Vier
Felix stößt mich etwas von der Seite an, als ich vor ihm an den Ampelmast anschlagen will, weswegen ich einen halben Meter zur Seite stolpere und ihn mit dem Arm nicht erreiche.
Das Resultat davon ist, dass Felix vor mir da ist.
„Hey!“, beschwere ich mich lautstark.
Entrüstet stemme ich die Hände in die Hüften.
„Du bist ein elender Schummler!“
Ich höre ihn laut und vor allem frech auflachen.
„Es wurden vorher keine Regeln aufgestellt“, albert er mit mir herum. „Also kann ich technisch gesehen überhaupt nicht bescheißen.“
Ich kann nicht anders, als ebenfalls laut aufzulachen. Kurz verschnaufe ich, doch dann schüttle ich lächelnd den Kopf.
Ungelogen, das macht ihn nur noch sympathischer.
„So funktioniert das nicht“, sage ich und versuche, dabei so ernst wie möglich zu wirken.
Doch sein bloßes Grinsen, die Art, wie er die Augen zusammenkneift und die kleinen Lachfalten um seine Augen sich abzeichnen, bringt mich dazu, ebenfalls zu lächeln und meine eiserne Miene weichen zu lassen.
„Doch, das tut es.“
Mittlerweile ist mir schon lange nicht mehr kalt. Mein Herz schlägt noch immer schnell. Ich vergrabe die Hände wieder in meinen Jackentaschen, um sie vorwiegend zu wärmen und Felix tut es mir gleich.
Mit den Händen in den Taschen stehen wir einander, einen halben Meter voneinander entfernt, gegenüber.
Felix Wangen sind rosig und seine müden Augen leuchten, haben ein interessiertes Funkeln in ihnen.
Ich kann nicht ganz sagen, was genau es ist, aber irgendetwas an ihm ist unfassbar attraktiv. Er erwidert meinen Blick, mit der gleichen Intensität, mustert mich, wendet sich jedoch zuerst rasch ab.
„Ich kann nicht glauben, dass du so schnell bist!“, sagt er, an mir hoch und heruntersehend.
Es passiert schnell genug, um nicht unsicher zu werden.
„Wie groß bist du? Einsfünfundsechzig?“
Ohne ihn anzusehen, grinse ich, kopfschüttelnd, vor mich hin.
„Einssiebzig“, verbessere ich ihn.
„Fast!“, triumphiert er.
„Wie groß bist du denn?“, stelle ich die Gegenfrage, aber eigentlich erübrigt sie sich.
Er ist ein gutes Stück größer als ich. Seine Beine sind lang und schlank. Mir fällt erst jetzt, wo ich schräg zu ihm hinauf schaue, auf, wie groß er tatsächlich ist. Und die logische Schlussfolgerung ist, dass er eigentlich um einiges schneller rennen müsste als ich.
„Weiß ich nicht so genau“, gibt er zurück.
Ich muss ein bisschen schmunzeln. Als ob er nicht weiß, wie groß er ist.
„Aber ich würde so schätzen, einsiebenundachzig, zumindest war es das letzte Mal so, als ich mich für meinen neuen Perso habe messen lassen. Keine Ahnung, ob ich seitdem noch gewachsen bin.“
Ich nicke, bis ich den Gedankengang zu Ende führe, dass er doch viel schneller, als ich sein müsste und zähle eins und eins zusammen. Ich war so von seinem Anblick abgelenkt, dass ich einen Moment länger gebraucht habe.
„Warte!“, rufe ich aus, mit so viel gespielten Entsetzen in der Stimme, wie es nur geht.
Mit großen Augen sieht er mich an.
„Was ist?“
„Du hast mich gewinnen lassen!“
Er schüttelt mit dem Kopf, abwehrend die Hände von sich streckend.
„Nein“, streitet er, im unschuldigen Tonfall ab. „Das würde ich niemals!“
Ich kneife die Augen zusammen, ihm einschüchternd entgegen starrend.
Natürlich bringt es nichts, weil mir sehr wohl bewusst ist, dass ich als andere als furchteinflößend aussehe und allenfalls wie eine Mischung aus Gartenzwerg und kleinem Vollidiot.
Trotzdem höre ich nicht auf, mein Gegenüber durch zusammengekniffene Augen zu mustern. So lange, bis er eine betretene Miene aufsetzt.
Es fällt mir schwer, mein Lachen zu unterdrücken.
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, fragt er, mit gesenkter Stimme.
So als würde er den Versuch starten, mysteriöser zu wirken. Wortlos nicke ich in Zustimmung. Mit dem Zeigefinger winkt er mich ein wenig dichter zu sich hin.
Einen Augenblick lang zögernd, gehe ich darauf ein. Ich mache einen kleinen Schritt und beuge mich näher zu ihm. Auch er neigt sich etwas nach unten.
Die flache Hand vor mein Ohr haltend, als würde er mir tatsächlich ein Geheimnis zu flüstern wollen, das niemand außer mir hören sollte. Es ist vollends überflüssig: Immerhin ist hier ohnehin niemand, der es hören könnte. Ein bisschen süß finde ich es trotzdem. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem kalten Ohr. Er kitzelt ein bisschen.
„Du musst aber versprechen, das du es niemanden sagst...“
Mittlerweile ehrlich gespannt, sehe ich ihn an, dann nicke ich. Als ich nichts sage, sieht er mich kurz direkt in die Augen, als würde er eine feste Bestätigung wollen.
Schmunzelnd, rolle ich mit den Augen.
„Versprochen“, raune ich zurück.
Leise atmet er aus, was mich wieder kitzelt und am liebsten würde ich wegziehen und loslachen, aber ich bewahre ruhige Miene.
Anschließend beginnt er endlich zu flüstern.
„Ich habe dich sowas von gewinnen lassen.“
Jetzt kann ich mich vor Lachen wirklich nicht mehr beherrschen. Instinktiv stoße ich ihn mit dem Ellbogen von der Seite an.
„Ey!“
Das Lachen platzt laut aus mir heraus. Laut und fröhlich und ehrlich – aufrichtig amüsiert. Was für ein Idiot. Ein sympathischer, alberner Idiot. Ich lasse mein Lachen vollkommen heraus: Es kommt leider sowieso schon viel zu selten vor, das irgendwer überhaupt ein Lachen aus mir herauskitzeln kann.
Felix scheint zu der Sorte zu gehören, der nichts leichter fällt.
Seine schmalen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Übertrieben, provokant, zwinkert er mir zu.
„Also, was machen wir jetzt, kleine Mia?“