns. Du bist ab sofort einer von uns. Willkommen bei den Drachenjägern."