Wir sind das Volk!
Wir sind ein Volk!
Wir sind ein dummes Volk!
Volker
Graffiti nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland
Zehn Tage vor den Wahlen zum Parlament der Europäischen Union 2024 war ich auf einem Politik-Talk mit Vertretern von SPD, Grünen, CDU und FDP.
Für die FDP war eine Frau aus Russland auf dem Podium. Sie hat erlebt, wie unter dem Regime von Herrn Putin eine neue Diktatur entstand und will nicht, dass sich das in Deutschland wiederholt. Etliche Deutsche scheinen die schlimmen Erfahrungen unseres Volkes mit Diktaturen entweder vergessen oder verdrängt zu haben, verharmlosen sie oder erhoffen sich als Rädchen in der totalitären Maschine ein besseres Leben. Was 1933 und in »1984« richtig war, kann im Jahre 2024 nicht falsch sein. Unsere Großväter und Urgroßväter haben alles richtig gemacht und die Partei hat immer Recht.
Der Mann und die drei Frauen auf dem Podium waren sich darin einig, dass die Wahlen am 9. Juni 2024 eine Richtungsentscheidung seien. Ich meldete mich zu Wort und verwies auf ein Video auf YouTube, demzufolge sich 52 Prozent der Menschen hierzulande nicht für die Europawahlen interessieren. Zudem nannte ich das Beispiel eines Freundes, der sich Zeit seines Lebens für Politik interessiert hatte und mir sagte, er werde nicht zu dem Wahlen gehen.
Auf dem Podium waren sie sich schnell einig, worum es einmal mehr ging:
Politikverdrossenheit
Dem lässt sich entgegenhalten, dass sich die Menschen sehr wohl für Politik interessieren und dass sie seit Jahr und Tag schlechte Politik leid sind. Die sich demokratisch nennenden Parteien der Mitte verwalten Probleme, anstatt sie zu lösen. Ihre »populistischen« rechten und pseudo-linken Widersacher leben in ideologischen Alptraumwelten und nutzen das Versagen der Mitte aus, um an die Macht zu kommen. Was in Russland unter Putin und China unter Xi richtig ist, kann in Europa nicht falsch sein. Das
Politikversagen
hat Auswirkungen, die sich keine der zur Wahl am 9. Juni 2024 angetretenen Parteien eingestehen will. In Deutschland sind von knapp 62 Millionen Wahlberechtigten nur knapp vierzig Millionen zu den Wahlen zum Europäischen Parlament gegangen und haben eine gültige Stimme abgegeben. Mit 22 Millionen Wahlberechtigten sind Nichtwähler und ungültig Wählende die mit Abstand stärkste politische Kraft. Für Parteiaktivisten, die von Stimmenprozenten besoffen werden, genügt zur Ausnüchterung ein Überschlag. Man muss die Prozentangaben durch 3 teilen und mal 2 nehmen, um zu erfahren, wieviel Prozent der Wahlberechtigten diese oder jene Partei unterstützen. Eine genauere Berechnung bringt dieses Ergebnis:
Partei Prozent der Wahlberechtigten
CDU/ CSU 19,3
AfD 10,2
SPD 9,0
GRÜNE 7,6
BSW 4,0
FDP 3,3
DIE LINKE 1,8
FREIE WÄHLER 1,7
Volt 1,7
Die PARTEI 1,3
Alle Angaben nach Daten der Website der Bundeswahlleitung:
https://www.bundeswahlleiterin.de/europawahlen/2024/ergebnisse/bund-99.html
Wer hat die Wahl gewonnen?
Keiner.
Wer hat verloren?
Alle.
Die Parteienlandschaft ist in Klein- und Mittelparteien zersplittert und der politische Diskurs wird zum Stellungskrieg mit erstarrten Fronten. Menschen, die nur leben wollen, werden mit überlebten rechtsliberalen, neostalinistischen und rechtsradikalen Diskursen terrorisiert.
Der Juni ist auch »Pride Month« und die LGBTIQ*-Community feiert den 55. Jahrestag ihres Aufstandes in der Christoper Street in New York. Aus einer gegen Homosexuelle gerichteten Razzia der Polizei in einer Spelunke wurde eine weltweite »politische« Bewegung. Der Polit-Talk zur Europawahl fand in einem Treffpunkt für LGBT statt und der Gastgeber trug auf der Brust die Regenbogenflagge mit einem Dreieck für »people of color«. Auf Facebook hat sich ein AfD-Kader über diese Beflaggung mokiert und ich kann sein Unverständnis durchaus nachvollziehen. Nicht nachvollziehen kann ich die Mutation seiner Partei seit 2013 vom an Werten orientierten Konservatismus zu einem mit dem Schüren von Emotionen Bauernfängerei betreibenden Mob. Von ihnen kann man nur eines lernen: jetzt erst recht! Irgendwann tragen dann all die großen und kleinen Polit-Aktivisten die Regenbogenflagge mit dem Dreieck für alle Hautfarben. Da sind ja alle drin – blau steht für die Heterosexuellen und das kleine weiße Dreieck für Menschen mit heller Hautfarbe.