Sechzehn
„Scheiße“, flüstert mein Gegenüber.
Reichlich unentspannt sehen mir Felix blauen Augen groß entgegen.
Ich nehme an, er hat genauso wenig wie ich ein Ticket.
„Scheiße“, wiederholt er raunend.
Mein Herz rast unglaublich schnell und aufgeregt in meiner Brust. Vor Nervosität werden meine Handinnenflächen ganz schwitzig. Leise atme ich durch, einen Blick über die Schulter zum Kontrolleur werfend.
Dieser ist gerade mit anderen Leuten beschäftigt, aber es wird nur eine Frage von Sekunden oder vielleicht einer halben Minute, bis er bei uns ist und sowohl Felix als auch ich um sechzig Euro ärmer sein werden.
In meinem Kopf rasen die Gedanken verzweifelt.
„Vertraust du mir?“, will ich von Felix wissen.
Ich presse die Lippen fest aufeinander.
„Ich glaube schon“, ergibt er zurück und ich sehe an seiner Körperhaltung und wie er sich unruhig bewegt, wie beunruhigt er ist.
Dennoch ringt er sich ein Lächeln ab.
Es wirkt aufgewühlt: Es ist wie bei mir, durch den Alkohol in meinem System drehe ich nicht völlig durch.
„Gut“, wispere ich. „Dann wirst du merken, wann wir rennen.“
Augenblicklich ist Felix Miene fragend, irritiert.
„Guten Abend...“, beginnt der ältere, bärtige Mann, der unsere nicht vorhandenen Fahrkarten begutachten möchte.
„Hallo-“, setze ich an, rolle die Augen so weit zurück, dass man nur noch das Weiße sieht, und lasse mich achtlos nach hinten fallen.
Mein Herz rast.
Ich hoffe nur sehr, dass Felix mich rechtzeitig auffangen wird, bevor ich schmerzhaft mit dem harten Boden kollidieren kann. Ansonsten wird das vermutlich sehr weh tun.
So was hier habe ich noch nie rausgeholt, aber Not macht anscheinend erfinderisch – es ist mein erster Gedanke gewesen und viel mehr Möglichkeiten haben wir wohl nicht.
„Oh, Scheiße!“
Glücklicherweise kapiert Felix schnell, dass nichts davon echt ist, wie ich an seiner Antwort realisiere.
„Tut mir leid“, sagt er schnell. „Sie hat schon den ganzen Tag mit dem Kreislauf zu tun, deswegen will ich sie gerade nach Hause bringen“, erklärt er dem Kontrolleur.
Schlauer Junge.
Der ältere Herr gibt nur ein kurzes, doch skeptisches „Hmmmh...“ Von sich. Mein Herz schlägt schnell.
Ich höre bereits die Durchsage, die die nächste Station anzeigt.
Nur noch ein paar Sekunden.
„Komm schon, Mia, aufwachen...“, meint Felix zu mir.
Sanft tätschelt er mir die Wange. Ich spüre, wie die Bahn langsam zum Stehen kommt, und beinahe hätte ich triumphierend losgeprustet.
Soweit so gut.
Ich kann mich gerade noch zurückhalten.
Die Türen öffnen sich und ich warte noch ein paar Sekunden. Wir müssen den perfekten Moment abpassen.
„Sollen wir einen Notarzt rufen?“, fragt der Kontrolleur.
„Ich weiß nicht, vielleicht kommt sie wieder zu...-“, beginnt Felix, der neben mir kniet.
Ich spüre sein Bein dicht neben mir.
Doch er bekommt keine Gelegenheit, um auszusprechen. Ich reiße die Augen auf, bin direkt auf den Beinen, Felix Handgelenk umklammernd, Felix grinsend anfunkelnd, nicke ich.
„Jetzt!“
Mein Herz scheint mir regelrecht aus der Brust implodieren zu wollen.
„Hey!“, brüllt der Kontrolleur und packt Felix grob an der Schulter. Die Tür beginnt sich mit lautem Alarm zu schließen.
Ich stehe auf dem Bahnsteig, ziehe an Felix Arm und er macht sich hektisch los, bis wir nebeneinanderstehen. Der Kontrolleur kann sie jedoch nicht mehr rechtzeitig verlassen, weil wir bis zur letzten Sekunde gewartet haben. Stattdessen hämmert er an aufgebracht die Scheibe, bevor die Bahn weiterfährt. Ich strecke die Zunge raus und winke freundlich zum Abschied, direkt in das empörte Gesicht des Kontrolleurs. Ein Mittelfinger hätte mir ehrlich auch gefallen – aber dass diese ganze Aktion überhaupt nicht die feine Art war und nicht in Ordnung war, ist mir auch bewusst.
Lautstark atme ich aus. Erleichtert lacht Felix aus.
„Das war...-“, beginnt er. „Krass. Das war genial, ich danke dir!“
Spielerisch verbeuge ich mich und mache dabei einen kleinen Knicks.
„Danke, ich weiß.“
Das ist nochmal gut gegangen.
Ich steige in sein Lachen ein. Er schaut mich an, als würde er gern überschwänglich und dankbar die Arme um mich schließen wollen, doch er tut es nicht.
„Eigentlich war das echt nur Glück“, gestehe ich.
Felix fährt mit der Hand durch sein weiches, blondes Haar und erwidert meinen Blick.
„Ich wäre nicht auf so was gekommen.“
Schmunzelnd mustern wir einander.
Nebeneinander lehnen wir am Infogebäude, ohne eine Sekunde lang die Augen von einander zu lassen.
Jetzt müssen wir wohl auf die nächste Bahn warten. Aber viele Stationen sind es sowieso nicht mehr.
„Dann hast du wohl Glück, das du heute Abend nicht allein unterwegs bist.“
Felix Lächeln ist so groß, so klar: Es lässt mein Herz beinahe höher schlagen.
Beinahe.
„Es ist mehr als Glück, dass ich heute Abend nicht allein bin.“