Wenig später schritt Araco mit steinhartem Magen über den Hauptplatz und erklomm die Stufen zum Prinzipialgebäude. Nachdem Aelius den beiden streng blickenden Wachsoldaten die Losung gegeben hatte, ließ man sie ein. Während Araco dicht hinter Aelius den Porticus betrat, fragte er sich zum wohl hundertsten Mal, warum auch der Unteroffizier der Dritten vor den Kommandanten gerufen worden war.
Drinnen empfing sie rauchgeschwängerte Luft, gemischt mit den unterschiedlichen Gerüchen nach Menschen, Öllampen, Pferdeschweiß und mit Garum gewürzten Speisen. Lagergeruch. Vertraut und verlässlich.
Sie hielten sich rechts im Säulengang, wichen dabei einem eiligen Stabsschreiber aus und salutierten ein paar in einen Disput vertieften Offizieren. Sie mussten bis ganz ans andere Ende des Gebäudes, am Innenhof vorbei, für dessen prächtige Altaranlage Araco heute keine Augen hatte.
Caecus residierte direkt neben dem von schwer bewaffneten Soldaten bewachten Fahnenheiligtum in seiner Schreibstube, einem mit Teppichen und gepolsterten Stühlen behaglich eingerichteten Raum. Vom Boden stieg angenehme Wärme auf. Der Präfekt saß auf einem mit Wolfsfellen ausgekleideten Stuhl hinter einem Eichentisch, auf dem sich Papyrusrollen den Platz mit gefährlich fragilen Türmen aus Wachstafeln teilten.
Als er sie erblickte, nickte der Kommandant den beiden Wachen an der Tür kurz zu, die daraufhin den Raum verließen. Wortlos traten Araco und Aelius vor. Sie hatten zu warten, bis der Kommandant sie ansprach. Aelius zuerst, natürlich, denn er war älter als Araco und diente schon länger als Unteroffizier.
Doch Caecus überraschte sie. „Marcus Veranius“, sagte er, blickte angelegentlich auf seine gepflegten Fingernägel herab und polierte sie dann am Ärmel seiner makellosen Tunika. »Man nennt Euch ›Araco‹, nicht wahr?«
Araco ignorierte Aelius’ finsteren Seitenblick und sagte einfach: „Ja, Praefectus.“
Caecus blickte zu ihm auf und offenbarte ein wettergegerbtes, von zusammengewachsenen Augenbrauen gekröntes Gesicht mit unzähligen kleinen Falten um die Augen. So nah war Araco dem Präfekten noch nie zuvor gewesen.
„Warum dieses?“
Araco wand sich nicht unter dem prüfenden Blick, der ihn jetzt musterte, auch wenn es schwerfiel. „Ein Spitzname, Herr. Nichts weiter.“
„So so“, antwortete der Kommandant gedehnt. „Verdient, wie mir scheint. Schnell und entschlossen seid Ihr ja. Wie ein Falke, fürwahr.
Araco hielt es für besser, nicht darauf zu antworten. Sein Handeln letzte Nacht war impulsiv gewesen. Ungehorsam.
Der Kommandant räusperte sich und nahm einen Schluck aus seinem verzierten Becher.
»Mir kam zu Ohren, Ihr stellt Euch recht geschickt an mit der Sprache der Vindelici.«
»Leidlich, Praefectus.«
»Untertreibt nicht, Veranius! Ihr beherrscht sie ganz gut, wie ich weiß. Die meisten von uns tun sich schwer mit diesem tierähnlichen Gegrunze. Mir selbst kratzt es in der Kehle, als hätte ich sauren Wein aus dem Noricum darin herablaufen lassen. Wie um alles in der Welt bekommt Ihr das hin?« Der Präfekt legte den Kopf schräg, ehrliches Interesse im Gesicht. Vermutlich erwartete er eine Art Geheimrezept.
»Nun ... Ich höre zu, Herr«, antwortete Araco schlicht.
»Er hört zu!« Um Caecus’ Mundwinkel zuckte es und er warf einen kurzen Blick auf Aelius. »Wem? Den Huren im Vicus, vermute ich.« Er lachte laut. »Man sollte glauben, dass deren Lippen zu etwas anderem bestimmt sind als zum Reden.«
Araco spannte die Bauchmuskeln an und schwieg. Er war lange genug Soldat, dass er wusste, dass man auf eine solche Bemerkung des Kommandanten weder einen Kommentar abgab, noch in das Lachen miteinstimmte.
»Wie dem auch sei«, fuhr Caecus fort, nun wieder eine Spur nüchterner. »Es scheint, als fiele Euch die Verständigung mit diesen Barbaren leicht. Was mich unter anderem bewogen hat, Euch auszuwählen.«
»Mich ... auszuwählen, Praefectus?«
Der Kommandant gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Sagtet Ihr nicht gerade, Ihr hört zu?«
„Natürlich, Praefectus.“ Was geschah hier eigentlich? Wo blieb die Strafe?
Caecus erhob sich schwerfällig und begann langsam im Raum auf- und abzugehen. Araco war noch niemals zuvor aufgefallen, dass er hinkte.
„Nun, ich denke, wir sollten zum Punkt kommen, Veranius“, sagte der Präfekt und machte dabei wieder seine typisch ungeduldige Geste. „Ihr habt Euch heute Nacht verschiedener, zum Teil sehr schwerwiegender Vergehen schuldig gemacht.« Caecus nahm eine der Wachstafeln und warf einen Blick darauf. »Vernachlässigen der Pflicht, Verlassen des Kastells, beides unter erhöhter Alarmbereitschaft. Unerlaubtes Entfernen gegen den ausdrücklichen Befehl des Ersten Decurios. Eingreifen in eine gefährliche Situation. Im Alleingang und ohne Befehl, geschweige denn Befugnis.«
Araco senkte den Blick und heftete ihn auf die kleinen Krater im Ziegelboden. Er wappnete sich. Nun würde das Urteil gesprochen werden. Britannien. Ziemlich sicher sogar. Und selbstverständlich eine Degradierung.
»Nun, Soldat?«, bellte Caecus. »Habt ihr irgendeine Erklärung für dieses unwürdige Verhalten?«
»Nein, Herr«, antwortete Araco. Sein Magen krampfte sich zusammen. Es gab keine Erklärung und keine Ausrede dafür, dass er versucht hatte, das Vergehen eines anderen Soldaten zu vertuschen und dann auch noch diesem Barbaren hinterhergerannt war. Er hätte ordentlich melden und den Verantwortlichen das Feld überlassen sollen. Hätte der Barbar Komplizen gehabt, hätte der Tumult und die Ablenkung das ganze Kastell in Gefahr bringen können.
»Nein? War es denn nicht so, dass Ihr Eques Mico vor einer Torheit bewahren wolltet?«
Es war klar, dass der Präfekt eine Antwort wollte.
»Doch«, sagte Araco leise. »So war es, Praefectus.«
»Und habt dabei selbst eine begangen. Ein wenig enttäuschend ist das schon. Gerade von Euch hätte ich das nicht gedacht. Aber nun gut. Es gibt eine Sache, die dies alles aufwiegt, und die mich dazu gebracht hat, über all diese schlimmen, aber dennoch rein disziplinären Fehltritte hinwegzusehen.«
Schnell hob Araco den Kopf und es fiel ihm gerade noch ein, dass man den Präfekten auf keinen Fall so anstarren durfte, wie er es in seiner Überraschung fast getan hätte.
„Der Barbar, den Ihr heute Nacht gestellt habt, hatte seine Taschen so vollgestopft, dass er sicherlich wie ein Stein gesunken wäre, hättet Ihr ihn nicht aus der Hilaria gefischt. Diebesgut, das aus einem blutigen Überfall auf einen Gutshof keine zwanzig Meilen von hier stammt.
Offenbar hatte dieser Kerl nichts Besseres zu tun, als sein erbeutetes Gold schnellstmöglich in unserem Vicus zu versaufen und zu verhuren. Doch die Gier kam ihm wohl dazwischen und er hielt den Händler für eine leichte Beute. Ziemlich alter Mann, dieser Mucinius. Die Götter wissen, dass es nur Eurem Mut und Eurer schnellen Entschlossenheit zu verdanken ist, dass ihm nichts weiter geschehen ist, als der Verlust seines Leibsklaven.“
Er räusperte sich erneut und Araco hätte schwören können, dass es in den Augen des Präfekten feucht glitzerte. Doch fuhr dieser mit unverändert fester Stimme fort. „Natürlich war dieser Hundesohn nicht allein, als er den Gutshof ausraubte. Man berichtete mir von zwanzig bis dreißig Männern, aus dem Norden wie es scheint. Es hat dort draußen ein Blutbad gegeben … Die Familie … Nun, die Dame des Hauses war eine Freundin meiner Frau. Ihre Kinder ... Zwei Mädchen...“ Caecus wandte sich Araco zu und musterte ihn scharf. „Ich denke, ich muss Euch nicht sagen, dass ich ein persönliches Interesse daran habe, dass diese Bande von Hurensöhnen gefasst und nach römischem Recht hingerichtet wird.
Wir haben natürlich versucht, Informationen aus dem Barbaren herauszubekommen. Doch leider habt Ihr zu gute Arbeit geleistet. Er hat nicht lange genug überlebt. Und daher brauche ich Euch jetzt, Decurio Marcus Veranius Araco.“
Er machte eine effektvolle Pause und man sah ihm an, wie sehr er die Verblüffung genoss, die seine letzten Worte ausgelöst hatten.
Araco schoss es heiß ins Gesicht. Hatte er gerade richtig gehört? Caecus hatte ihn zum Hauptmann befördert? Auch wenn der Gedanke, der langsam in seinen Verstand sickerte, sein Herz vor Freude und Stolz schneller schlagen ließ – der Blick auf Aelius’ leichenblasse Miene und seine verkniffenen Lippen war niederschmetternd. Es stand ihm nicht zu! Er war noch nicht an der Reihe! Nicht vor Aelius und auch einigen anderen Duplicarii, die schon viel länger auf eine solche Gelegenheit warteten!
Der Präfekt stieß nun einen Laut aus, der nach väterlichem Wohlwollen klang und schlug Araco fest auf die Schulter. „Nun, nicht so bescheiden, Veranius. Herzlichen Glückwunsch. Es braucht nun einmal einen Mann von Rang für die Aufgabe, für die ich Euch auserwählt habe. Die kleine Angelegenheit letzte Nacht wollen wir daher besser vergessen.«
„Habt Dank, Praefectus“, sagte Araco pflichtbewusst, doch seine Kehle war plötzlich eng.
„Ihr bekommt die Sechste Turma. Ihr werdet sie über den Danuvius führen und die Verfolgung dieser Banditen aufnehmen. Natürlich sind sie bereits über alle Berge und haben ihre Spuren recht gut verwischt. Aber es gibt immer Mittel und Wege, die Leute zum Sprechen zu bringen. Geht zu den Stammesführern, bietet Ihnen Vergünstigungen. Nachlass beim Tribut. Bestecht Sie, wenn Ihr wollt. Und zur Not wendet Ihr eben Gewalt an. Auch Barbaren lassen sich erpressen. Früher oder später werden sie sich gegenseitig verraten und dann schlagt Ihr zu!“
„Darf ich offen sprechen, Praefectus?“, fragte Araco.
„Nur zu.“
„Ich möchte, wenn irgend möglich, weiteres Blutvergießen vermeiden. Die Vindelici gelten zwar als friedlich, aber die Bevölkerung wird es nicht gut aufnehmen, wenn Ihresgleichen gefoltert und ermordet werden. Wir sollten auf der Hut sein.“
„Dann tut, was Ihr für richtig haltet. Ihr habt völlig freie Hand. Auch ich wünsche keine Aufstände. Es reicht, dass wir die Meuterer vom Rhenus geschickt bekommen, die allein sind Ärgernis genug. Nein, ich will nur die Schuldigen und einen jeden, der sie deckt. Sie müssen Vergeltung erfahren! Und ich verlasse mich da auf Euch, Decurio! Bei allen Göttern des Capitols, bringt sie mir!“
Der Präfekt wandte sich an Aelius. »Und nun zu Euch. Ihr werdet ebenfalls zur Sechsten versetzt, als Duplicarius. Der Unteroffizier der Sechsten ist, nun, etwas grün und ich möchte Decurio Veranius einen erfahrenen Mann zur Seite stellen. Dient ihm gut. Und nun dürft Ihr beide wegtreten. Morgen brecht Ihr auf. Ach – und noch etwas, Decurio.“ Caecus ging zu seinem Tisch und schien sich bereits wieder mit seinen Meldungen zu befassen. „Sagt zu niemandem ein Wort über euer Ziel. Lasst auch die Reiter so lange wie möglich im Unklaren. Die Soldaten reden, und ich möchte nicht, dass diese Bestien eine Warnung aus unserem Vicus erhalten.“
„Jawohl, Praefectus.“ Araco verneigte sich. Es war alles gesagt.
Aelius fuhr herum, stapfte mit schweren Schritten hinaus, und verschwand, bevor Araco noch ein Wort an ihn richten konnte.