Kühles Gras presst sich in meinen Rücken, kitzelt Nacken und Kniekehlen. Ich sauge die klare Luft durch meine Nase, rieche Wildblumen und harzige Bäume, schmecke einen kürzlich durchgezogenen Sommerregen heraus. Ich halte die Augen geschlossen, konzentriere mich auf nichts als meine Empfindungen. Vögel zwitschern fröhlich und ungetrübt, irgendwo plätschert ein Bach. Auf einmal: Entferntes Kindergeschrei.
Langsam, beinahe widerwillig, schlage ich die Augen auf und blicke in sattes Blau. Nicht eine Wolke ziert den Himmel. Die Sonne brennt hell am Himmel, überstrahlt den blassen Mond um ein Vielfaches. Ich setze mich auf und schaue mich um: Saftig grüne Hügel erstrecken sich vor meinen Augen bis zum Horizont, ein unberührtes Paradies. Ich befinde mich auf einer Wildwiese, die einem Flickenteppich aus bunten Farben gleicht. Mit meinen Händen fahre ich durch das bunte Meer, streiche über raue Dornen und sanfte Blüten.
Zum ersten Mal nehme ich meine Hände wahr. Winzige Perlen von Tau formen sich auf ihnen zu kleinen Kügelchen. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Nein, nicht nur das – wer ich überhaupt bin! Meine Hände fahren über meine Beine, die bronzen schimmernde Haut glitzert beinahe im Tageslicht.
Da! Erneutes Kindergeschrei. Nicht ängstlich, nein: Fröhlich, vergnügt glucksend, wie es nur Kinder können. Ich schaue in die Richtung und entdecke dünne Rauchfäden, die sich friedlich in der Luft kräuseln. Ein Dorf?
Ich trenne mich aus der grünen Umarmung und stehe auf. Trauer überkommt mich, denn ich möchte nicht gehen. Möchte am liebsten hierbleiben, für immer! Doch etwas treibt mich an. Ein Gefühl der inneren Unruhe, das wie ein glühendes Stück Kohle in meinem Brustkorb brennt, treibt mich an. Ich muss dringend etwas erledigen.
Aber was?
Ich stapfe los. Meine nackten Füße sinken leicht in das saftige Grün, kalter Kontrast zur warmen Luft. Kleine Tiere schwirren in der Luft umher, bestäuben fleißig Blüten und sammeln Nahrung ein. Die Wiese liegt auf einem Hang, den ich nun herabsteige. Das Lachen der Kinder wird lauter, darunter mischen sich allmählich tiefere Stimmen, die von Erwachsenen. Die Wiese endet und ich befinde mich auf einem schmalen Trampelpfad, der schnurgerade auf die dünnen Rauchsäulen zuführt. Ich folge dem Pfad, eine unsichtbare Kraft zieht mich wie von selbst dorthin. Ich schaue mich um, bin nach wie vor allein. Warum gehe ich nicht in die entgegengesetzte Richtung? Ich spüre meine Hand, die ohne ersichtlichen Grund auf meiner linken Schulter ruht. Ein diffuses Gefühl von Einsamkeit und Verlust breitet sich in mir aus. Ich inspiziere meine Hand und Schulter, doch da ist nichts, was dieses Gefühl erklären könnte.
Meine Füße tragen mich wie von selbst, Kieselsteine knirschen unter meinen Füßen. Ich begegne vereinzelten Nutztieren, die auf Weiden herumstehen und mir wiederkäuend hinterherschauen. Ein niedriger, baufälliger Schuppen, in dem grobe, landwirtschaftliche Werkzeuge untergebracht sind. Erste Anzeichen von Zivilisation.
In der Ferne erheben sich flache Dächer von einfachen Holzhäusern aus dem Boden. Das kleine Dorf, idyllisch an einem Wäldchen gelegen, ist in seiner Einfachheit fast schon pittoresk. Die Bewohner leben von der Jagd und ein wenig Landwirtschaft, vom Nähen und einfachem Werkzeugbau. Ich entdecke den Ursprung des Kindergeschreis: einige von ihnen spielen Fangen, huschen geschickt um Hütten und Bäume herum.
Vor einem Haus sehe ich eine alte Frau, ihre bräunlich schimmernde Haut faltig und herabhängend, doch ihre Hände flink und geschickt beim Flechten eines Korbs. Sie schaut nicht auf, scheint mich nicht zu bemerken. Ein Ausdruck seliger Geschäftigkeit liegt auf ihrem Gesicht.
Ich gehe weiter in das Dorf hinein, wie von einem unsichtbaren Band gezogen. Mehr und mehr Bewohner tauchen auf, tragen säckeweise Früchte und Beeren umher, säugen Kleinkinder, reparieren Hütten, weiden Beute aus. Keiner von ihnen scheint mich zu bemerken. Ist es normal, dass Fremde hier durchspazieren? Weiter vorne befindet sich wohl die Dorfmitte. Ein kleiner Platz wurde um eine große Feuerstelle herum angelegt, an der auch ein großer Pfahl steht. Er ist mit allerlei Dingen geschmückt, die Trophäen erfolgreicher Jagden oder Glücksbringer sein können.
Hier ist es. Hierher zieht es mich, bedeutet mir, zu warten. Und so gehorche ich, setze mich auf einen großen Stein, der sich am Rande des Platzes befindet.
Was nun? Ich warte. Lasse meinen Blick schweifen, beobachte die Bewohner bei der Verrichtung ihrer täglichen Arbeit. Eine diffuse Sehnsucht überkommt mich. Nach dem einfachen Leben, das diese Leute haben, ihren konkreten Sorgen und handfesten Nöten. Darunter mischt sich erneut ein Gefühl des Verlusts; als wäre mir genau dies genommen und nie wiedergegeben worden.
Warum?
Aus einem der Häuser am Platz tritt eine junge Frau. Wie vom Donner gerührt setze ich mich auf. Sie fesselt meine ganze Aufmerksamkeit. Etwas Besonderes hat sie an sich. Ihre makellose Schönheit ist das eine, ihr aufwendiger und, im Vergleich zu den anderen Bewohnern, zweifellos teurer Schmuck das andere. Sie muss wichtig sein. Doch das ist nicht alles. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Irgendwas hat sich an sich, das...
Mein Blick wandert zu ihrem weit hervorstehenden Bauch, den sie liebevoll mit ihren Händen liebkost. Sie erwartet ein Kind. Doch ihre Gesichtszüge spiegeln keine Freude wider – oder eher: Nicht ausschließlich Freude. Eine hartnäckige Trauer ist ihr anzusehen, hat sich tief in ihre Gesichtszüge gegraben und dunkle Augenringe erzeugt. Etwas hindert sie daran, das bevorstehende Mutterglück zu genießen. Sie lässt ihre Augen wandern. Sie streifen mich für einen Moment, verharren auf meinen für den kürzesten Teil eines Augenblicks, den Anflug eines Schattens von Irritation auf dem Gesicht. Dann fährt sie fort, als wäre nichts gewesen. Hat sie mich gesehen? Sie geht zu der großen Feuerstelle und beginnt, mit einem langen, zeremoniell wirkenden Stab darin herumzustochern.
„Idyllisch, nicht wahr?“, sagt jemand neben mir.
Ich erschrecke und fahre herum. Neben mir sitzt eine Frau: Klein, athletisch, definierte Muskelstränge unter der dunkelgrünen Haut. Sie passt nicht so richtig hierher, denke ich.
Ich nicke wortlos und schaue wieder zu der Schwangeren.
„Sie ist die Herrscherin dieser Leute“, sagt die Frau neben mir. „Spricht nicht jeder einzelne ihrer Handgriffe von würdevoller Autorität?“
„Wer bist du?“, will ich wissen. „Eine von ihnen?“
Sie schweigt. Ich schaue zu ihr und entdecke angestrengtes Denken.
„Nein“, beschließt sie dann. „Ich bin zu Gast. Bin schon eine Weile hier, um...“
Ihre Stimme verliert sich in Ratlosigkeit. Ich studiere sie, ihre symmetrischen Gesichtszüge, fein geschnitten und doch mit unterschwelliger Rauheit, die kleinen, hervorstehenden Reißzähne, die zwischen ihren Lippen hervorblitzen. Ein Name huscht am Rande meines Bewusstseins vorbei, gerade außer Reichweite. Kenne ich sie etwa?
Wir beobachten weiter, schweigend. Andere Dorfbewohner huschen durchs Bild, bemerken uns nicht. Es wird Nacht. Die Feuerstelle wird entzündet. Die Frau hält eine Art Messe mit allen versammelten Dorfbewohnern.
„Sie hat ihren Mann verloren“, sagt die Frau neben mir. Wir sitzen bereits seit Stunden hier. Oder noch länger? Seit Tagen? „Kurz nach der Empfängnis.“
„Woher weißt du das?“
Keine Antwort, nur ratloses, unbefriedigtes Kopfschütteln.
„Wie?“, will ich wissen.
„Krankheit. Hat ihn nach einem langen, leidvollen Kampf dahingerafft.“
Ich schaue der Herrscherin zu: Ihre würdevolle Stimme strahlt zugleich Wärme und Autorität aus, während sie die Messe in einer Sprache hält, die ich nicht verstehe. Mittendrin unterbricht sie jemand, ein grobschlächtiger Mann, der genauso edlen Schmuck trägt wie sie, jedoch in geringerem Umfang. Ein Edelmann? Er ruft etwas, ist sichtlich erbost, springt auf und verlässt mit einigen anderen Bewohnern die Messe. Die Frau schaut ihnen kraftlos hinterher. Es scheint, als hätte sie damit gerechnet. Betrübt lächelt sie und fährt mit der Messe fort.
Die Nacht wird zum Tag, der Sommer zu Herbst, die Wärme zu Kühle. Verwirrt schaue ich mich um, die Zeiten stimmen nicht. Ich sitze doch erst seit ein paar Stunden hier! Oder sind es doch schon Monate?
Aus dem Haus der Herrscherin, jenseits der großen Feuerstelle, dringt auf einmal das dünne Geschrei eines Säuglings – nein, zweier Säuglinge.
„Sie hat es geschafft“, stellt die Frau neben mir fest. Ich sehe sie an und entdecke einen Ausdruck von Erleichterung und Stolz auf ihrem Gesicht.
„Freut dich das?“, frage ich.
Sie schaut mich an, ihre bernsteinfarbenen Augen wie glänzende Scheiben.
„Ob es mich freut?“ Sie denkt angestrengt nach. „Ja“, sagt sie und blickt wieder zu der Hütte. „Warum denn nicht?“
Etwas in ihrer Stimme stört mich. Das Zögern. Sie klingt, als könnte sie ihre eigenen Gefühle nicht einordnen.
Das Geschrei wird lauter und die Frau tritt aus dem Haus. Sie trägt ein Bündel in den Armen, dick in eine Decke gewickelt. Das müssen die Säuglinge sein. Zu der Trauer hat sich nun körperliche Erschöpfung gesellt. Sie sieht alt aus, viel älter, als sie wohl in Wirklichkeit ist.
Auf der anderen Seite des Platzes taucht ein Mann auf. Ich erkenne ihn, er ist der Unruhestifter aus der Messe. Er geht zu ihr, redet mit ihr. Sein Ton klingt versöhnlich, empathisch. Ich bin überrascht – haben die beiden etwa den Streit beigelegt? Er redet auf sie ein, legt eine Hand auf ihre Schulter. Schließlich nickt sie schwach, dreht das Bündel in seine Richtung und befreit es ein Stück weit vom Stoff.
Die Augen des Mannes weiten sich plötzlich, sein Gesicht verzerrt sich im Schock. Er stolpert zwei Schritt zurück und zeigt anklagend mit der Hand auf die Frau. Er ruft, er schreit, er klagt; so laut, dass das ganze Dorf zum Leben erwacht. Überall tauchen seine Bewohner auf, strömen auf den Platz. Die Frau will im Haus verschwinden, doch jemand versperrt ihr den Weg.
Eine eiskalte Gewissheit kriecht Stück für Stück an der Rückwand meines Verstands empor. Ich kann sie nicht einordnen, weiß nicht, wovon sie handelt, doch ich spüre ein großes Unheil nahen. Ich habe den Drang, einzugreifen, der Frau zur Seite zu springen, doch ich bin wie gelähmt an diesen Felsen gefesselt. Ein hastiger Blick zu der Frau neben mir sagt mir, dass sie Ähnliches durchlebt wie ich. Zwei Zaungäste, die vergeblich nach einem Sinn darin suchen, warum sie hier sind.
Der gellende Schrei der Frau lässt meinen Kopf zurückschnellen. Jemand stößt sie, sodass sie einige Schritte taumelt, ein anderer kommt ihr zur Hilfe, ein Handgemenge bricht aus. Der Dorfplatz versinkt in Staub, als sich zwei Gruppen bilden und aufeinander losgehen. Plötzlich ein schmerzerfüllter Schrei, ein Mann geht zu Boden. In seinem Hals steckt ein Messer.
Die Herrscherin bricht in Tränen aus, wirft sich auf den Mann, fleht die Umstehenden an. Es kehrt schockierte Ruhe ein, als sich um den Toten ein Kreis bildet. Der Unruhestifter tritt erneut vor und klagt sie an, scheint sie für den Tod verantwortlich zu machen. Die Frau willigt ein, sie scheint genug Gewalt gesehen zu haben. Mühsam rafft sie sich auf und fügt sich in ihr Schicksal. Sie flüstert etwas zu dem Bündel, befreit es aus dem Laken und reckt den nackten Säugling in die Höhe. Ein atemloses Stöhnen rollt durch die Menge.
„Ich... erinnere... mich...“, höre ich mich flüstern. Es kann nicht sein, ich war noch so jung!
„Mein Sohn“, murmelt die Frau neben mir.
Bilder stürzen auf mich ein, als ich gebannt auf das Neugeborene starre.
Ein Körper, zwei Köpfe.
Ich... und mein Bruder! Sein Name – Morg. Unsere Mutter, aus dem Dorf vertrieben, als Hexe gebrandmarkt, die ihren Mann geopfert und mit Dämonen ein Kind gezeugt haben soll! Mit unseren Geschwistern und einer Handvoll ihrer loyalsten Gefolgsleute ins Exil verbannt.
Ich springe auf, laufe zu ihr. Ich will sie in die Arme schließen und ihr Trost spenden, doch meine Hände greifen nur Luft. Wie Rauch wabert ihr Erscheinungsbild kurz an Ort und Stelle und löst sich dann auf. Der Dorfplatz ist leer.
„Ich muss sagen, du hast wirklich ein paar nette Kunststücke auf Lager“, sagt die Frau, die nach wie vor auf dem Stein sitzt. Ihre Beine locker übereinandergeschlagen, betrachtet sie interessiert meine Bemühungen, das Trugbild meiner Mutter festzuhalten. „Bis eben wusste ich nicht, worum es hier geht. Nein, noch nicht einmal, wer ich überhaupt bin!“, lacht sie.
„Kunststücke?“, schnaufe ich außer Atem. War das hier etwa mein Werk?
„Diese ganze Illusion hier! Wirklich beeindruckend. Sind wir noch auf dem Schlachtfeld und nur mit unserem Geist hier drin? Oder vollständig, mit Leib und Seele verreist?“ Sie mustert mich eindringlich. „Nein, dein Bruder ist nicht hier, also wird das irgendeine Art Psychotrick sein.“
Ich spüre meine Hand erneut an der linken Schulter; dort, wo ich normalerweise Morg finden sollte. Sie hat recht! Das erste Mal in meinem Leben bin ich allein.
„Und du?“, frage ich sie.
„Was ist mit mir?“
„Du siehst ebenso verändert aus.“
„Ach, weißt du“, fährt sie im Plauderton fort, „wenn du irgendwann mal einige tausend Jahre alt bist und noch genauso aussehen solltest wie jetzt, dann müssen wir uns unbedingt über Hautpflege unterhalten.“ Sie schmunzelt.
„Das ist es nicht.“
Sie schaut mich fragend an, einen Hauch Verunsicherung in ihrer Mimik. Obwohl sie sich mir überlegen fühlt, spüre ich, dass sie sich nicht wohlfühlt an diesem Ort, den sie nicht einzuschätzen vermag.
„Wenn ich in deine Augen schaue, hier und jetzt, dann sehe ich neben diesem sadistischen Ungeheuer noch etwas anderes. Einen Rest von dem, was dich einst zu einem von uns, den Lebenden, gemacht hat.“
Sie starrt mich an. „Was ist denn das für ein Unfug?“
„Ich sehe den Schmerz und die Trauer in deinen Augen... die Gräuel, die dir angetan wurden.“ Ihre Selbstsicherheit verfliegt, anstelle der Herablassung tritt Verletzlichkeit. „Jahrtausende isoliert in diesem dunklen Verlies unter der Erde.“
„Gar nichts weißt du!“, zischt sie und springt von dem Felsen auf. Ihre goldenen Augen flammen auf vor Zorn, die Fassade beginnt zu bröckeln.
„Ich war dabei“, fahre ich fort. „In dem Moment, als sie dich befreit hat.“
Sie schüttelt den Kopf, wie ein widerborstiges Kind, das die Wahrheit nicht hören möchte.
„Als sich das Tor zu deinem Kerker öffnete und eine junge Frau hereintritt, die gerade alles verloren hat. Eine junge Frau geblendet von Verlust und Schmerz.“
Sie kommt auf mich zu, ihre Visage ein Zerrbild aus Wut und Hass. „Das kannst du nicht wissen! Wieso behauptest du, dabeigewesen zu sein?“ Speichelfäden fliegen von ihren Lippen, während sie die Worte in meine Richtung schleudert.
Sie ist noch drei Schritte von mir entfernt. Ich sehe ihr an, dass sie kurz davor ist, die Beherrschung zu verlieren, und über mich herzufallen. Wer in dieser Welt – oder wie immer man es nennen wollte – wohl stärker war? Ich verschränke meine Arme hinter dem Rücken, versuche, so passiv wie möglich auf sie zu wirken. Ich halte ihren Blick, versuche ihn aufzunehmen und an mich zu binden, eine Verbindung zu diesem schon lange verschütteten Teil ihrer Persönlichkeit herzustellen.
„Weil ich es war. Ich habe dich gesehen. Das Martyrium, das du durchlebt hast. Du musst dich freimachen von deiner Schuld, dir selbst vergeben.“
„Was faselst du da?“, schreit sie mich an und holt zum Schlag aus. Ihre Muskeln spannen sich wie Stahldrähte unter ihrer Haut. Auch wenn sie zwei Köpfe kleiner ist als ich, so zweifle ich keine Sekunde daran, dass sie ein ebenbürtiger Gegner ist.
„Rallut hätte es so gewollt“, erwiderte ich ruhig.
Es ist, als hätte ihr jemand einen Schlag verpasst. Sie stolpert und verpatzt ihren Schwung. Mit Leichtigkeit trete ich einen Schritt zur Seite und lasse sie ins Leere laufen.
„Was...?“, stottert sie, schüttelt benommen den Kopf und richtet sich schwankend auf.
„Lenzuj würde dich in die Arme schließen.“
Der nächste Schlag trifft sie. Ihr Knie knickt ein, mit einer Hand verhindert sie im letzten Augenblick den Sturz. Sie zittert am ganzen Körper, Schweiß rinnt in dicken Perlen über ihre Haut.
„Woher... kennst du... diese... Namen?“, keucht sie, verunsichert, zornig, schwach mit heiserer, irgendwie veränderter Stimme.
„Ich sagte doch, ich war da. Du bist das Opfer dieses Scheusals, nicht das Scheusal selbst. Noch ist es nicht zu spät, alles wiedergutzumachen. Noch ist es nicht zu spät für dich...“ Ich setzte zum letzten Stoß an. „Mandji.“
Der Name explodiert wie eine von Hiddas Knallpulver-Bomben. Mandjis Körper wird von gewaltigen Spasmen erfasst. Sie wirft sich auf den Boden, ihre Füße scharren hilflos im Staub. Sie schlägt um sich, schreit und keift, ihre Augen sind weit in die Höhlen hinein verdreht. Irgendwann, mit einer letzten Zuckung, bleibt sie unvermittelt liegen. Nicht einmal ein Finger zuckt. Ihr Atem geht schnell, aber gleichmäßig. Staub hat sich mit ihrem Schweiß vermengt und klebt nun in einer dicken Schicht an ihrer Haut.
„Mandji?“, flüstere ich behutsam.
Keine Reaktion. Ich lasse einen schnellen Blick schweifen: Die Welt ist unverändert, das Dorf liegt nach wie vor in seiner ganzen Idylle dort, nur ohne einen einzigen seiner Bewohner. Mein Geburtsort, gespenstisch verlassen und doch voller sentimentaler Sehnsucht.
„Mandji!“, lauter. Ich rüttele an ihrer Schulter. Plötzlich zuckt sie zusammen, sie wird von neuerlichen Krämpfen geschüttelt. Ein bedrohlicher Laut entsteht tief in ihrer Kehle und bricht sich Bahn. Nein, kein bedrohlicher Laut!
„Gahrgh... gha... ha ha!“
Sie lacht!
Irritiert trete ich einen Schritt zurück. Der Körper auf dem Boden krümmt sich, hält sich den Bauch, so sehr wird er von Lachkrämpfen geschüttelt.
„Ach, Grom“, gackert sie. „Ah... ha ha.“
Sie wischt sich theatralisch eine Träne aus dem Auge, als sie sich aufsetzt.
„Es ist nicht zu spät für dich. Hast du wirklich geglaubt, mit solch stümperhafter Laienpsychologie... ich weiß nicht, was hast du überhaupt geglaubt? Dass ich dir um den Hals falle und mich für die Erlösung bedanke?“ Sie gleitet in einer fließenden Bewegung auf die Beine und klopft sich ruhig den Staub ab.
Also war alles nur Schauspiel. Ich hätte es mir denken können.
„Warum dieses Theater?“, will ich von ihr wissen.
„Theater?“ Sie sieht mich keck an, rollt mit ihrem Finger eine ihrer braunen Haarlocken ein. „Ich wollte dir doch den Spaß nicht verderben!“ Unvermittelt wird sie ernst, ihre Haltung wird angespannt.
„Hör zu, Grom. Der Ausflug hierhin war wirklich toll und alles, aber es reicht jetzt. Ich gebe dir eine letzte Chance, freiwillig zu mir zu kommen. Das oder dein Untergang.“
Sie rollt mit den Schultern, rechnet offenbar kaum noch mit einer zufriedenstellenden Replik.
„Wir beide kennen die Antwort auf deine Frage“, knurre ich und mache mich bereit.
Ihre Oberlippe rollt sich fletschend zurück und offenbart die kleinen Reißzähne. Dann verschwindet sie in einem Wirbel aus Farben und Formen. Als nächstes spüre ich den Einschlag, wie ein Rammbock schlägt ihre Faust mittig in meinem Brustkorb ein. Auch wenn sie nur unwesentlich größer ist als ein Mensch, entfaltet ihr Schlag eine enorme Wirkung. Ich werde zurückgeschleudert, fliege einen oder zwei Schritte durch die Luft, schlittere durch den Staub und bleibe atemlos liegen. Mir bleibt keine Zeit, um Luft zu holen, denn sie stürzt mir hinterher. Innerhalb eines Augenblicks ist sie bei mir und lässt ihre Fäuste auf mich herabregnen. Ich schaffe es noch, den ersten Schlag abzuwehren, den zweiten nur mühsam abzulenken, doch der dritte trifft sein Ziel. Es folgen unzählige weitere. Mein Körper explodiert in einem Feuerwerk aus Schmerz. Jede Lücke in meiner Deckung, die ich zu schließen vermag, erschafft eine andere, die Mandji gnadenlos ausnutzt. Ich spüre meine Haut anschwellen und aufplatzen, warmes Blut hervorquellen. Meine Knochen knirschen und protestieren unter dem Sturm, doch noch halten sie.
Mir wird bewusst, dass ich ohne Morg keine Chance gegen sie habe.
Sie zerrt mich an meiner Robe empor, sodass ich für den Bruchteil eines Moments schwankend zum Stehen komme. Woher hat sie nur derart viel Kraft?, schießt es mir durch den Kopf, kurz bevor ihre beiden Fäuste in mein Rückgrat einschlagen. Etwas bricht. Ich falle um wie eine Puppe aus Stroh.
Das war’s, denke ich. Innerhalb von Augenblicken hat sie mich zu einem hilf- und kraftlosen Häufchen zuckenden Fleisches verwandelt. Selbst wenn ich es schaffen sollte, mich noch einmal aufzurichten...
Ich robbe ein Stück, sende Befehle an meine Beine. Keine Reaktion von dort. Rolle mich auf den Rücken und starre in den Himmel. Ich erwarte den nächsten Hieb, doch für einen Moment herrscht Ruhe. Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass sie eher von mir ablassen wird, bis ich tot bin. Ich bewege meine Arme, was auf der Stelle von kreischenden Nerven quittiert wird.
Vergiss es!
Und so starre ich hinauf in das tiefe Blau. Am Horizont sehe ich dunkle, sich hoch auftürmende Wolken aufziehen; und zwar schnell. Ein Sturm kommt und wird in wenigen Momenten hier sein.
„Weißt du, was mich an diesem Ort hier überrascht?“, höre ich ihre Stimme durch das Klingeln meiner Ohren. „Dass du dir genau diese Szene ausgesucht hast. Den Tag deiner Geburt.“
Sie packt mich grob am Kragen und beginnt, mich hinter sich her zu schleifen. Ich versuche, ihren Griff zu lösen, pule kraftlos an ihren Fingern herum, die doch so filigran sind – sinnlos.
„Ich weiß ja nicht, was deine Strategie war... Wolltest du mich mit Sentimentalität einlullen?“
Obwohl ich mindestens das Dreifache von ihrem Körpergewicht habe, ist sie nicht einmal außer Atem. Sie lacht leise und beugt sich über mich, forscht in meinem Gesicht.
„Begreifst du denn nicht? Deine Mutter hat mit dem Tod deines Vaters nichts zu tun gehabt.“
Sie fährt fort, mich irgendwo hin zu schleifen. Grollender Donner rollt über das Land.
„Meine Methoden waren damals noch nicht ganz so ausgereift wie heute und ich musste mich anderer – sagen wir, traditionellerer – Techniken bedienen. Du erinnerst dich an die ‚Küche‘?“
Sie prüft die Umgebung und legt mich ab, ich spüre harten, spitzen Fels in meinem Rücken. Schwach versuche ich, mich aufzurappeln, was mir drei, vier schnelle Hiebe in die Seite einhandelt und mir erneut jede Kraft raubt. Weitere Knochen brechen.
Der Himmel hängt nun voller tiefer, dunkler Wolken. Wind ist aufgezogen und fegt Blätter und Zweige über den Boden.
Mandji bückt sich über mich, die Hände auf die Knie gestützt, schaut mir ins Gesicht.
„Dein Vater war mein bis dahin erfolgreichstes Experiment. Dass die Nebenwirkungen ihn irgendwann umbringen würden...“ Sie zuckt mit den Schultern. „Ich habe es geschafft, seine Essenz derart zu verändern, dass aus der Verbindung zwischen ihm und deiner Mutter etwas ganz besonderes entstanden ist.“
Die Wahrheit schmerzt, mehr als die Summe ihrer Schläge und Tritte. Ich schüttele schwach den Kopf, will nicht hören, was sie zu sagen hat.
„Morg und du.“
Ein Blitz durchzuckt den dunklen Himmel, kurz darauf gefolgt von ohrenbetäubendem Donner.
„Wie viele Fehlschläge euch beiden vorausgegangen sind! Nutzlose Missgeburten, Verschwendung von Zeit und Material. Aber nicht ihr beiden! Die perfekte Verbindung von Körper und Geist. Kraft und Intelligenz. Stahl und Magie.“ Sie strahlt mich an und streichelt mir über die Wange, wischt mir zärtlich das Blut von den Lippen. „Ich bin heute noch stolz auf euch.“
Ich versuche, etwas zu sagen, doch mir entfährt nur ein seufzendes Blubbern.
„Umso mehr betrübt es mich, dass insbesondere du dein Erbe nicht antreten willst.“ Sie richtet sich auf. „Nun ja, kein Entwurf ist wirklich perfekt. Noch nicht. Euch werden noch hunderte, nein, tausende nachfolgen. Wird schon was dabei sein.“
Sie zwinkert mir zu und geht wortlos davon.
Mein Kopf fällt schwach zu Boden. Die Fundamente meiner Welt wackeln. Mit einem Mal ergibt alles einen Sinn: Mein ganzes Leben als Außenseiter, meine einsame Mutter, der immerwährende Schleier von Verlust auf ihrem Gemüt. Ich schaue Mandji hinterher, wie sie behände einen Hang hinaufklettert.
Ich bin also das Produkt ihres Willens. Sie ist tatsächlich mein dritter Elternteil. Was machte das aus mir? Wer bin ich wirklich?
„Niemand“, flüstere ich. „Ein gescheitertes Experiment.“ Blutige Blasen formen sich vor meinem Mund.
Mit einem Mal höre ich ein tiefes Lachen.
„So so, dann hat sie also deinen Willen gebrochen.“ Ich schaffe es, den Kopf zu heben, und schaue mich um. Regen hat eingesetzt, fällt mir in die Augen, lässt meine Sicht verschwimmen. Im tiefen Schatten eines Baums sitzt, ein wenig abseits, eine Gestalt. Die Dunkelheit des Sturms lässt keine Einzelheiten erkennen, doch eine gewisse Vertrautheit stellt sich ein. Plötzlich erkenne ich die Stimme.
„Du... bist der, der mich... aus dem Kerker... befreit hat“, flüstere ich.
„Nein. Ich war dort, aber befreit hast du dich selber.“
Seine Worte ergeben keinen Sinn.
„Wer... bist du?“
Ich spüre, wie der Mann sanftmütig lächelt. „Das weißt du doch schon längst.“
Ohne nachzudenken, kam das Wort über meine Lippen.
„Vater.“
Ich vermute, er nickt.
„Was auch immer das heißt“, stöhne ich und lasse meinen Kopf ermattet sinken. Ich schließe die Augen, lasse den peitschenden Regen auf mein Gesicht prasseln. Die Kühle tut meinen Blessuren gut.
„Du lässt dir also von diesem Ding diktieren, wer du bist?“
Ich schüttele den Kopf, ratlos und verunsichert. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.“
„Lass mich dir eine Frage stellen. Das, was du in der Welt der Menschen erlebt und erreicht hast: Teil der Lintbrut zu werden, eine Allianz aus Ogern und Menschen zu schmieden, all das war nur das Werk dieses Ungeheuers? Scheiße, du hast verdammte Zauberei gelernt!“ Er lacht.
Mein Blick schweift umher, wandert die Klippe empor, die sich über mir erhebt. Von Mandji, der Königin, keine Spur. Ich versuche, meine Arme und Beine zu bewegen, doch mein Körper gehorcht mir nicht.
„Woher weißt du von...? Nichts habe ich gelernt! Allein dieses verdammte Armband hat mich zu irgendetwas nütze sein lassen. Als es drauf ankam und wir der Königin gegenüberstanden, habe ich versagt.“
„Ist es tatsächlich das, was du glaubst?“
Irritiert schaue ich zu ihm, versuche, die Dunkelheit zu durchdringen. Der Wind peitscht nun in Orkanstärke, wirft den Baum, unter dem mein Vater steht, hin und her. Und trotzdem höre ich seine Stimme klar und deutlich über das pfeifende Brausen.
„Nun... ja, schon. Ich verstehe nicht. Was meinst du?“
„Warum, glaubst du, bin ich hier?“ Seine Stimme ist ganz nah an meinem Ohr – nein, in meinem Ohr! „Obwohl ich doch schon längst tot bin?“
Ich habe keine Antwort auf seine Frage.
Weit oben blitzt Mandjis Gesicht grün glänzend auf. Sie wirft einen Blick zu mir herunter und winkt einmal, kurz bevor sie wieder verschwindet.
„Natürlich bin ich nicht wirklich hier. Niemand sieht oder hört mich außer dir. Weder Morg, damals in der Zelle, noch sie.“ Er zeigt die Klippe hinauf. „Ich bin das Erbe unseres Stammes, das in deinem Blut steckt. Die Stimme Tÿls, die durch Generationen von Schamanen zu dir spricht. Und seine Fähigkeiten, die an dich weitergegeben wurden.“
„Fähigkeiten?“
„Du erinnerst dich an Vo’kul?“
Ein Bild blitzt auf: Schat’un, der uns am Lagerfeuer die Geschichte erzählt, kurz bevor ich das Duell mit Gol’dar begann. Ich nicke schwach.
„Wovon erzählt diese Geschichte wohl? Tatsächlich von einem Riesen, der sich so tölpelhaft in eine Falle hat locken lassen?“ Er lacht über seinen Witz. „Natürlich nicht. Sie erzählt davon, wie Tÿl die Magie zähmte, verpackt in eine anschauliche Fabel.“
„Und du meinst, ich... kann das auch?“
Etwas bewegt sich oben auf der Klippe. Ich kann es kaum erkennen durch den schweren Regen hindurch und die blendenden Blitze dahinter.
„Mein Vater war ein Schamane. Ich war ein Schamane. Und du bist ein Schamane. Nur weil so eine dahergelaufene Verrückte glaubt, dich mit deinem Bruder in einem Körper zu verschmelzen, hörst du doch nicht auf zu existieren.“
Der Sturm hat sich zu einem tobenden Mahlstrom aufgeschaukelt. Ich höre Bäume entwurzeln und Erdmassen abrutschen.. und noch etwas, das ich nicht einordnen kann. Schweres Knirschen, wie Stein auf Stein.
„Diese Welt hier ist deine Kreation. Sie gehorcht deinen Regeln, verstehst du?“
Das Knirschen verstummt urplötzlich und wandelt sich zu einem tiefen Brummen. Ich starre die Klippe empor, wo sich ein riesiger Umriss schnell nähert.
„Du hast alles, was du brauchst, um gegen sie zu triumphieren. Glaube an dich!“
Es ist ein riesiger Felsbrocken, zweifellos von Mandji über die Klippe gestoßen, um mich zu zermalmen. Mit unaufhaltbarer Gewalt rast er auf mich zu. Ich habe nur noch Augenblicke, versuche verzweifelt, fort zu robben, doch meine Beine gehorchen mir nicht. Der Fels füllt zunehmend mein Blickfeld aus und verdunkelt mir die Sicht. Ich kneife die Augen zusammen, in Erwartung des Unvermeidlichen, und reiße die Arme hoch, schützend zwischen mich und dem sicheren Tod.
Nichts geschieht. Eine Sekunde verstreicht, dann eine weitere. Ich müsste längst tot sein, zu blutigem Matsch zermalmt. Langsam öffne ich meine Augen.
Der Felsbrocken schwebt über mir, nur eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt. Gemächlich dreht er sich in dem heulenden Sturm.
„Siehst du?“, sagt Vater.
Ich möchte ihm einen skeptischen Blick zuwerfen, traue mich aber nicht, meine Augen von diesem Trumm zu lösen. Diese Welt gehorcht also meinen Befehlen?
„Zersplittere!“, befehle ich dem Stein, doch nichts geschieht. Vater bleibt stumm. „Zerfalle zu Staub, ich befehle es!“ Trotzige Rotation um die eigene Achse, sonst nichts.
„Was?“, schallt eine dünne Stimme von oben. Mandji hat offenbar bemerkt, dass ihr Plan nicht aufgegangen ist.
Ich strecke meine Hand aus und versuche, den Fels wegzuschieben. In dem Moment, wo ich ihn berühre, zuckt ein gewaltiger Blitz aus den dunklen Wolken und fährt in den Fels. Mit einem Schlag explodiert er in tausend Stücke, die in verschiedensten Größen herabregnen. Ich spüre einen Ruck durch meine Beine gehen und schaue an mir herab. Ein mittelgroßer Brocken hat mich eingequetscht. Ich fühle zum Glück keinen Schmerz – was auch wiederum schlecht ist, da es wohl bedeutet, dass mein Rückgrat gebrochen ist.
„Eins noch, Sohn“, sagt Vater unberührt, als ob er nicht eben mit hätte ansehen müssen, dass sein Sohn verkrüppelt wurde. Er wirft einen schnellen Blick zur Klippe, an der Mandji soeben mit riesigen Sprüngen hinabklettert. „All das hier ist umsonst gewesen, wenn du in der wirklichen Welt nicht mit deinem Bruder zusammenarbeitest.“
Mandji hat den Grund erreicht und strebt mit weit ausholenden Schritten auf mich zu.
„Was soll das heißen? Wir arbeiten doch zusammen!“, antworte ich.
„Was faselst du da? Wir arbeiten zusammen?“, ruft sie und lacht gegen den heulenden Wind und das tobende Gewitter an.
„Nein. Ich meine: Ernsthaft zusammenarbeiten. Ihr müsst eins werden. Reißt die Mauer zwischen euch ein!“
Mandji springt mit einem Satz auf den Brocken, der meine Beine einklemmt. Sie muss sich daran festkrallen, um nicht fortgeweht zu werden.
„Na?“, ruft sie. „Hast du mich vermisst?“
Ich werfe einen Blick zu dem Baum, doch die Umrisse von Vater sind nicht mehr da.
„Keine Sorge“, sage ich zu ihr. „Du hast mir ja was zum Spielen dagelassen.“
Ich klopfe auf den Stein, was ihr ein Grinsen ins Gesicht treibt. Mit meinen Sinnen greife ich nach der Welt, strecke alle Fühler aus, die ich habe.
„Richtig.“ Sie inspiziert ihre Fingernägel. „Jetzt muss ich dich also doch mühsam mit meinen bloßen Händen erwürgen. Selber Schuld.“
Sie springt locker herunter und landet mit ihren Knien auf meiner Brust, was mir die Luft aus den Lungen treibt. Ich versuche einen Fausthieb von der Seite, doch ich bin zu schwach und zu langsam geworden. Sie macht sich nicht einmal die Mühe, ihn abzuwehren. Das dumpfe Klatschen, als Knöchel auf Schädel treffen, geht im Sturm unter.
Sie macht es sich regelrecht bequem auf mir, wackelt ein wenig mit der Hüfte und legt schließlich ihre kräftigen Hände um meinen Hals. Auf der Stelle ist meine Luftzufuhr abgeschnitten.
Ich verpasse ihr einen weiteren Hieb. Noch einen. Und noch einen. Doch sie lässt sich nicht beirren, presst die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und blickt mir tief in die Augen. Wortlos sagt sie: ‚Ich habe es dir doch gesagt, Grom. Wieso hast du nicht auf mich gehört?‘
Plötzlich bekommen meine Sinne etwas zu fassen. Sie stellen eine Verbindung her, von der ich nicht weiß, was genau es ist.
Ein dunkler Schleier kriecht von allen Seiten in mein Sichtfeld und verengt es. Die mangelnde Luft bestürmt mein Bewusstsein.
Doch den Sturm sehe ich deutlicher denn je. Nicht mit meinen Augen – nein, mit meinen Sinnen. Ich greife hinein, treibe ihn an, befeuere ihn.
Wie zur Antwort heult der Sturm auf. Windböen reißen an Mandji, werfen sie hin und her. Doch sie klammert sich an mir fest, wie ein Anker sich an den Meeresgrund klammert. Ihr Gesicht ist weniger als eine Handbreit von meinem entfernt. Pure Entschlossenheit trieft aus ihren Augen – sie will mich tot sehen, koste es, was es wolle.
Ich ziehe mich soweit wie möglich aus meinem Körper zurück, opfere mein Fleisch auf dem Altar ihres Zorns, überlasse ihr die Herrschaft über die stoffliche Welt. Ein strategischer Rückzug, um die wenige verbleibende Energie meinem Geist zur Verfügung zu stellen. Ich kanalisiere alles, was ich noch habe, in meine Verbindung zu dem Sturm, spüre jede Faser meines Körpers ein letztes Quäntchen Energie verschicken, um anschließend zu verkümmern.
Mit einem Mal schaue ich nicht mehr in Mandjis Augen, sondern beobachte uns beide von oben, wie ein Vogel seine Beute. Um uns herum wird die Welt in Stücke gerissen. Wie das zusammenfallende Auge eines Orkans zieht sich die Schlinge der Verwüstung enger und enger um uns. Bäume werden entwurzelt, in die Luft gerissen, in ihre Einzelteile zerrissen, Stein zu Staub gemahlen. Der Mahlstrom macht vor nichts halt, saugt alles in sich auf, spaltet jegliche Materie, mit der er in Berührung kommt, in seine kleinsten Einheiten.
Ich bin zurück in meinem Körper. Ein letztes Mal blicke ich in ihre Augen. Wir sind seltsam verbunden in diesem Augenblick, das spüre ich. Ich kann den Ort spüren, wo sie einst ein mitfühlendes Herz gehabt hatte; verstehe nun, dass sie nicht anders kann, als immer weiter zu machen, Welt um Welt zu verschlingen. Denn ohne das wäre sie nichts. Und in ihren Augen, kurz bevor meine winzig kleinen Sehschlitze endgültig zufallen und die Dunkelheit mich verschlingt, spiegelte sich Verständnis – und Anerkennung.