Die Schule im Untergrund
Am 29. November 2018 fand im »Haus am Kleistpark« in Berlin die Veranstaltung »Autorinnen im Exil« mit den Autorinnen Kefah Ali Deeb aus Syrien, Sharmila Hashimi und Mariam Meetra – beide aus Afghanistan – statt. Eine der afghanischen Autorinnen berichtete, dass ihre Eltern sie während der Herrschaft der Taliban (1996 bis 2001) in eine Schule im Untergrund schickten, weil die Taliban Mädchen den Schulbesuch verboten hatten. Diese Begebenheit ließ mich an George Orwells »1984« denken und auf meine diesbezügliche Frage antwortete Frau Deeb, dass Orwell in der islamischen Welt stark rezipiert wird.
Diese Begebenheit brachte mich auf die Idee zu diesem Vortrag. Das Thema wird anhand der Autoren George Orwell, Boualem Sansal und Rana Ahmad beleuchtet, die drei aufeinanderfolgenden Generationen angehören und für drei verschiedene Sichtweisen stehen.
George Orwell – ein Leben im Widerspruch
Mit bürgerlichen Namen heißt George Orwell Eric Blair und ist als Kind britischer Eltern 1903 im damals von den Briten besetzten Indien zur Welt gekommen. Eric ist in die britische Mittelklasse zur Zeit des Empires hineingeboren und die Auseinandersetzung mit dieser Herkunft prägte sein Leben und sein Werk. Immer geriet er in Widerspruch zu den Normen seiner Umwelt und suchte in anderen Weltanschauungen nach Lösungen, um auf neue Widersprüche zu stoßen.
Dem für die Kinder der Mittelschicht vorgesehenen System der »public school«, das der junge Eric durchlaufen musste, schrieb er als größte Erziehungsleistung zu, seinen Absolventen einen tiefen Klassendünkel vermittelt zu haben. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Polizeioffizier im damals britischen Burma kehrte er als Gegner des Empires und radikaler Linker nach England zurück. Als überzeugter Antifaschist ging er nach der Rebellion Francos 1936 nach Spanien respektive Katalonien, um für die Republik zu kämpfen. Orwell war mehrere Monate an der Front in Nordspanien und musste 1937 nicht vor den Faschisten, sondern den Stalinisten aus Spanien fliehen. In seinem Bericht »Hommage to Catalonia« - deutsch: »Mein Katalonien« - berichtet er über diese enttäuschenden Erfahrungen.
Von großen Hoffnungen und ihrem Scheitern zeugt auch die Tierfabel »Animal Farm«, in der George Orwell Erfolg und Versagen der Oktoberrevolution verarbeitet. Auf dem herunter gewirtschafteten Hof von Bauer Jones rebellieren die Tiere unter Führung der Schweine, vertreiben die Menschen und bewirtschaften den Bauernhof in eigener Regie. Nach hoffnungsvollen Anfängen und ersten Erfolgen führen Krisen und Machtkämpfe unter den Schweinen in neue und noch schlimmere Tyrannei.
Bei dem durch »1984« zu Weltruhm gelangten Raum 101, in dem die Menschen mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert und seelisch gebrochen werden, handelt es sich um einen Konferenzraum der BBC, bei der George Orwell während des Zweiten Weltkrieges arbeitete und in dem er zermürbende Sitzungen verbrachte. Der Titel »1984« wird als Vertauschung der letzten beiden Zahlen des Jahres 1948 gedeutet, in dem Orwell die Arbeit an dem Roman beendete. Orwell hatte zwei Weltkriege und Stalinismus und Faschismus miterlebt. Der beginnende Kalte Krieg zwischen des USA und der UdSSR verhieß ihm für die Zukunft nichts Gutes. In der umgedrehten Zahl 48 verbirgt sich einmal mehr Verzweiflung über die Epoche, in der er lebte. Die über Jahrhunderte mühsam erkämpfte Freiheit sah Orwell ebenso untergehen wie Geistigkeit und Kultur Europas – Moderne und technische Zivilisation führten in den Totalitarismus.
Auf dem Weg zu »1984«
George Orwell arbeitete als Journalist und Schriftsteller und verfasste zahlreiche Essays und Erfahrungsberichte. In dem Roman »Burmese Days« - deutsch: »Tage in Burma« - schildert er das Leben eines in Burma tätigen Angestellten einer Bergbaugesellschaft und rechnet dabei mit dem britischen Kolonialismus ab, ohne die Burmesen und ihre Gesellschaft zu verklären. Das Streben Florys nach Liebe und Geistigkeit endet in einem Netz aus falschen Hoffnungen und Intrigen, die ihn in den Selbstmord treiben. Briten und Burmesen, die ihn in den Tod getrieben haben, wahren den Schein, doch an Hoffnungslosigkeit kann es »Burmese Days« mit »1984« aufnehmen.
In »The Road to Wigan Pier« - deutsch: »Der Weg nach Wigan Pier« - gibt George Orwell ein Sittengemälde Englands nach dem Ersten Weltkrieg und schildert dabei eine Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist. Alte Werte und Normen haben ihre Geltung verloren, doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft erweist sich als trügerisch. Der erste Weltkrieg hat die Blüte der britischen Jugend auf den Schlachtfeldern sterben lassen und Orwell beklagt sich über die Degenration seiner Landsleute. Angehörige der Mittelschicht geben sich in jungen Jahren progressiv, bleiben aber dem Dünkel der rigiden Klassengesellschaft verhaftet und werden in mittleren Jahren konservativ. Schon damals waren Millionen Menschen auf Transferleistungen angewiesen und wurden so schikaniert und stigmatisiert wie im 21. Jahrhundert zu Zeiten von Hartz IV.
Unterschiedliche Geschlechterrollen sind in Orwells Wahrnehmung von Gesellschaft und Kultur etwas Selbstverständliches. Ein Junge aus der Arbeiterklasse lebt seine Männlichkeit anders als ein Sohn der Mittelschicht und Frauen aus der britischen Mittelklasse und Frauen aus Burma haben so extreme Unterschiede in ihrem Verhalten, dass die Burmesen die Britinnen für Aliens halten. Ganz unbefangen erörtert Orwell die stämmigen Körper britischer Bergarbeiter und schwärmt davon, dass Burmesen viel schöner als Briten sind. Um so eindringlicher zeugen die Diskurse der Partei in »1984« davon, dass Kontrolle und Unterdrückung der Sexualität integraler Bestandteil totalitärer Herrschaft sind.
In dem Bestreben, die Idee des Sozialismus als Lösung für Missstände und Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu retten, erörtert George Orwell das Für und Wider und versucht, Kritik zu entkräften. Er ist zu sehr ein Kind seiner von Destruktion geprägten Epoche, um etwas anderes als einen unfreiwilligen Nachruf auf den Sozialismus zustande zu bringen. Als sehr hellsichtiger Geist benennt Orwell auch das Idee und Wirklichkeit des Sozialismus zugrunde liegende Problem. Die einfachen Menschen, die Arbeiter, denen Orwell mit großer Sympathie begegnet, verstehen unter Sozialismus eine Gesellschaft, in der es gerecht zugeht und jeder sein Auskommen hat. Im Haushalt katholischer irischstämmiger Arbeiter hängt an der Wand das Kruzifix und man liest den kommunistischen »Daily Worker«, ohne sich um ideologische Unvereinbarkeiten zu scheren. Ganz anders ist der Sozialismus, dem Angehörige der Mittelschicht frönen: hier sind ideologische Befindlichkeiten alles und es geht um Umsturz und Kampf und die Eroberung der Macht. Wie es danach aussieht, hat George Orwell in seinem berühmtesten Werk geschildert.
»1984«
Ist jemandem aufgefallen, dass »1984« ungeachtet des Terrors und der Gewalt, Folter und Gehirnwäsche eines der lustigsten Bücher ist, die George Orwell geschrieben hat? Als ob er sich auf der schottischen Insel Jura Enttäuschungen, Schrecken und Hoffnungslosigkeit seiner Zeit von der Seele schrieb, aber auch dem schwarzen britischen Humor frönte und mit Julia eine witzige und lebendige Romanfigur schuf. Es darf gelacht werden, wenn in einem supertotalitären Staat sich die Leute immer wieder gegenseitig erklären, wie der Totalitarismus funktioniert. Julia muss sich bei den Hassminuten das Lachen verkneifen, die Leser nicht! Es ist zu komisch, wenn mitten in der Hasswoche anstatt Eurasien Ostasien zum Feind Ozeaniens im immerwährenden Krieg erklärt wird und Winston und die anderen Mitarbeiter im »Ministerium für Wahrheit« in ihre Büros eilen, um in Sonderschichten die Geschichte umzuschreiben. Zum schlimmen Ende trifft Winston im »Ministerium für Leibe« auf seinen Nachbarn Parsons, einen harmlosen Spießer, der die herrschende Ideologie verinnerlicht hat, um zu überleben und seine Familie durchzubringen. Im Schlaf verflucht Parsons die Partei und wird von seiner Tochter denunziert. Weil in seinem Tun keine Absicht steckt, sieht sich Pearsons weiterhin als loyaler Anhänger von IngSoc und jammert: Sie erschießen doch niemanden, der nichts getan hat! Anmerkung: weiter
Sozusagen standesgemäß wurden »1984« im Jahre 1984 verfilmt und Grauen und Terror werden am Schluss deutlich. Der im Ministerium für Liebe »geläuterte« Winston Smith wird auf Großbildschirmen gezeigt und bittet darum, hingerichtet zu werden, so lange sein Geist noch rein und frei von Gedankenverbrechen ist. Zuvor erweist sich die Liebesgeschichte zwischen Winston und Julia als einer der schönsten Softpornos der Filmgeschichte und Julia steht neben Winston gleich stark in einem Werk, das ebenso sehr Tragödie wie Dystopie ist. Sie glaubt, dass die Raketenbomben, die in London und den anderen Städten Ozeaniens einschlagen, nicht von den verfeindeten Superstaaten Eurasien oder Ostasien abgefeuert wurden, sondern von der Regierung Ozeaniens, um die eigenen Bürger in Angst und Schrecken zu halten.
Seit der Zerstörung des World Trade Center in New York am 11. September 2001 glauben so etwas auch viele US-Amerikaner. Der »war on terror«, der so genannte Krieg gegen die Drogen und der »Kampf der Kulturen« sind Realversionen des in »1984« zwischen den Superstaaten Ozeanien, Eurasien und Ostasien geführten ewigen Krieges. Diskurse, denen zufolge die Menschen in der westlichen Welt in Zuständen wie in »1984« leben, zeugen allerdings von Formen der Täuschung und Selbsttäuschung, für die es der Partei und den im Ministerium für Wahrheit kasernierten Intellektuellen an Fantasie gemangelt hätte.
Von Eric Blair zu George Orwell
25. Juni 1903 – Arthur Eric Blair wird in Motihari in Indien als Sohn britischer Eltern geboren.
1904 – Eric zieht mit seiner Mutter nach Henley-on-Thames in Oxfordshire in England um. Später lässt sich die Familie in Shiplake, ebenfalls Oxfordshire, nieder.
1908 – Eric kommt in die Henley-on-Thames-School, 1911 nach St. Cyprian’s.
1917 bis 1921 – Besuch der Eliteschule in Eton.
1922 bis 1927 - Eric Blair arbeitet in Burma als Polizeioffizier.
Ende 1927 lebt Blair in London und zieht Anfang 1928 nach Paris um. Er beginnt mit Leben und Arbeiten als Journalist und Autor. Dezember 1929 kehrt er nach England zurück.
1932 bis 1934 - Blair arbeitet als Lehrer, danach bis 1936 in einem Antiquariat in London.
1933 erscheint die Sozialreportage »Down and Out in Paris and London« unter dem Pseudonym George Orwell.
1934 wird sein Roman »Burmese Day‘s« veröffentlicht.
1936 arbeitet George Orwell an der auf eigenen Erlebnissen basierenden Sozialreportage »The Road to Wigan Pier«, die 1937 erscheint.
Ende 1936 geht Orwell nach Spanien, um auf Seiten der spanischen Republik zu kämpfen.
Juni 1937 kehrt Orwell nach England zurück und 1938 erscheint »Homage to Catalonia«.
1940 erscheint »Inside the Whale«, eine Sammlung von Essays.
1941 bis 1943 arbeitet Orwell für die BBC.
1944 stellt George Orwell »Animal Farm« fertig, aber zunächst wird das Buch nicht veröffentlicht, weil es als Angriff auf die damals mit Großbritannien verbündete Sowjetunion angesehen wird. Erst 1945, nach Kriegsende, kann die Tierfabel erscheinen.
1947 und 1948 schreibt Orwell auf der schottischen Insel Jura »1984«.
1949 erscheint »1984« mit ausgeschriebener Jahreszahl unter dem Titel »Nineteen Eighty-Four«.
21. Januar 1950 – George Orwell stirbt in London an Tuberkulose.
Quelle: Wikipedia
Orwells Erben in Okzident und Orient
Stellvertretend für die umfangreiche Rezeption von George Orwell seien zwei Videos genannt.
In »The Dystopian World of 1984 Explained« auf »AlternateHistoryHub« werden sehr gut die Entwicklungen erklärt, die aus den angelsächsischen Ländern und Lateinamerika den Superstaat Ozeanien machen. In so prägnanter wie erschreckender Weise werden das Funktionieren von »IngSoc« und die Kontrolle der gesellschaftlichen Realität durch die Partei und ihren Herrschaftsapparat analysiert.
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=GQxOKXEff4I
»1984-2084« von Nicholas Boyk zeugt von beklagenswerten Sittenverfall und dem Niedergang von IngSoc. Frustrierte Mitglieder der Äußeren Partei und zu sehr gehätschelten Proles drehen ein Schundvideo, das die Frage aufwirft, ob Ozeanien das Jahr 2084 erleben wird. Nein, Ozeanien wird das Jahr 2084 nicht erleben, denn 2084 kommt das Ende der Welt.
Quelle: YouTube, nicht mehr verfügbar
»194« und »Farm der Tiere« gibt es auch auf Arabisch, als Print, kostenlose PDF-Downloads und Hörbücher auf YouTube. Zu nennen ist ein Hörbuch von »1984«, gelesen von Riham Hamdi, in dem die Vorleserin und die Hintergrundmusik zusammen mit dem altmodischen Röhrenradio als Bild ein Literaturerlebnis ganz eigener Art schafften.
Als Download im PDF-Format gibt es »1984« in einer Übersetzung von Anwar Schami, herausgegeben vom Markaz ath-Thaqafi al-´Arabi (Arabische Kulturzentrum), Casablanca und Beirut, aus dem Jahre 2006. Die Printversion in einer Ausgabe von 2013 wird über das Portal Alkitab.com angeboten.
Das Arabische Kulturzentrum hat »Animal Farm« unter dem Titel »Mazra´a al-Hayyuan« als PDF-Download in einer Übersetzung von Mahmud ´Abd-al-Ghani im Jahre 2014 (zweite Auflage) herausgegeben.
Als sehr schönes Hörbuch mit mehreren Sprechern, Tiergeräuschen und Hintergrundmusik gibt es »Animal Farm« / »Mazra´a al-Hayyuan« auf Arabisch auf YouTube. Die wunderbare Tierfabel über eine gescheiterte Revolution gewinnt in dieser arabischen Adaption noch mehr als im englischen Original. Als gedrucktes Buch wird über Alkitab.com eine von Al-Ahlia Publishing, Beirut, im Jahr 2015 herausgebrachte arabische Übersetzung angeboten.
In Ägypten ist ungeachtet der autoritären Herrschaft von Präsident SiSi »1984« frei erhältlich und die ägyptische Polizei half ungewollt bei seinem Verkauf mit. Sie verhaftete einen Studenten, der ein Exemplar von »1984« bei sich hatte und die Falschmeldung, er sei wegen dem Besitz des Buches verhaftet worden, kurbelte seinen zuvor schleppenden Verkauf an. Eine Ägypterin spöttelte im Internet, es hätte sie sehr überrascht, wenn sich die Polizei mit Belletristik auskennt.
Auch der Umgang anderer arabischer Regime mit George Orwell zeugt vom Willen zum Absurden. So entfernte das Bildungsministerium der Vereinigten Arabischen Emirate »Animal Farm« aus den Lehrplänen und Schulbibliotheken, weil dort Schweine eine tragende Rolle spielen und Schweine im Islam als unrein gelten.
Im Zeitalter des Internets ist die Wirkung derartiger Repressalien allerdings nicht so perfekt, wie Orwell das schildert. So gibt auf YouTube eine junge Frau mit Make Up und Kopftuch fröhlich auf Arabisch eine Rezension von »Mazra´a al-Hayyuan«.