„Puh, das artet allmählich wirklich in harte Arbeit aus“, seufzte Rualab und zurrte das exotisch leuchtende Fell an seinem Sattel fest, eine Trophäe unserer letzten Heldentat. Dabei trug er ein selbstgefälliges Grinsen zur Schau, das davon zeugte, wie heroisch er sich fühlte.
„Du sagst es“, pflichtete Hiskam bei. „Hat jemand von euch noch Platz in seiner Geldbörse? Meine ist voll.“
„Sagt mal, merkt ihr noch was? Außerdem, wenn du diesen Kadaver da am Sattel mit dir herumträgst, wird der nächste Lintwurm dich schon von Weitem erkennen können!“, sagte Hidda. „Obwohl, wenn ich darüber nachdenke, finde ich den Gedanken gar nicht so schlecht“, ergänzte sie bei der Betrachtung des sich grell von dem grauen Pferdefell abzeichnenden Balgs.
„Ach“, schnaubte Rualab. „Der Lintwurm war ´ne einmalige Sache. In dem letzten halben Jahr haben wir doch nichts gesehen, was dem auch nur nahe kam! Mach dir nicht ins Hemd.“
„Ja, gut, dann ist es das nächste Mal eben kein Lintwurm, sondern etwas anderes, was wir uns jetzt noch nicht einmal ausmalen können! Ein Riese... oder ein, ähm, Seeungeheuer, oder...“ Ihr Kopf lief rot an, was Rualabs Grinsen noch ein Stück weiter in die Breite trieb. Er zeigte sich betont gelassen, was wiederum Hidda noch weiter erzürnte. „Ach, macht doch, was ihr wollt! Kindsköpfe“, maulte sie schließlich und widmete sich wieder ihrer eigenen Satteltasche. Mit kräftigen, wutentbrannten Bewegungen zog sie die Lederriemen fest.
„Was denkst du Grom, geht er ein Risiko ein?“, zerrte Hiskam mich mit in den Streit hinein.
„Wer, ich?“ Ich schaute von unserer Rüstung auf, die wir gerade mit einem öligen Lappen behandelten. Morg ließ sich im Gegensatz zu mir nicht ablenken und fuhr mit der Politur des silberglänzenden Brustpanzers fort, auf dem ein stilisierter Drachen eingeprägt war. Unser neuerlangter Wohlstand schlug sich auch in der Qualität unserer Ausrüstung wider. „Nun, ähm, also das ist eine wirklich schöne Trophäe, die du da hast.“
„Aber?“
Mein Blick huschte zu Hidda, die nach wie vor auf ihren Sattel starrte, aber die Ohren zu spitzen schien. „Sie ist wirklich, ähm, farbenfroh.“
„Ja ja, das weiß ich. Bohnenstange hat ja nicht unrecht“, forschte Hiskam weiter. Ein empörtes Schnaufen entfuhr unserem Technicus. „Aber wie groß ist die Gefahr? Werden wir nochmal einem Lintwurm oder etwas noch größerem begegnen?“
„Ja“, erwiderte ich schlicht und hoffte, ich wäre nun aus diesem unangenehmen Kreuzverhör befreit. Doch er ließ nicht locker.
„Und wieso?“
Ich merkte, wie auch die anderen zu uns getreten waren und mich aufmerksam ansahen. Auch Morg hatte die kreisenden Bewegungen eingestellt.
„Nun gut, wenn ihr es unbedingt hören wollt“, seufzte ich. „Ich denke, es wird schlimmer werden. Wisst ihr noch, als wir angefangen haben? Da hatten wir doch höchstens ein oder zwei Aufträge pro Woche. Und nun haben wir mehrere Bürgermeister, Äbte oder Edelleute gleichzeitig, die uns um Hilfe anbetteln. Wir könnten doppelt so viele Leute haben und doch würden wir nicht hinterherkommen. Für mich heißt das: Die Wege, über die diese Kreaturen hierher kommen, werden zahlreicher.“
„Du meinst, es entstehen andauernd neue Wege?“, krächzte Marius.
„Ja, irgendwie so. Das ist meine Vermutung, am Ende bin ich aber genauso schlau wie ihr.“
„Wie viele Welten gibt es?“, wollte er wissen.
„Mindestens zwei“, sagte Hidda, die sich augenscheinlich ein wenig beruhigt hatte. „Unsere und die der Oger. Aber wir sind inzwischen so vielen Lebewesen begegnet, die scheinbar aus keiner der beiden stammen...“ Sie hob ratlos die Schultern. „Es können drei sein, oder dreihundert, oder dreitausend.“ Jetzt war sie an der Reihe, angestarrt zu werden.
„Jetzt sagt mir nicht, dass ich hier Neuigkeiten verbreite!“ Alle schauten ein wenig betroffen umher. „Ich fasse es nicht. Sagt bloß, euch ist immer noch nicht klar, dass wir das unbedingt aufhalten müssen? Dass wir diese Wege zwischen den Welten finden und schließen müssen?“
„Nein, natürlich hast du recht“, erwiderte Isengrim. „Es ist nur... über das ganze Ausmaß habe auch ich mir bisher kaum Gedanken gemacht. Es ist ein wenig, ähm, einschüchternd, wenn man so darüber nachdenkt.“
Kleinlaut und möglichst unauffällig zog Rualab das bunte Fell vom Sattel ab und stopfte es in seine Tasche. In diesem Moment stießen Mina und Zuak zu uns.
„Also aufgepasst! Hört mir... zu?“, begann sie, bemerkte dann aber die gedrückte Stimmung. „Mann, was ist denn hier los? Hat Muonn wieder versucht zu kochen oder wie?“
„Alles ist gut. Erzähle ich dir später“, beschwichtigte Hidda.
Mit einer hochgezogenen Augenbraue schaute sie in die betretenen Gesichter und nickte schließlich. „Wie ihr meint. Hauptsache, ihr reißt euch zusammen, denn wir brechen gleich auf. Der Scharlatan und ich haben uns mal ein paar Gedanken gemacht. Unser nächster Auftrag wird in Immerhain sein, mit kurzem Halt in Etteln.“ Es freute mich zu sehen, dass Zuak allmählich von den anderen akzeptiert worden war. Mina schien insbesondere seine geografischen Kenntnisse schätzen gelernt zu haben. „Danach schlagen wir einen großen Bogen gen Süden, wo es hoffentlich ein paar Grad wärmer ist.“ Demonstrativ zog sie sich ihr Wolfsfell enger um die Schultern. Die Ankündigung wärmerer Gefilde rang den anderen frohlockendes Seufzen ab.
„Also dann, aufsitzen. Und wischt euch mal diese Sorgenfalten aus dem Gesicht.“
Wir verließen das Dorf um einige Münzen, Erfahrungen und Trophäen reicher und betraten die Straße in Richtung Osten. Mina legte einen gemütlichen Trab an den Tag, sodass ich bequem schritthalten konnte. Es waren unbeschwerte Tage, die Stimmung war gut und die anderen sprühten regelrecht vor Optimismus und Zuversicht. Das neue Jahr war noch jung, doch bereits jetzt schon so verheißungsvoll. Hiskam erklärte mir, dass Menschen immer auf der Suche nach einem höheren Zweck, nach einem Sinn in ihrem Leben waren. Und den schienen sie gefunden zu haben.
„Weißt du überhaupt, wie wir zueinander gekommen sind? Wie die Drachenjäger entstanden sind?“, fragte er mich, während ich neben ihm her schlenderte.
Ich schüttelte den Kopf, war aber sofort interessiert.
„Nun, eigentlich gibt es da auch nicht viel zu erzählen: Wir sind Söldner und beinahe jeder von uns hat eine kriminelle Vergangenheit.“
Seine Offenheit überraschte mich.
„Jetzt guck doch nicht so! Hast du uns etwa für edle Ritter gehalten, denen Tugend und Ehre über alles geht?“ Er kicherte. „Nein, nein. Wir sind Schurken und Halunken, durch die Bank. Meine Spezialität war es, den Reichen gefälschte Raritäten zu verkaufen. Isengrim dort, Schulden eintreiben mit, sagen wir mal, fragwürdigen Methoden. Marius... hm. Ey, Marius, was hast du nochmal angestellt, um bei uns zu landen?“
„Taschendiebstahl“, tönte es von vorne zurück.
„Ah, richtig.“ Er schaute mich unschuldig amüsiert an. „Wie du siehst, könnten wir alle unterschiedlicher nicht sein. Lediglich eins eint uns: Wir alle wurden bei unseren Machenschaften erwischt. Und uns allen hat Mina eine zweite Chance gegeben. Für mich waren eigentlich schon Kerker und dreißig Peitschenhiebe reserviert, aber sie hat es irgendwie geschafft, den Schultheiß davon zu überzeugen, dass ich meine Buße auch im Dienste ihrer Truppe tun könne, um ein wenig von dem Schaden zu reparieren, den ich angerichtet habe.“ Er wandte sich von mir ab und wurde ernst. „Was nach einer tollen Geschichte mit glücklichem Ende klingt, ist in Wahrheit wenig romantisch. Wir sind alle Taugenichtse, die in ihrem Leben auf die falsche Bahn abgebogen sind. Verstehst du? Menschen werden nicht kriminell, weil sie das toll finden. Sie werden es, weil es am Ende der Sackgasse, in der sie landen, keinen anderen Ausweg gibt.“ Er lehnte sich aus seinem Sattel ein wenig zu mir herüber und flüsterte: „Und deswegen war das letzte halbe Jahr für jeden von uns wahrscheinlich besser als das ganze Leben davor. Wir haben etwas gefunden, das wir gut können, das Menschen hilft und womit wir auch noch einen Arsch voll Münzen verdienen.“ Er zwinkerte mir schelmisch zu.
„Verstehe... denke ich“, erwiderte ich nur und rückte die Riemen unseres Bandeliers zurecht, dessen Riemen durch das Gewicht des Hammers schwer auf unsere Schultern drückte. Menschen waren komplizierte Wesen.
Wir steckten tief in der kalten Jahreszeit, das Neujahrsfest war erst wenige Wochen her, mit wenig Sonnenschein und Regen, der mitunter in Form strahlend weißer Flocken vom Himmel fiel. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Auch Morg gab sich einem beinahe kindlichen Vergnügen hin, diesen herabsegelnden Flocken hinterherzujagen. Den anderen entlockte das nur ein missmutiges Kopfschütteln, das unter tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen kaum zu erkennen war. Glücklicherweise ließen sich inzwischen die meisten Bauern dazu überreden, häufig unter Darreichung klimpernder Münzen, uns ein Obdach in ihren Ställen oder Scheunen zu gewähren. So mussten wir nur in Ausnahmefällen unter freiem Himmel schlafen, was die Laune schlagartig eintrübte. Sogar ich musste zugeben, dass wir die kalten Nächte durch unsere dicke Haut ein wenig spürten.
Nach einigen Tagen auf schlammigen Straßen erreichten wir schließlich unseren nächsten Halt: Etteln.
Bereits von weitem waren die dicken Rußwolken zu erkennen, die sich schwerfällig in den frostigen Himmel schlichen. Wie eine ätherische Glocke hing schwarzer Dunst hartnäckig über der Stadt und ließ die ohnehin schon schwache Sonne zu einem zwielichtigen Abbild ihrer selbst werden.
„Willkommen in der Kohlehauptstadt des Landes“, seufzte Mina.
„Was meinst du damit?“
„Nun... so gut wie jedes Stück Kohle, das irgendwo im Königreich angezündet wird, sei es in einem Ofen zum Kochen oder zum Schmieden von Stahl, kommt von hier.“
Ich ließ einen beeindruckten Blick über die unzähligen Schlote und Kamine wandern, die zwischen niedrigen Häusern emporragten. „Dann müssen die Leute ja unglaublich reich sein.“
Sie schnaubte amüsiert. „Jep. Haben die nur nichts von, wenn sie nur dreißig Jahre alt werden. Staublunge, ein übler Tod.“
„Willkommen in der Zukunft“, frohlockte Hiskam und ritt voraus.
Je näher wir dem Stadtkern kamen, desto mehr Sonnenlicht wurde von der Staubglocke geschluckt, und als wir ersten Häuser passierten, fiel nur noch schummriges Zwielicht auf den von einer dicken Rußschicht bedeckten Boden. Alles war in diesen giftig wirkenden, schwarzen Mantel gehüllt: Die wenigen kleinwüchsigen Pflanzen, die mit derart wenig Sonnenlicht auskamen, die einst wohl bunten Häuser, sogar die Menschen, in deren Gesichter strahlend weiße Augäpfel einen stechenden Kontrast zur rußgeschwärzten Haut bildeten. Überhaupt schien die düstere Stimmung unmittelbar die Gemüter der Menschen widerzuspiegeln: Wenn man jemanden traf, schaute derjenige höchstens kurz von seinen Füßen hoch, warf uns einen gleichgültigen Blick zu, nur um sich kurz darauf wieder auf seine Fußspitzen zu konzentrieren. In der Luft, die einen unwillkürlichen Hustenreiz auslöste, lag das Schnaufen von Öfen und Kokereien sowie das entfernte Klirren von Metall. An diesem Ort war nichts Natürliches mehr, kein Vogelgezwitscher, kein Kinderlachen, keine Unterhaltungen.
Wenn die Stadt reich war, so tat sie ihr bestes, diesen Umstand zu verbergen. Die Hauptstraße war nicht gepflastert, viel mehr ein sumpfiger Morast, der die Füße schwarz färbte und obendrein noch nach dem Inhalt von Nachttöpfen stank, die die Bewohner wohl unbekümmert vor ihren Haustüren entleerten. Wir sahen Löcher in Dächern und fehlende Haustüren.
„In was für ein Loch hast du uns hier geführt, Mina?“, hustete Isengrim unter einem Tuch hervor, das sie sich um den Mund gebunden hatte.
„Du hast recht. Und überhaupt, wo sind alle?“, antwortete sie, die vereinsamte, krumme Hauptstraße betrachtend. Es ist nicht so, dass wir jedes Mal eine jubelnde Menschenmenge bei unserer Ankunft erwarteten, aber niemanden zu sehen war ungewöhnlich. Wie um den trostlosen Eindruck zu unterstreichen, klapperte ein Fensterladen in der schwachen Brise.
„Seid mal still!“, zischte Marius und hielt sich eine Hand an die Ohrmuschel. „Ich glaube, da hält jemand eine Rede oder so.“
„Ja, ein Mann“, rumpelte Morg beipflichtend.
„Ich hör‘ nichts, aber wenn ihr meint... Dann lasst uns mal schauen, was er zu erzählen hat.“ Mina gab ihrem Pferd einen leichten Tritt und erhöhte das Tempo. Kurz darauf erreichten wir den überschaubaren Marktplatz. Mir stockte der Atem. Er war voller Menschen! Sie alle standen stumm dort, wie angewurzelt, und starrten auf denselben Punkt.
„Dort vorne steht der Mann, der die Rede hält.“
Von hier war auch das Schluchzen einer Frau zu hören, das sich erschöpft unter die tiefe Stimme des Mannes mischte. Erstaunt stellte ich fest, dass sich niemand umdrehte, obwohl ich mir inzwischen der Wirkung meiner tiefen, für manche Menschen auch ungeheuerlichen Stimme bewusst war. „Und da steht eine Frau... an einen Pfahl gefesselt?“, beobachtete ich, ohne mir auf die Szene einen Reim machen zu können.
Die anderen blieben ruhig in ihren Sätteln, ohne einen Ton von sich zu geben. Sie machten keine Anstalten, weiter nach vorne zu drängen.
„Was passiert hier?“, wandte ich mich leise an Zuak, der neben mir auf seinem zotteligen Pferd saß.
„Nun, ähm, wirst du Zeuge, wie wir Menschen mit jemandem umgehen, der uns unheimlich ist.“ Er fühlte sich sichtbar unwohl, wendete seinen Blick aber nicht ab. „Urteile nicht über uns“, schob er noch flüsternd hinterher.
Wieso urteilen?, dachte ich. Das Verhalten der Menschen überraschte mich, doch ich übte mich in Geduld und schaute aufmerksam nach vorne, wo der Mann in dem schwarzen Gewand gerade in den letzten Zügen seiner Rede war. Er war auf die Entfernung kaum zu verstehen, als er die Zuschauer segnete und mit der Güte des Herrn bedachte. Die Menge schwieg eisern, nicht ein Laut war zu vernehmen. Schließlich nickte der Mann vorne einem anderen Mann zu, der eine schwarze Kapuze auf dem Kopf trug, in der lediglich zwei Gucklöcher für die Augen vorgesehen waren. Mir schwante, in welche Richtung die Szene sich entwickeln würde.
Der Mann mit der Kapuze schnappte sich eine brennende Fackel und steckte sie in einen Haufen aus Holzscheiten, der sich am Fuße des Pfahls befand. Das spitze Holz schien sich schmerzhaft in die nackten Fußsohlen der Frau zu bohren, die unter ihrem dünnen, löchrigen Hemd wie Espenlaub zitterte. Sie stammelte etwas, das ich nicht verstand. Langsam entwickelten sich die ersten Rauchschwaden in dem Holzhaufen, bevor auch schon bald die ersten kleinen Flammen empor züngelten. Ein lauter Schluchzer, gefolgt von vehementem Wehklagen, ertönte hinter den matten, klebrigen Haaren der Frau.
Besorgt sah ich mich zu den anderen um, die grimmig ihren Blick nach vorne geheftet hielten. „Müssen wir nicht...?“, flüsterte ich, doch keiner von ihnen reagierte.
Dann fing die Frau an zu schreien. Die anfänglichen Rufe der Angst verwandelten sie sich schnell zu Schreien der Pein. Sie verbrannte bei lebendigem Leib! Mit morbider Faszination betrachtete ich das Schauspiel, während die Flammen immer höher und gieriger emporwuchsen. Niemand der Umherstehenden zeigte eine Regung, weder Jubel noch Betroffenheit. Wie angewurzelt starrten sie schweigend auf die Szene. Nur Hidda und Marius wendeten sich angeekelt ab. Die Schreie der Frau wanden sich in immer neue Höhen, eroberten Frequenzen, die nur unter Todesqualen zu erreichen waren. Das gierig knisternde Feuer schien das nur noch weiter zu ermutigen. Schon bald war die Frau vollständig in Flammen gehüllt. Ihre Haut platzte auf und wurde von rosig zu dunkelrot zu schwarz. Und immer noch war sie bei Bewusstsein!
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, verstummte sie, ihr kahlgebrannter Kopf sackte vornüber. Die eintretende Stille wurde lediglich vom Geräusch des lodernden Feuers ausgefüllt, das einen feucht-schmorenden Unterton angenommen hatte.
„Möge Gott ihrer Seele gnädig sein“, rief der Mann in Schwarz zufrieden. Mit diesen Worten war das Schauspiel beendet und es kam Bewegung in die Menschen, die sich in alle Richtungen zu verteilen begannen. Schlurfende Schritte hallten über den Platz.
„Mir ist schlecht“, jammerte Marius.
„Reiß dich mal ein bisschen zusammen. Aber ich muss sagen, das war keine normale Hexenverbrennung. Normalerweise toben und jubeln die Leute.“
„Das war ein Hexe?“, hakte ich nach.
„Ja. Zumindest hielt man sie dafür“, erwiderte Zuak, der ebenfalls ein wenig mitgenommen aussah.
„Nun, wenn die Kirche das festgestellt hat, dann wird es schon stimmen“, entgegnete Hiskam.
„Das geht uns nichts an. Lasst uns mal den Priester da vorne fragen, ob er uns weiterhelfen kann“, unterbrach Mina und begann, sich einen Weg durch die sich auflösende Menschenmenge zu bahnen. Je weiter wir nach vorne kamen, desto stärker wurde der Geruch des Feuers und dem, was es fütterte. Die anderen banden sich ihre Tücher um die Nasen, um sich davor zu schützen.
„Hmm, riecht leck-“, rümpfte Morg die Nase.
„Psst, ruhig. Nicht jetzt“, unterbrach ich ihn hastig.
Beleidigt verfiel er in Schweigen. Und doch musste ich ihm recht geben – es roch tatsächlich nicht unappetitlich.
Hastig schüttelte ich den Gedanken ab und konzentrierte mich auf den Mann, der offenbar der Priester war. Und er erwiderte meinen Blick, panisch und wie erstarrt. Je näher wir ihm kamen, desto lauter wurde sein Gemurmel: „Herr im Himmel, erbarme Dich meiner. Herr im Himmel...“
Die anderen Menschen, die rund um den schmorenden Scheiterhaufen standen, folgten seinem Blick. Der Mann mit der schwarzen Kapuze hatte nun eine wuchtige Axt in der Hand, die er nervös umklammerte.
„Es ist der Fluch!“, rief er.
Als wir ein paar Schritte vor ihnen zum Stehen kamen, fiel der Mann in Schwarz auf die Knie und presste die Hände zusammen. „Oh gütiger Gott, schütze uns vor diesem Dämon!“ Von wem redete der?
„Ähem, Vater?“, räusperte sich Mina, die ihre Augen gegen den beißenden Qualm zusammenkniff. „Vater?!“, rief sie noch einmal lauter, als der Mann nicht reagierte.
Der blinzelte überrascht und löste seinen Blick von mir. „Was... wer seid ihr?“
„Die Drachenjäger. Wir haben eine Nachricht vom Statthalter bekommen. Er meinte, ihr habt ein Problem?“ Ich sah ihren Blick kurz zu dem Feuer herüber huschen. „Oder habt ihr das inzwischen schon selbt gelöst?“
„Problem? Ah, ja, das Problem ist gelöst. Für euch gibt es keine Verwendung mehr. Insbesondere nicht, wenn ihr mit einem Dämon im Bunde seid. Wenn ihr dann diesen gottesfürchtigen Ort verlassen wollt?“ Seine Stimme war von verängstigt zu trotzig übergegangen, seine Hände streckten ein kleines Buch in meine Richtung. Wie einen Schild.
Meinte er etwa mich, wenn er Dämon sagte?
„Nun gut, wenn das so ist...?“, schloss Mina gleichgültig und machte kehrt.
„Einen Moment!“, rief plötzlich jemand. Ein Mann drängelte sich zwischen den letzten Nachzüglern hindurch, die gerade dabei waren, den Platz zu verlassen. Sie schienen nicht die geringste Notiz von mir genommen zu haben, im Gegensatz zum Priester und seinen Gefolgsleuten.
Der Mann war schlicht gekleidet und trug einen runden Hut. „Moment. Ich hörte von einem, äh, Riesen, der in der Stadt ist und dachte mir schon, dass nur ihr das sein könnt. Ich bin Gonno, Statthalter von Etteln. Willkommen.“
„Gonno, bei Gott, du ziehst doch nicht ernsthaft in Betracht...?“, zischte der Priester. Mit einem Mal wurde er sich bewusst, dass er sich immer noch auf den Knien befand, und erhob sich mit einem verzweifelten Rest Würde. „Wir haben die Schuldige gefunden und sie der Gnade des Herrn übergeben.“ Er zeigte auf das allmählich sterbende Feuer, in dem sich undeutlich die rabenschwarze Gestalt der Frau abzeichnete. „Du kannst diese... Teufel hier nun fortschicken.“
„Vater, bei allem Respekt, habt ihr euch die Menge eben angeschaut? Es hat sich nichts verändert! Die sind immer noch genauso. Ich will nicht sagen, dass Jesmina unschuldig war, aber vielleicht funktioniert ihr Fluch doch anders, als ihr gedacht habt? In jedem Fall kann es nicht schaden, das ganze noch einmal von Fachleuten untersuchen zu lassen. Das ist meine Entscheidung.“
„Nun, wie du meinst. Aber ich sage dir eins: Gott wird das nicht gutheißen. Und es würde mich nicht wundern, wenn er...“ Er schien sich selbst zu unterbrechen, setzte ein gezwungenes Lächeln auf und strich sein schwarzes Gewand glatt. „Guten Tag.“ Er fasste sich an den Hut und verschwand ohne ein weiteres Wort in einer Seitengasse des Platzes.
„Ich fühle eine gewisse Spannung in der Luft“, stellte Rualab fest.
„Ähm, ja, eine längere Geschichte. Wie wär’s, wenn wir unsere Unterhaltung woanders fortführen?“, bot Gonno an und warf einen angewiderten Blick auf das Feuer.
„Gerne. Und bevor ihr fragt: Unser Freund hier gehört zu uns. Wenn ihr uns engagiert, dann nur alle von uns – oder keinen.“ Mina deutete in meine Richtung.
„Keine Sorge, von mir habt ihr nichts zu befürchten. Ich habe schon viel von euch gehört. Ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich nach euch schickte.“ Er machte kehrt und bedeutete uns, zu folgen.
Wir folgten dem Mann und verließen den Marktplatz über eine Seitenstraße. Hier war es im Vergleich zu dem Gedränge auf dem Marktplatz gespenstisch einsam. Schließlich erreichten wir einen kleinen Stand, der auf der Straße Getränke und Kleinigkeiten zum Essen anbot.
„Ich habe eine Lokalität unter freiem Himmel gewählt, damit euer Freund dabei sein kann“, schmunzelte er und nickte in meine Richtung. „Oder wie leicht kommt ihr durch eine Haustür hindurch?“
„Sehr aufmerksam, vielen Dank“, erwiderte ich aufrichtig. Menschliche Behausungen waren tatsächlich nicht für Oger gemacht. Und so stellten sich die Menschen ringsherum um einen hohen Stehtisch, während ich mich daneben setzte.
„Mert, bringst du uns bitte ein paar Bier und... äh...“ Er sah ratlos zu mir rüber.
„Nun, wenn ihr Gefäße habt, die groß genug sind, nehme ich auch ein Bier.“ Ich hatte die Menschen schon oft dieses Getränk verschlingen sehen, aber nie einen Krug gefunden, der groß genug für meine Hände war. Der dicke Mann, dem der Stand offenbar gehörte, kratzte sich kurz am kahlen Haupt, nickte dann aber schließlich und verschwand irgendwo hinter seiner Bude.
„So, eine Hexe also? Ist schon eine Weile her, dass ich so etwas gesehen habe. Was hat sie angestellt?“, eröffnete Mina im Plauderton die Unterhaltung.
Gonno seufzte schwer und fuhr sich langsam mit beiden Händen durchs Gesicht. „Glaubt mir, auch ich habe sowas schon sehr, sehr lange nicht mehr erlebt. Ich bitte euch, urteilt nicht über Ettelner anhand dessen, was ihr da eben gesehen habt. Wir sind üblicherweise kein leichtgläubiger Menschenschlag, uns liegt Grausamkeit eigentlich fern. Aber dies sind nicht die üblichen Zeiten.“
Mert brachte acht Holkrüge, aus denen dünner Schaum über die Ränder schwappte. Wortlos kehrte er um und verschwand erneut.
„Zu deiner Frage: Die Beweislage ist äußerst dürftig, ein klassischer Hexenprozess eben. Aber Koll, der Priester, hat sie als ausreichend angesehen. Damit sind wir nun auch schon beim Grund eurer Anwesenheit in meiner Stadt angelangt.“
Er unterbrach sich, als Mert, umständlich einen großen Eimer balancierend, erneut vorbeikam. „Das sind fünf Bier, Gonno, nur dass du es weißt“, murmelte er und ließ ihn schwer vor mir auf den Tisch knallen. „Keine Sorge, ist sauber.“
„Danke dir, Mert.“
Der nickte nur und machte sich daran, mit einem schmutzigen Lappen seinen noch schmutzigeren, mit Ruß behafteten Stand zu reinigen – ein sicherlich hoffnungsloses Unterfangen.
Wir stießen an, ernst und ohne einen Trinkspruch, und nahmen einen tiefen Schluck. Ich ließ Morg den Vortritt, stellvertretend für uns beide zu trinken.
„Also, was hat diese Jesmina angestellt?“, hakte Mina nach.
„Nun, Koll ist überzeugt davon, dass sie unser Dorf verflucht hat. Und dass der durch Reinigung mit heiligem Feuer gebrochen werden kann.“
„Und hat es funktioniert?“, mischte sich Zuak ein, der seine Geringschätzung kaum zu verbergen vermochte.
„Machten die Leute einen irgendwie... unverfluchten Eindruck auf euch?“
„Nein, zugegeben, taten sie nicht. Was ist mit denen los? Bei den Hexenverbrennungen, die ich kenne, herrscht üblicherweise Volkfeststimmung.“
„Das ist es ja! Wir wissen es einfach nicht. Diese Apathie, diese Teilnahmslosigkeit, beinahe die gesamte Stadt ist davon betroffen. Die gehen nicht mehr zur Arbeit, bestellen ihre Felder nicht mehr; zum Teufel, wir hatten schon Leute, die verhungert sind, weil sie sich nicht aufraffen konnten, etwas zu essen!“ Hastig bekreuzigte er sich.
„Und wie passt diese Jesmina nun ins Bild?“, forschte Hidda.
„Ich, äh, weiß es nicht.“ Der Statthalter rang seine Hände, um eine Antwort verlegen. „Der Priester hat einfach irgendwann gesagt, sie wäre es, und damit war die Schuldige identifiziert.“
„Die Wege des Herrn sind unergründlich“, säuselte Zuak ironisch.
„Ich war von Anfang an dagegen, habe versucht, es zu verhindern. Nun ja, aber wenn die Pfaffen einmal Stimmung machen in ihren Predigten, dann wisst ihr ja, wie schnell die Stimmung im Volk kippt. Sie war nun mal Außenseiterin hier im Dorf, wurde von ihrer Familie verstoßen. Wahrscheinlich war sie nur der naheliegende Sündenbock.“
„Nochmal zu diesem Fluch“, wollte ich nun von ihm wissen. „Warum sind einige von euch nicht betroffen? Du und Mert und der Priester zum Beispiel?“
Zuak nickte mir anerkennend zu.
„Gute Frage, auf die ich erneut keine Antwort habe. Bei einigen geht es schneller, bei anderen langsamer.“ Er zuckte mit den Schultern. „Alles ging vor einigen Monaten los, da tauchten die ersten Fälle auf. Zunächst dachten wir an eine Seuche oder ähnliches, aber es verhielt sich nicht wie eine. Und seitdem frisst es sich wie ein Geschwür durch unsere Stadt. Ich habe kaum noch Leute, mit denen ich alles am Laufen halten kann. Geschweige denn, dass ich diesem Problem auf den Grund gehe. Ihr seid unsere letzt Hoffnung.“
„Was für eine Scheiße“, stöhnte Hiskam und leerte seinen Krug.
„So gut wie immer gibt es eine rationale Erklärung für solche Dinge“, bekräftigte Hidda. „Du sagst, vor ein paar Monaten ist das Phänomen das erste Mal aufgetaucht. Hat es zu dieser Zeit andere Auffälligkeiten gegeben? Besonderes Wetter, Fremde in der Stadt, Tiersichtungen, so etwas?“
Der Statthalter kramte in seiner Erinnerung und schüttelte schließlich den Kopf. „Nein, nicht dass ich wüsste. Ich werde mich aber mal umhören, ob jemandem etwas aufgefallen ist.“
„Gut. Und wir beginnen unsere Untersuchungen“, sagte Mina und stellte ebenfalls ihren leeren Krug ab.
„Falls ihr mich sucht, ich wohne am Stadtrand. Das Haus ist kaum zu verkennen“, schloss Gonno und erhob sich zum Gehen. „Viel Erfolg!“ Er tippte sich an die Stirn und ging auf der vereinsamten Straße davon.
Eine Zeitlang standen wir noch schweigsam da und versuchten, aus dem Gehörten einen Sinn zu formen.
„Puh“, seufzte Rualab schließlich. „Keinen Schimmer, wie es euch geht, aber mir ist das zu hoch. Vielleicht sollten wir ablehnen und weiterziehen.“
Hiskam nickte zustimmend.
„Weichei“, murmelte Muonn.
„Was hast du zu mir gesagt, Rostbeule?“, flüsterte Hiskam und baute sich bedrohlich vor ihm auf.
„Ruhe jetzt, verdammt nochmal!“, fauchte Mina. „Manchmal denke ich, ihr seid alle noch in der Pubertät. Reißt euch zusammen und konzentriert euch auf die Aufgabe!“ Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. „Wir werden nicht den Schwanz einziehen, sondern diesen Leuten helfen, so gut wir es können. Verstanden?“
Rualab und Hiskam nickten.
„Also. Vorschläge bitte.“ Sie schaute abwartend in die Runde.
„Wir müssen erst einmal die Ursache für das alles finden“, schlug Hidda vor. „Wenn wir die haben, überlegen wir uns, wie wir sie beseitigen und die Stadt davon befreien.“
„Schön und gut, Süße, da hast du ja nicht unrecht“, warf Isengrim ein, „aber schon der erste Schritt ist ja leichter gesagt als getan. Wie willst du diese Ursache finden? Leute befragen, die nicht mehr bei Verstand sind? Oder am besten noch diese Jesmina, was für einen Fluch sie gewoben hat?“ Sie kicherte rauchig.
„Ja, genau so“, erwiderte Hidda und sah sie trotzig an. Isengrim verschluckte sich an ihrem Kichern.
„Gut, ihr habt die Frau gehört“, stimmte Mina zu. „Hidda, Morg und Grom, ihr, äh, ‚befragt‘ diese Jesmina. Den Toten wird es egal sein, ob sie von einem Oger befragt werden oder nicht... im Gegensatz zu den Lebenden. Muonn, wir beide gehen zum Priester und horchen ihn aus, ihr anderen bildet Zweiergruppen und klopft den Rest der Stadt ab. Wer auch immer ansprechbar ist, versucht möglichst viel, aus ihnen heraus zu bekommen. Was auch immer auffällig war in den letzten Monaten, jede noch so winzige Abweichung vom Alltag, kann der Schlüssel sein. Wir treffen uns heute Abend hier wieder.“ Alle nickten und verteilten sich mehr oder weniger eifrig in alle Richtungen.
Hidda und wir gingen gemächlich die wie leergefegten Straßen in Richtung des Platzes zurück, wo Jesmina verbrannt worden war. Es war noch früher Nachmittag, doch die tiefstehende Wintersonne warf bereits lange Schatten, die die gespenstische Stimmung noch verstärkten.
„Sag mal, was ich dich schon immer fragen wollte“, begann ich und riss Hidda aus ihren Gedanken.
„Was denn?“
„Wie bist du eigentlich bei den Drachenjägern gelandet? Wenn ich fragen darf!“, haspelte ich schnell.
„Natürlich darfst du. Ist aber auch nicht viel anders als bei den anderen.“
„Es ist nur... du bist irgendwie anders als die anderen. Kein Draufgänger wie Hiskam, kein Veteran wie Isengrim.“
„Nein, du hast recht“, seufzte sie und ließ die Schultern ein wenig sacken. „Ich bin auf dem Schlachtfeld nicht zu gebrauchen. Meine Armbrust ist die eine Waffe, an der ich nicht völlig versage. Mit viel Fantasie könnte mich sogar gut nennen, aber auch nur, weil es eine Eigenkonstruktion ist. Ich weiß ich nicht, ob ich nicht eine Last für die anderen bin.“ In diesem Moment sah sie unglaublich zerbrechlich aus, was ihr offenbar auch bewusst wurde. Sie kniff die Lippen zusammen und schaute streng geradeaus. „Ich weiß auch nicht, warum ich dir das erzähle. Das war ja nicht deine Frage, oder?“
„Entschuldige, ich wollte nicht-“
„Nein, nein, ist schon gut. Du hast etwas an dir, so eine unschuldige Neugier, die dich... ähm, vertrauenswürdig macht.“ Sie warf mir einen schnellen Seitenblick zu. „Auch wenn du vom Aussehen her einem Alptraum entsprungen sein könntest. Also, ich meine, ihr beide wegen der zwei Köpfe und eurer Größe!“ Ihre Wangen wurden dunkelrot. „Ich wollte nicht sagen, dass du hässlich bist oder so. Ganz im Gegenteil sogar, du...“ Sie verhaspeltet sich und presste ihre Kiefer zusammen.
Ich musste lachen. „Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.“
„Also gut, wie ich bei denen gelandet bin?“, kam sie einer peinlichen Stille zuvor. „In meinem Heimatdorf hatte ich zunächst eine Ausbildung als Schmiedin gemacht und schnell festgestellt, dass mir technische Dinge liegen. Also wollte ich mehr, wollte dort nicht den Rest meines Lebens fristen. So habe ich Reißaus genommen und habe mich nach Goldenstein durchgeschlagen, um dort an der Universität zu studieren.“
„Eine Schule?“
„Ja, die höchste Schule, die es im Königreich gibt. Anfangs lief es gut: Ich habe einen Weg gefunden, das alles zu bezahlen, hatte gute Noten, war eine der besten meines Jahrgangs.“ Sie stockte.
„Aber?“, stocherte ich behutsam weiter.
„Na ja, es kam, wie es kommen musste, wenn ein Mädchen wie ich, aus ärmsten Verhältnissen, unter den Kindern der Reichen und Mächtigen lebt. Es gab da diesen Jungen, in den ich schrecklich verliebt war. Ich glaube auch nach wie vor, dass er etwas für mich empfand, doch als seine Eltern herausbekamen, dass er eine Gewöhnliche traf, ging es ganz schnell. Es ging um einen seiner Siegelringe, der auf einmal fehlte. Wen beschuldigte man? Natürlich, mich. Er ließ mich schneller fallen als eine heiße Kartoffel. Ich wurde ausgeschlossen, verhaftet und ein Richter verurteilte mich zu fünfzehn Jahren Zuchthaus – alles innerhalb einer Woche.“
Alles, was ich zustande brachte, war eine Art Grunzen. Mir fehlten die Worte.
„Danke“, sagte Hidda schließlich.
„Wofür?“
„Dass du nicht gefragt hast, ob ich ihn tatsächlich gestohlen habe.“ Sie lächelte mich wieder betrübt an. „Den Rest kannst du dir dann sicherlich denken. Ich hatte mit meinem Leben schon abgeschlossen, als nach einigen Tagen im Zuchthaus die Tür aufging und Mina dort stand. Sie hat mich da rausgeholt, ich verdanke ihr mein Leben.“
Ich verstand. „Und wie lange musst du nun bei ihr bleiben, um deine Schuld abzugelten?“
Sie lachte glockenhell auf, wurde dann aber schlagartig ernst. „Das ist schon lange rum. Ich bin freiwillig dabei. Sie sind meine Familie.“
„Ich denke... ich verstehe?“, murmelte ich. In diesem Moment traten wir auf den Marktplatz. Er lag verwaist da, niemand war mehr zu sehen. Einige Raben hatten sich in der Nähe der schwarz verkohlten Überreste niedergelassen und pickten in den Überresten herum, aus denen ein dünner Rauchfaden emporstieg.
„Also diese Frau war eine Hexe. Das bedeutet, sie konnte zaubern, ist das richtig?“, fragte ich, während wir darauf zugingen.
„Nein, das ist Gewäsch. Es gibt keine Zauberer, Hexen oder sonstiges. Hexenprozesse haben selten etwas mit tatsächlicher Schuld zu tun, meist geht es nur darum, einen Sündenbock zu finden, damit die Menschen sich besser fühlen. Wenn etwas geschieht, was sie sich nicht erklären können und worauf sie keinen Einfluss haben, zeigen sie mit dem Finger auf jemanden.“
„Und der Priester hat sie schuldig gesprochen?“
„Ich vermute, ja. Diese Dinge sind kompliziert, da läuft es selten geordnet ab. Glücklicherweise kommt das heutzutage nur noch selten vor. Bis vor fünfzig Jahren war das noch an der Tagesordnung.“
„Ihr Menschen macht auf mich einen so rationalen Eindruck. Seltsam.“
Hidda schnaubte. „Ein Mensch ist rational. Viele Menschen sind dumm.“
Wir kamen vor dem Aschehaufen zu stehen. Der eisige Wind, der über den Platz strich, wirbelte graue Flocken in die Luft und wehte sie davon. Die Raben schauten uns aus einiger Entfernung skeptisch an.
„Also wenn du mich fragst“, murmelte sie, während sie mit einem kleinen Stock in der noch warmen Asche herumstocherte, „macht Jesmina nicht gerade den gesprächigsten Eindruck auf mich.“
„Ist ja auch tot“, stellte Morg überflüssigerweise fest.
„Ja“, seufzte Hidda. „´Tschuldigung, nicht witzig, ich weiß.“
Gerade als sie den Stock herauszog, fiel mir etwas ins Auge. „Wartet mal!“, unterbrach ich und ging näher heran. Ich spürte die Hitze auf meinem Gesicht, die der Haufen noch hartnäckig abstrahlte. Dort, zwischen den verkohlten Überresten von Holz und wahrscheinlich Knochen, schwach beleuchtet von rotschimmernden Glutresten lag ein solider Gegenstand. Er funkelte leicht.
„Ist das etwa...?“, murmelte ich und und fuhr mit meiner Hand hinein, um ihn zu greifen. Die Hitze machte mir nichts, die grobe, verhärtete Haut an meinen Händen schützte mich gut. Doch als sich meine Finger um das Objekt schlossen, durchfuhr ein gleißend brennender Schmerz durch meine Hand.
„Aaarghhh“, musste ich wohl unwillkürlich laut gebrüllt haben, denn Hidda sprang erschrocken ein paar Schritte zurück. Reflexhaft zuckte meine Hand zurück und ließ den Gegenstand klimpernd auf das grobe Kopfsteinpflaster fallen.
„Gütiger, hab ich mich erschrocken!“, rief sie. „Warum fasst du denn da rein? Ist doch klar, dass das heiß ist!“
„Nein, das... ist es nicht!“, keuchte ich und starrte erst auf meine Hand und danach auf den kleinen Stein, der am Boden lag.
„Lass Morg“, rumpelte es und die linke Hand schoss nach vorne und umschloss den Stein problemlos. Nicht ein Mucks entfuhr Morg, als er den Stein aufhob. Abwartend starrte ich ihn an – nichts!
„Tut dir das nicht weh?“, staunte ich.
Ein amüsiertes, leicht hämisches Grinsen strahlte in meine Richtung.
„Ist ja seltsam. Zeig‘ mal, Morg!“, kam nun Hidda dazu, um den Stein zu inspizieren. Sie griff danach, noch bevor ich etwas einwenden konnte, und nahm ihn ebenso problemlos auf.
„Hä?“, brummte ich nur verwirrt.
„Es ist ein kleiner Stein, nichts weiter“, murmelte sie gedankenverloren, während sie mit ihren Fingern darüber rieb. „Klebt ´ne hartnäckige Ascheschicht drauf, darunter sieht er irgendwie... durchsichtig aus. Fast wie ein Edelstein.“
„Meinst du, der gehörte Jesmina?“
„Wem sonst? War vielleicht nur ein Schmuckstück“, mutmaßte sie und ließ den Stein in ihre Tasche gleiten.
„Meinst du?“ Ich starrte auf meine Hand, wo ich hätte schwören können, dass ein kleiner Abdruck zurückgeblieben war. Beinahe so, als hätte sich das Ding in mein Fleisch gebrannt.
„Wie dem auch sei, mehr werden wir hier nicht finden. Was denkst du, sollen wir die Raben in Ruhe lassen und zu den anderen zurück?“
Ich nickte nur stumm. Warum ‚verbrannte‘ ich mich an dem Stein, die anderen aber nicht? Ich zermarterte mir den Kopf, doch es wollte nichts dabei herauskommen. Hoffentlich hatten die anderen etwas mehr Glück als wir.
„... besser als nichts“, beendete Hidda soeben einen Satz.
„Wie, was? Entschuldige.“
Sie schaute überrascht zu mir herüber. „Alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, es ist nur... alles in Ordnung“, lächelte ich zurück. „Also was ist besser als nichts?“
„Ich sagte nur, dieser Stein ist ein Anhaltspunkt und besser als nichts.“
„Hm hm, wenn du meinst.“
„Meine ich. Wart’s ab. Wir werden dem ganzen schon auf die Schliche kommen. Oh, da vorne gibt’s Dörrfleisch! Möchtest du welches?“ Damit hopste sie davon, ohne auf eine Antwort zu warten.
Dörrfleisch? Und ich dachte, ich wäre pietätlos! Verwundert schaute ich ihr nach.
Später, als die Sonne bereits untergegangen war, trafen wir uns mit dem Rest der Lintbrut an dem kleinen Straßenstand wieder. Der Inhaber war nach wie vor dort, sodass wir in den Genuss einer weiteren Runde Bier kamen. Hidda kaute genüsslich auf einigen sehnigen Fetzen ihres Dörrfleischs herum und spülte es dann und wann mit einem großen Schluck des lauwarmen Getränks herunter.
Isengrim hatte ihre schweren, plattenverstärkten Lederstiefel auf dem Tisch abgelegt und sich weit in ihrem Stuhl zurückgelehnt.
„Jemand den Scharlatan und Hiskam gesehen?“, murmelte sie und pulte mit einem langen Dolch etwas unter ihren Fingernägeln hervor.
„Der wollte noch eine letzte Theorie überprüfen, die ihm eingefallen ist, müssten aber eigentlich schon längst – ah, da kommen sie ja!“ Marius zeigte die Straße hinab, wo sich zwei Gestalten undeutlich in der Dunkelheit abzeichneten. Der Wirt hatte einige Fackeln entzündet, was sein Freiluftwirtshaus zu einer Insel aus schummrig-weichen Licht in einem Meer aus Schatten machte.
„Na dann können wir uns ja endlich eingestehen, dass wir alle mit leeren Händen zurückgekommen sind, und diesen gottlosen Ort verlassen“, motzte Rualab.
„Bitte, niemand hält dich auf“, stöhnte Mina. „Also, dann mal raus mit der Sprache, was habt ihr herausgefunden?“, wandte sie sich an alle.
„Nichts, wie gesagt“, erwiderte Rualab.
„Danke für den Beitrag. Die anderen?“
Betretenes Schweigen breitete sich in unserer Gruppe aus.
„Nun“, sagte Isengrim laut, offenbar genervt, dass niemand sich traute, den Anfang zu machen, und stieß ihren Dolch in das speckige Holz der Tischplatte. Der Schein der Fackeln wurde von der polierten, zitternden Klinge hell zurückgeworfen. „So schwer es mir fällt, muss ich Rualab ein Stück weit zustimmen. Marius und ich, wir haben verzweifelt versucht, mit den Einwohnern zu reden. Ich sage dir, dass ist ein einsilbiges Volk hier! Auf der Straße: Kaum jemand unterwegs – und wenn, weichen sie einem aus oder huschen schnell in irgendwelche Häuser, sobald man sie anspricht. Die Geschäfte: Wenn man mal ein offenes findet, sieht man nur apathisch starrende Idioten vor leeren Regalen stehen. Fragen, was sie denn verkaufen, wo ihr Laden doch leer ist, werden nur mit einem Schulterzucken beantwortet. Die einzige, aus der wir ein paar Worte herausbekommen haben, war eine Magd von einem Gehöft etwas außerhalb der Stadt, die Besorgungen machte. Das junge Ding war aber so verstört, dass es kaum einen zusammenhängenden Satz zustande brachte. Sie sagte, wenn sie es nicht schaffte, ein paar Lebensmittel zu besorgen, gäbe es schon wieder eine Tracht Prügel vom Herrn.“
„Und konntet ihr was nützliches aus ihr herausbekommen?“
„Nichts, was wir nicht schon wussten. Sie sagte, ihre Besorgungen wären Monat für Monat schwieriger geworden. Anfangs wären es nur einzelne Waren von vereinzelten Bauern gewesen, die gefehlt hätten, doch inzwischen gäbe es nichts mehr. Selbst alltägliche Dinge, wie Garn, Kohle oder Leder nicht.“
„Hat sie erwähnt, wann das angefangen hat?“, forschte Mina.
„Ja, daran konnte sie sich sogar ganz genau erinnern. Sie wollte Zutaten für einen Kuchen anlässlich des Erntedankfests besorgen, konnte aber keinen Zucker bekommen. Das kam ihr merkwürdig vor, wo doch gerade die Ernte eingefahren sein sollte.“
„Hm. Mert, hey! Wann feiert ihr hier euer Erntedankfest?“, rief Mina.
„Letztes Wochenende im Sommer“, kam es von irgendwo hinter dem Tresen.
Mina nickte grübelnd. „Dann ging es da also langsam los.“
„Wo ist dieses Gehöft, auf dem die Magd angestellt ist?“, fragte Zuak plötzlich in die Stille hinein.
„Im Norden der Stadt, soweit ich das richtig verstanden habe. Warum?“
Alle schauten zu Zuak. „Also, ähm, wir haben ganz Ähnliches erlebt wie ihr beide. Es gibt da aber, so meine Theorie, ein Muster, insbesondere, da ich eure Geschichte nun gehört habe.“
„Ein Muster? Was meinst du?“
„Diese, äh, Magd wohnt auf einem Gehöft im Norden, ja? Wenn wir mal schauen, von wo die Zuckerrüben kommen, die sie für den Kuchen brauchte, gehe ich jede Wette ein, dass die üblicherweise im Süden der Stadt angebaut werden. Ganz ähnliche Beobachtungen haben wir gemacht: Im Süden der Stadt fing es an, im Norden griff es erst später um sich. Herr Wirt, wo hat der Statthalter sein Haus?“
„Am Stadtrand. Folgt einfach der Hauptstraße nach Norden und biegt dann kurz hinter dem letzten Haus nach links ab.“
Zuak lehnte sich zufrieden zurück und sah sich erwartungsvoll in der Runde um.
„Hm. Gut. Wirklich gut gemacht“, lobte Mina. Isengrim schnaufte nur und fuhr mit ihrer Nagelpflege fort.
„Versteh‘ ich nicht“, sagte Rualab. „Wieso gute Arbeit? Haben wir jetzt irgendwas herausgefunden?“
„Noch nicht“, mischte sich Hidda ein. „Aber wir wissen jetzt, wann und wo es begonnen hat. Das ist ein guter Anhaltspunkt.“ Gebannt wartete ich ab, ob sie nun den Edelstein erwähnen würde, den sie gefunden hatte. Sie öffnete den Mund und kurz sah es aus, als würde sie noch etwas ergänzen wollen, schloss ihn dann jedoch wieder und lächelte nur. Ihr flüchtiger Blick traf meinen, wanderte danach aber zur Tischplatte.
„Genau das“, stimmte Mina zu. „Jetzt wissen wir, wo wir uns morgen mal umschauen.“
„Und was hat das mit dem Haus des Statthalters zu tun?“, hakte Rualab nach.
„Na der ist doch auch noch nicht von diesem Fluch befallen, du Depp“, kicherte Hiskam. „Weil er im N-O-R-D-E-N wohnt.“
„Ist ja gut, verstanden. Gibt‘s noch Bier?“
Am nächsten Morgen trafen wir uns am südlichen Ausgang der Stadt. Morg und ich hatten außerhalb geschlafen, die Menschen in einem billigen Gasthaus in der Stadt.
„Morgen“, knurrte Isengrim, hustete und spuckte zähflüssigen Schleim aus.
„Ist es das?“, brummte Hiskam.
„Was?“
„Morgen.“
Isengrim warf einen Blick zur aufgehenden Sonne, die ihr Bestes tat, sich durch den hartnäckigen Staub in der Luft zu kämpfen. Wie schlimm musste es hier erst sein, wenn die Schmieden und Öfen auf Hochtouren liefen und nicht, aufgrund der Apathie ihrer Betreiber, kalt blieben?
„Keine Ahnung“, urteilte sie schließlich. „Ich weiß nur, dass ich so beschissen geschlafen hab‘ wie lange nicht mehr.“
Die schlecht gepflasterte Straße ging hier allmählich in einen sandigen Feldweg über, der zunehmend spärlicher von Häusern eingerahmt wurde.
„Hauptsache, wir machen uns bald auf den Weg. Ich weiß schon, warum ich kein Gerber geworden bin.“, beschwerte sich Muonn durch das Tuch hindurch, das er sich vor Nase und Mund gebunden hatte.
Bestialischer Gestank lag über diesem Stadtviertel, waberte förmlich greifbar aus den umliegenden Häusern hervor.
„Rottet bestimmt alles vor sich hin: Schweinehälften, rohe Felle, Innereien“, würgte Rualab hervor. Die Vorstellung löste bei Marius einen heftigen Würgereiz aus, den er nur mühsam unter Kontrolle bekam.
„Wer von euch bisher, äh, Zweifel hatte, dass alles hier seinen Ursprung hat, dürfte jetzt überzeugt sein, oder?“, fragte Zuak.
„Gut, nun sind wir hier. Wie machen wir weiter?“, fragte ich und suchte nach einem Anhaltspunkt.
„Wir sehen uns mal bei diesem Rübenbauern um“, schlug Hidda vor. „Ist schließlich der Ort, wo das Phänomen zu allererst aufgetreten ist.“
„So machen wir das“, stimmte Mina zu. „Sein Hof muss noch ein Stück weiter außerhalb sein.“ Ohne abzuwarten, presste sie die Beine in die Flanken ihres Pferdes.
Als wir von dem Hauptweg abbogen, fühlte ich mich unmittelbar einige Monate in der Zeit zurückversetzt, an den Hof in Tandula, auf dem der Lintwurm gewütet hatte. Nur dass hier die Blutlachen und Brandspuren fehlten. Ansonsten sah das Gelände ebenso verlassen und vernachlässigt aus, die Gebäude verfallen und leblos. Ein abgemagerter Hund trottete lustlos und ohne uns weiter zu beachten über den Hof. Ansonsten regte sich nichts.
„Dann schauen wir mal, ob jemand zuhause ist“, murmelte Mina und sprang von ihrem Pferd herunter. „Hallo? Ist hier jemand?“, rief sie laut, erntete jedoch nur ein trockenes Echo als Antwort.
„Das heißt dann wohl nein“, bemerkte Isengrim.
Wir gingen weiter zur klapprigen Tür des Haupthauses, wo Mina kraftvoll anklopfte. Mit einem unheilvollen Knarzen schwang sie auf und gab den Blick in einen dunklen Flur frei.
„Hallo? Wir kommen im Auftrag des Statthalters“, rief Mina erneut, dieses Mal ins Haus hinein.
Nichts.
„Das gefällt mir nicht“, flüsterte Marius.
„Überraschung. Was gefällt dir schon?“, gab Hiskam ebenso leise zurück, angestrengt in den Flur lauschend.
„Deine Mutter zum Beispiel“
„Pssst“, unterbrach Mina.
„Wir kommen rein!“, rief sie kurzerhand in die Dunkelheit und trat über die Schwelle. Glücklicherweise hat das Haus hohe Decken, dachte ich mir noch.
Muonn fand schließlich die Bewohner des kleinen Hofs – in ihrer dunkel verhangenen Stube, selig vereint im Tod auf ihrem abgewetzten Sofa sitzend. Deutlich zu erkennen war die schon weit vorangeschrittene Verwesung, sie mussten schon seit Wochen dort sitzen. Ihre Körper waren eingefallen, die dünne Haut spannte sich über die Knochen, das Gesicht war zu einem augenlosen Grinsen erstarrt.
„Ich erkenne keine Wunden“, murmelte Mina, als sie vor dem Mann und der Frau in die Hocke ging. „Vermutlich verhungert, so friedlich, wie die sich im Arm halten.“
„Vielleicht vergiftet?“, mutmaßte Isengrim.
„In jedem Fall sind sie freiwillig in den Tod gegangen“, ergänzte Zuak und schüttelte betroffen den Kopf.
„Verdammte Scheiße. Was ist hier nur los?“, fluchte Rualab.
„Das gilt es, herauszufinden. Wenn wir die Ursache nicht finden, sieht sich die ganze Stadt bald demselben Schicksal gegenüber“, sagte Mina. „Also, ihr kennt das Spiel. Seht euch um, ob ihr-“
„Mina, warte mal! Was ist da in seiner Hand?“, unterbrach Marius.
Sie ging näher heran, um die Hand des Toten zu untersuchen. „Du hast recht. Da ist...“ Kurzerhand bog sie die knorrigen, vertrockneten Glieder des Leichnams auseinander und befreite den Gegenstand. Es war ein kleiner Edelstein, ähnlich dem, den Hidda und ich auf dem Scheiterhaufen gefunden hatten! Mina hielt den Stein zwischen zwei Fingern in die Höhe, in dessen polierten Inneren sich die vereinzelten Lichtstrahlen brachen, die durch die löchrigen Vorhänge hereinfielen. Mein Blick wanderte zu Hidda, die gebannt auf den Fund starrte.
„Das gibt’s doch nicht“, flüsterte Hiskam. „Ist das ein Edelstein? Sind wir jetzt reich?“
„Guck dich doch mal um, du Idiot. Sieht das aus, als wären die Leute hier reich?“, herrschte Rualab ihn an.
Ich sah Hidda abwesend in ihrer Innentasche wühlen und unseren Fund herausholen. „Ähm, genau so einen haben wir auch bei der Hexe Jesmina gefunden“, sagte sie schließlich und hielt den immer noch vom Ruß schwarz gefärbten Stein neben den von Mina in die Höhe.
„Was soll das heißen, den habt ihr gefunden? Und ihr habt es nicht für nötig gehalten, uns davon zu erzählen?“, fragte Mina.
„Ich... ich... weiß nicht, warum! Glaubt mir, ich wollte das nicht verschweigen, ehrlich!“ Ihre Stimme zitterte.
„Ich habe sie darum gebeten, es fürs erste geheim zu halten“, sprang ich ihr schließlich bei. Morg grummelte etwas Unverständliches und auch Hidda schaute mich mit feuchten, großen Augen an. Erst als mich alle anstarrten, wurde mir bewusst, in welche Zwickmühle ich mich manövriert hatte – bis ich einen Einfall hatte. „Und ich zeige euch auch warum. Darf ich?“
Ich streckte Mina meine geöffnete Handfläche hin. Einen Moment lang schien sie mit sich zu hadern, gab sich aber schließlich einen Ruck. Der Stein funkelte glitzernd, während er durch die Luft glitt und schließlich auf meiner Handfläche landete.
Helle Blitze des Schmerzes durchfuhren meine Hand, wie tausend glühende Nadeln, die in meine Haut fuhren. Sie krochen meine Hand hinauf, stauten sich kurz in meiner Schulter und explodierten schließlich in meinem Kopf.
„Gnaaaaargh!“, bahnte sich die Pein ihren Weg und ich schleuderte reflexartig den Stein fort. Die Menschen waren unvorbereitet auf meinen Ausbruch und sprangen zwei Schritte zurück.
„Mein Gott, was ist denn mit dir?“, rief Hiskam.
„Ist schon wieder gut, danke“, murmelte ich und lachte. „Es ist genau wie mit dem anderen Stein“, und deutete auf Hiddas Exemplar. „Ich kann sie nicht berühren, es ist kaum auszuhalten.“
Neugierig bückte sich Hiskam nach dem Stein, stupste ihn zunächst mit spitzen Fingern an und hob ihn schließlich auf. „Ich merke nichts!“
„Gib‘ mir mal!“, drängelte sich Rualab zu ihm und riss ihm den unscheinbaren Gegenstand aus der Hand. „Ich auch nicht!“, stellte er beinahe triumphierend fest.
Nachdem wir der Reihe nach festgestellt hatten, dass keiner der Menschen von ähnlichen Schmerzen geplagt wurde wie ich, resümierte Zuak: „Interessant. Sowohl der Hexe, als auch den Bauern hier, bedeuteten diese Steine wohl so viel, dass sie ihnen ihr eigenes Leben unterordneten.“
„Wie meinst du das, Scharlatan?“
„Ähm, na wie sehr sie sich in ihren letzten Momenten an diese Dinger klammerten? Nicht an Schmuck oder Erinnerungsstücke – nein, an diese Steinchen!“
„Und es sind keine normalen Edelsteine, das kann ich euch sagen“, ergänzte ich, während ich mir weiter die Hand rieb.
„Sehr gut!“, entfuhr es Mina ein wenig zu euphorisch für meinen Geschmack. „Eine heiße Spur! Damit sind wir schon einen großen Schritt weiter als gestern.“
„Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo diese Steinchen herkommen, und finden dort hoffentlich Antworten“, vervollständigte Hidda den Gedanken und schaute sichtbar erleichtert zu mir herauf. Sie war offenbar froh, nicht weiter erläutern zu müssen, wieso sie diesen Fund vor den anderen verborgen hatte.
„Wobei uns sicherlich Gonno weiterhelfen kann.“ Mina grinste entschlossen.
Tatsächlich konnte er es – oder hatte zumindest eine starke Vermutung, um was für Steine es sich handelte.
„Wovon, denkt ihr, leben wir hier in Etteln?“
„Momentan seid ihr dem Tod näher als dem Leben, wenn du mich fragst“, antwortete Hiskam, was ihm einen Hieb in die Seite von Rualab einhandelte. „Au! Was denn?“
„Das ist wohl offensichtlich und auch landesweit bekannt: Kohle und Eisenerz“, beantwortete Hidda die Frage des Statthalters.
„Nah dran“, erwiderte Gonno und nickte. Er vergrub seine Hände tief in den Taschen seiner Hose und begann, vor dem kleinen Eingangsbereichs seines Hauses auf und ab zu laufen. „Selbstredend, die Zeichen sind offensichtlich. Wir bauen Kohle ab und verarbeiteten sie weiter. Aber es ist ein hartes, gefährliches Brot. Niemand, der bei Sinnen ist, macht das freiwillig.“ Er blieb stehen und sah uns mit funkelnden Augen an. „Minerale.“
„Wie, Minerale?“ Hiskam war ratlos.
„Edelsteine, du Depp.“
„Richtig, Edelsteine“, bestätigte Gonno. „Ich kann doch auf eure Diskretion zählen? Gut. Das alles hier“, er zeigte auf die Stadt, die zu unseren Füßen lag, „ist im Wesentlichen Tarnung. Natürlich ist die Kohleförderung immer noch ein nicht unwesentlicher Bestandteil unserer Wirtschaft, aber Geld verdienen wir mit Edelsteinen.“
„Versteh‘ ich nicht. Warum die Geheimhaltung?“
„Könnt ihr euch vorstellen, was hier los ist, wenn es sich herumspricht, dass wir reiche Mineraladern haben?“ Er lächelte milde.
„Klar. Ihr wollt nicht teilen“, sagte Isengrim, was ihr einen abfälligen Blick vom Statthalter einbrachte.
„Aha. Und diese Steinchen hier kommen wohl aus einer der Minen?“, wollte Mina wissen.
„Ich vermute es. Ich habe nur etwas von einer neuen Ader gehört, die wohl gefunden wurde – zeitlich würde es ziemlich gut zum Beginn dieser ganzen... Misere passen.“ Er machte eine kurze Pause. „Aber eins habt ihr mir immer noch nicht erklärt: Wie hängt das alles miteinander zusammen? Die Steine, der Fluch?“
Zögerliches Schweigen, bis Mina sich schließlich räusperte. „Wissen wir nicht. Noch nicht. Aber wir alle haben die Vermutung, dass wir der Antwort näher kommen, wenn wir diesen Zusammenhang verstehen.“
Gonno nickte, noch nicht gänzlich überzeugt. „Nun gut, wie ihr meint. Die meisten Minen befinden sich weit südlich, noch hinter dem Hof, auf dem ihr eben gewesen seid. Ich müsste hier irgendwo noch eine Karte...“ Er verschwand murmelnd im Haus und tauchte kurze Zeit später mit einer dünnen Rolle Papier in der Hand wieder auf. „Hier. Sind alle Minen drauf eingezeichnet.“
„Danke. Wir halten dich auf dem Laufenden“, beendete Mina das Gespräch und machte auf dem Absatz kehrt. „Na kommt schon, wir haben noch genug Tageslicht, um einige von diesen Orten abzuklappern.“
„Und wenn es dunkel wird?“, fragte Marius mit dünner Stimme.
„Dann machen wir ein Feuer. Hast du Angst?“, frotzelte Isengrim.
„Nein! Natürlich nicht. Es ist nur... vielleicht sollten wir mit diesem Fluch auf der Hut sein?“
„Fluch!“, lachte Muonn, während sie sich auf ihre Pferde schwangen. „Du glaubst auch jedem Seemannsgarn, oder?“
„Natürlich nicht! Aber welche Erklärung gibt es sonst? Warum sind die meisten Bewohner betroffen, aber wir zum Beispiel nicht? Warum umklammert ein Toter einen dieser Edelsteine, als wäre er das Teuerste für ihn, was es gibt? Warum eine Hexe verbrennen?“
Muonn trieb sein Pferd an und ritt ihn ignorierend gemächlich von dannen.
„Eine wirklich gute Frage“, musste ich zugeben. „Was kann es sonst sein, außer ein Fluch?“ Der östliche Wind fühlte sich plötzlich kühler an.