Du bist Allyster der Sehende.
Arthrax sieht dich verdattert an. „Meine Schuld?“
Du wendest ihm den Rücken zu und marschierst zurück zu den Pferden. In deinem Inneren tobt ein Sturm, der dir den Atem nimmt.
Aji ist entführt. Er ist in der Gewalt eines sehr zornigen, sehr mächtigen Druiden.
Hättest du ihm doch erlauben sollen, Glühpilz zu töten? Der Junge hätte sich mit Sicherheit geschickter angestellt als Arthrax.
Dieser verdammte Idiot. Nicht den kleinsten Mord kann man ihm zumuten, ohne dass er alles versaut. Und dann gleich richtig. Ihr habt Glück, dass ihr noch lebt. Doch für Aji kann sich das leicht ändern.
„Was hast du jetzt vor?“ Arthrax ist dir gefolgt.
Du wirbelst herum. Die Luft knistert und du kannst sie fühlen: Wilde Magie. Ungezügelt, unbeherrscht. Du dachtest, dass du sie längst hinter dir gelassen hättest, doch zum ersten Mal seit Jahren droht dir die Kontrolle zu entgleiten.
Es wäre so leicht. Ein Zucken, und du bist die nervigen Zwischenfragen los.
Angst zeichnet sich auf Arthrax‘ Gesicht ab, während er zurückweicht. Endlich kapiert er es. Endlich versteht er, dass sein wertloses Leben an einem seidenen Faden hängt.
„Wir holen Aji“, bringst du zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Damit ergreifst du Melréds Sattel und machst dein Pferd fertig. Du bringst es nicht über dich, wieder zu Arthrax zu sehen. Sonst würde sein Anblick dich vielleicht explodieren lassen.
Ein paar verlockende Gedanken gehen dir durch den Kopf. Du könntest Brenna erzählen, dass es ein Unfall war. Arthrax wäre an einem Hang gestolpert und hätte sich den Hals gebrochen. Oder, besser noch, er wurde von den Druiden in eine Blutfichte verwandelt.
Aber du müsstest seiner zornigen Schwester dann deutlich machen, dass du wirklich nichts hättest unternehmen können. Sie würde dir vermutlich trotzdem nicht glauben. Und angesichts der Sorgen, die du dir um Aji machst, hast du auch gar keine Lust, wütend zu sein. Ein übelkeitserregender Druck pocht in deinem Magen.
Was werden die Druiden Aji antun? Du willst nicht daran denken, malst es dir aber trotzdem in den blutigsten Farben aus. Sie werden ihn foltern, um zu erfahren, was ihr hier wolltet. Sie werden ihm den Schöpferstein abnehmen und ihn für den Diebstahl bestrafen. Sie werden ihn verletzen!
Er ist doch nur ein Junge!
Ihr habt die Pferde innerhalb weniger Minuten aufbruchsbereit und zieht in die Finsternis der Nacht. Du treibst Melréd trotz der schlechten Sicht in einen flotten Trab. Dein Herz hämmert so hastig wie der Hufschlag der beiden Tiere. Wenn ihr nicht mehr rechtzeitig kommt …
Ihr überwindet einen sanften Hang, hinter dem, wie die Druiden euch erklärt haben, ihre Hauptstadt liegt: Das Steinrund. Doch wer eine Burg, ein Schloss, Hütten oder Zelte erwartet, wird enttäuscht. Im Gebirge, unter schwachem Mondlicht, erstreckt sich ein großes Tal, das an eine flache Schale erinnert. Gras polstert den Boden aus und Bäume erheben sich in verstreuten Grüppchen und Hainen.
Noch während ihr hinseht, setzen sich einige der Stämme in Bewegung. Es sind Druiden!
Sie kommen mit eiligen Schritten auf den Hang zu.
„Zur Seite, los!“, ruft Arthrax dir zu. Du siehst, dass er durch das Hemd etwas auf seiner Brust umklammert hat – hoffentlich den Ammoniten, der euch unsichtbar macht. Ihr treibt die Pferde zum Galopp und aus der Bahn der heranrasenden Druiden. Sie stürmen über den Hang und dorthin, wo euer Lager war. Sicherlich hat Glühpilz ihnen berichtet, was vorgefallen ist, und sie wollen ihre toten Brüder rächen.
Arthrax übernimmt die Führung und steuert ein kleineres Gesträuch an, wo sich niedrige Lorbeeren, Ranken und Eiben zusammendrängen. Keine größeren Bäume stehen in der Umgebung, doch ihr umkreist das Gebüsch trotzdem einmal schweigend, um sicherzugehen, dass sich dort nichts rührt. Wer weiß schon, ob es nicht strauchförmige Druiden-Kinder gibt oder so einen Mist.
Dann kriecht ihr in das Gebüsch und Arthrax lässt den Stein los. Er sieht dich prüfend an. „Hast du ihn gesehen?“
„Aji?“
„Ja. Sah aus, als wollten sie ihn vorführen.“
Du zuckst zusammen. „Du hast ihn gesehen?“
Für einen Moment stutzt Arthrax, dann nickt er. „Er stand in der Mitte des Tals. Offenbar haben sie seine Füße gefesselt, aber die Hände waren frei.“
Du beugst dich vor. „Was haben sie mit ihm gemacht? Geht es ihm gut?“
„Viel konnte ich auch nicht erkennen …“
Du schnaubst. War ja klar. Wie kann jemand so erwachsen und so nutzlos sein?
„… aber sie haben den Stein gesehen.“
Dein Herz krampft sich zusammen. Der Schöpferstein!
Du springst aus und stürmst aus dem Gebüsch, ohne auf Arthrax‘ Ruf zu hören. Die Pferde lässt du zurück, doch der Krieger folgt dir mit dem Ammoniten. Du kannst ihn nicht herankommen sehen, du hörst bloß seine Schritte, bis dich ein Gewicht zu Boden wirft. Hände umklammern deine Arme.
„Lass mich los, du Tölpel!“, fauchst du.
„Still!“
Du weißt, dass Arthrax recht hat, aber du willst nicht auf ihn hören. Erst, als der Krieger dir eine Hand auf den Mund presst, kann er dich zum Verstummen bringen. Du versuchst, ihn zu beißen.
„Verdammte Scheiße, Allyster.“
Während dir der Duft des Mooses in die Nase steigt, erschlafft dein Widerstand.
Dieser Geruch. Dieses muffige, feuchte Moos der Druidenwälder. Die kalte Erde dieser Wälder, so nach am Drachenreich. Der Geruch, als wäre die Luft selbst hier mit uralter Blutmagie durchtränkt.
Du warst schon einmal hier, vor unendlichen Jahren, mit deiner damaligen Meisterin. Und ein Teil von dir ist immer noch hier.
Arthrax zieht dich vorsichtig hoch. Du hebst den Blick und kannst Aji nun auch endlich sehen. Der Junge steht in der Mitte des Tals, wo sich ein Ring aus riesigen Findlingen erhebt. Die meisten ragen wie Zähne eines runden Kiefers aus der Erde, moosbedeckt und uralt. Über einige wurde ein querer Balken gelegt. In der Mitte erhebt sich ein größerer Stein, der mit Gegenständen verziert ist, die du auf die Entfernung kaum erkennen kannst: Steine, Knochen, Federn, Blüten. Aji steht nach vor diesem Felsen. Seine Füße sind mit roten Wurzeln gefesselt, die seine Zehen vollständig bedecken. Mehrere Druiden haben sich um ihn versammelt, unter denen du Glühpilz erkennst. Noch während du zusiehst, erhebt sich eine Art Ring aus Dornen um das Steinrund und verbirgt die Szenerie vor euren Blicken.
Du lässt dich von Arthrax zurück zu dem Gebüsch führen, in dem ihr euch verborgen habt. Du merkst, dass deine Hände zittern.
„Wir müssen das gut durchplant angehen“, sagt der Krieger leise. „Wenn wir einen falschen Schritt machen, töten sie Aji vermutlich. Am besten, wir halten uns bedeckt und versuchen, sie unsichtbar zu erreichen. Herauszufinden, was sie vorhaben.“
„Wir sollen einfach versteckt daneben kauern, während Aji gefoltert wird?“, knurrst du finster. „Ist das dein beschissener Ernst, Arthrax?“ Das kannst du nicht tun. Nicht noch einmal.
„Was sollen wir sonst tun? Einfach reinstürmen? Vertrau mir einfach, Allyster.“
Bei diesen Worten spürst du einen plötzlichen Würgereiz. Vertrauen. Du hast ihm vertraut. Dass er einen einzigen, beschissenen Druiden erledigt kriegt. Einen einzigen, schlafenden, wehrlosen Feind. Du hast dich darauf verlassen, dass Arthrax als Söldner nicht zögern wird.
Aber er ist immer noch ein Kind. Ein dummes Gör, das am Rockzipfel seiner Schwester hängt. Er ist so naiv! Selbst jetzt glaubt er noch, dass es einen einfachen Weg aus dieser Situation heraus geben wird.
Wie stellt er sich das vor? Ihr wartet einfach, bis die Druiden mal kurz nicht zu Aji sehen? Sie wissen, dass er einen Schöpferstein hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie darauf kommen, dass ihr den Rest haben könntet, darunter den Ammoniten.
Die Druiden werden sich darauf vorbereiten, dass ihr sie mit allen Steinen attackiert, doch ihr habt nur noch zwei weitere in eurem Besitz. Ihr seid schwächer, als sie annehmen, was nicht von Vorteil sein kann.
Was, wenn sie die drei Steine im Austausch für Ajis Leben fordern, ihr ihnen aber nur zwei geben könnt? Sie würden Aji aus Rache in drei Teile schneiden!
„Allyster!“, zischt Arthrax. Seiner Stimmlage nach versucht er schon eine ganze Weile, deine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Hast du mir zugehört?“
Du blinzelst. „Nein.“
„Ich sagte, wir sollten uns beeilen. Der Ring um das Steinrund wird immer dichter. Bald kommen wir da nicht mehr durch.“ Arthrax will loslaufen.
Natürlich. Und dann sitzt ihr hinter einem Dornenwall in der Falle.
„Nein, Arthrax“, knurrst du. „Wir machen das anders.“
„Anders? Wir haben keine Zeit mehr!“ Der Krieger springt auf. „Sag mal, willst du Aji überhaupt helfen oder nicht?“ Wütend stürmt er los und wird wenige Schritte hinter dem Gebüsch unsichtbar. Du kannst jedoch sehen, wo seine Füße das Gras plätten. Die Druiden werden es ebenfalls bemerken, wenn sie erst wissen, dass sie es auch mit unsichtbaren Gegnern zu tun haben könnten.
Wie kann Arthrax die Gefahr nicht erkennen?
Du fluchst – dir bleibt nicht viel Zeit, um zu entscheiden, was du mit dem Holzkopf machst. Stürmst du ihm nach und rettest vermutlich sein Leben, oder hältst du dich an den Plan, der wenigstens funktioniert?
Du …
- … folgst Arthrax. Lies weiter in Kapitel 32.
[https://belletristica.com/de/chapters/232714/edit]
- … bleibst sitzen. Lies weiter in Kapitel 33.