Er genoss die frühmorgendliche Stille. Wenn noch keiner außer ihm wach war. Oder noch eben keiner hier, auf dem Balkon und er so seine Ruhe hatte, bevor der Alltag richtig begann. Wenigstens ein paar Minuten der Stille, die er an diesem Ort kaum für sich hatte. Als Überläufer, der sich noch bewähren musste, war er einer beinahe ständigen Überwachung ausgesetzt, selbst innerhalb des Geländes. Doch mittlerweile ließ man ihm einzelne kleine Freiräume. Und er nutzte jeden, den er bekommen konnte. Auch wenn es bedeutete, dass seine Nächte dafür sehr kurz blieben.
Das ausgerechnet jetzt die Tür zum Balkon geöffnet wurde, reizte ihn besonders. Besonders nach dem vergangenen Abend, konnte er keine frühe Gesellschaft gebrauchen. Zuerst wollte er sich nicht einmal umwenden und grüßen. Mit etwas Glück hatte die andere Person genauso wenig Interesse, wie er an ihr. Doch als ihr Geruch zu ihm herüber wehte, wandte er sich doch um.
Zu seiner Überraschung befand sich Rove im Türrahmen. Obwohl sie ihn hier draußen sah, lächelte sie kurz und betrat den Balkon. Dass sie nicht auf dem Absatz kehrt machte, als sie ihn erkannte, irritierte ihn ein bisschen. Nach dem vergangenen Abend hätte er das eher erwartet.
„Ist es nicht ein bisschen früh, um zu rauchen?“, fragte Rove und lehnte sich mit etwas Abstand zu ihm ebenfalls über das Balkongeländer.
„Ich heile schnell“, brummte Araz mit einem Schulterzucken und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
Roves Mundwinkel deuteten kurz ein Lächeln an, dann wandte sie den Blick auf das Gelände unter ihnen. War das Gespräch damit schon wieder beendet? So könnte er auch ganz darauf verzichten.
Sein Blick blieb kurz über der jungen Frau hängen und ihm entging nicht, dass ihr Körper Spuren eines Kampfes aufzeigte, die neu sein mussten.
„Warst du noch einmal unterwegs?“, fragte er, die Augen noch auf ihren Unterarm gerichtet. Er war dick in einen Verband eingewickelt. Ein Bluterguss zog sich darunter bis über ihren Handrücken. Blau und grün und lila auf sonst weißer Haut, ein starker Kontrast.
„Sie haben noch Verstärkung für einen Einsatz gebraucht“, antwortete Rove, ohne den Blick zu heben.
„Wieso haben sie nicht uns beide kontaktiert? Ich wäre auch verfügbar gewesen.“
Rove antwortete mit einem Schulterzucken. „War nicht nötig.“
Araz schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Zug von der Zigarette, stieß den Qualm zur Nase aus, während auch er seinen Blick über das Gelände richtete.
„Hast du auch eine für mich?“, fragte Rove nach einer Weile und nickte auf die Kippe in seiner Hand.
„Ist es nicht ein bisschen früh, um zu rauchen?“, fragte Araz mit gehobener Braue.
Ertappt senkte Rove den Kopf und stieß mit einem tiefen Seufzen auhc ein kurzes Lachen aus. „Für mich ist es spät. Ich komme gerade erst zurück und werde mich bald hinlegen. Aber noch...“
Araz nickte langsam und griff bereits nach der Schachtel in seiner Hosentasche.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du rauchst.“
„Nur gelegentlich“, seufzte Rove und nahm die Zigarette, die er ihr hinhielt, entgegen. „Danke.“
Araz hatte sich selbst auch eine zweite herausgenommen und zündete beide an.
„Es tut mir übrigens leid, wie ich gestern mit dir umgegangen bin“, meinte Rove nach einer Weile, in der sie wieder nur geschwiegen hatten.
„Schon in Ordnung“, brummte Araz und schenkte ihr nur einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel.
„Ich meine es ernst“, bekräftigte Rove und wandte sich ihm nun direkt zu.
„Ich auch“, meinte Araz und richtete sich ebenfalls auf.
Rove runzelte die Stirn.
„Ich sollte wohl froh sein, dass du mich nicht sofort umgebracht hast, als ich dich ins Zweifeln gebracht habe.“
Wieder stieß Rove ein kurzes Lachen aus. Ihre Augen leuchteten dabei. „Das hätte ich nicht…“
„Ich hätte es verstanden, wenn doch.“
Seine dunklen Augen lagen so fest auf ihren, dass sie seinem Blick beinahe nicht standhalten konnte. Sie hätte gerne noch einmal etwas erwidert, doch ihre Worte verschwanden noch auf der Zunge.
Also lächelte sie nur. Stumm, weil es nichts weiter zu sagen gab.
„Du bist ein guter Mann, Araz. Auch wenn du ein bisschen Zeit gebraucht hast, um das zu verstehen.“
Diesmal war er es, der keine Worte für eine Antwort fand. Oder es war einfach nicht nötig.
Es dauerte ein bisschen, doch dann lächelte auch er. Verhalten, wie immer. Doch auch in seinen Augen meinte sie, ein kleines Leuchten zu erkennen.
Er hatte ein schönes Lächeln. So verhalten es auch war, mit nur einem gehobenen Mundwinkel und dem hervorblitzen der geraden Zähne, die selbst in seiner menschlichen Gestalt noch an ein Raubtier erinnerten. Ein Raubtierlächeln eben, aber ein schönes.