Über ein Jahrhundert nachdem die Linke 1917 mit der Oktoberrevolution einen beispiellosen Versuch unternahm, eine gerechte Welt zu schaffen und alle Menschen an den Errungenschaften der jungen technischen Zivilisation teilhaben zu lassen, haben sich diese Bestrebungen in ihr Gegenteil verkehrt. Russland ist zu einer reaktionären Tyrannei mit Herrn Putin als ungekrönten Zaren geworden und die Kommunistische Partei in China praktiziert Kapitalismus in einer totalitären Form.
Die Linke hat sich weder als willens noch als fähig erwiesen, das Abdriften der Welt in eine Globale Oligarchie und eine Plutokratie mit einer in ihrer Parallelwelt lebenden Kaste von Superreichen zu verhindern. Misswirtschaft und soziale Spaltung begünstigen nur zu oft den Aufstieg reaktionärer Politiker und Ideologien. Nicht selten werden Menschen, die selbstbestimmt leben wollen, von links sozialisierten Intellektuellen und Politikern verhöhnt. Politik wird für die Masse gemacht und die Schicksale Einzelner zählen nicht.
Warum ist die Oktoberrevolution gescheitert und hat das Gegenteil des Erstrebten erzeugt?
Die Menschen möchten Frieden und genug zu essen, Bildung und Gesundheit, selbstbestimmt arbeiten und leben und ein Dach über dem Kopf. Die meisten Menschen haben keinen oder nur wenig Besitz und sind zum Leben auf ihre Arbeitskraft angewiesen. Sie brauchen ein politisches und wirtschaftliches System, in dem sie an den Früchten ihrer Arbeit teilhaben und über das Geschehen in der Wirtschaft mitbestimmen.
Nachdem das Regime von Zar Nikolaus Russland im Ersten Weltkrieg in eine katastrophale Niederlage führte, nutzten die Bolschewisten die Schwäche des alten Systems um den Grundstein für eine gerechte Ordnung und eine bessere Welt zu legen. Zu ihren kühnen Zukunftsvisionen gehörte der Aufbruch ins Weltall und der friedliche Kontakt mit außerirdischen Zivilisationen. Wie die Zukunft aussehen sollte, illustriert wegen seiner Dramatik besonders eindrucksvoll der Roman »Menschen wie Götter« von Sergej Snegow. Die Menschen der Erde und ihre außerirdischen Verbündeten geraten in Konflikt mit einer Zivilisation, die auf Kampf und Unterdrückung baut und sich dem Nihilismus verschrieben hat. Sie wird von dem so genannten Großen Zerstörer geführt und es mag den Lesern anheimgestellt sein, ob sie in ihm eine Anspielung auf Stalin oder Hitler erkennen.
Das Streben nach einer gerechten Welt und Fortschritt in Wissenschaft und Technik taugt bei noch so viel Skepsis nicht als Erklärung für das Scheitern der Oktoberrevolution. Es waren Strukturen und Methoden, welche die hehren Bestrebungen in ihr Gegenteil verkehrten.
Die Neun Todsünden
Eins
»Die Gegenwart wurde der Zukunft geopfert.« (Robert Kurz in »Schwarzbuch Kapitalismus«)
Um aus Russland einen modernen Staat und eine Supermacht zu machen, verlangten Lenin und insbesondere Stalin von ihrem Volk unmenschliche Opfer. Kriege und Terror kosteten vielen Millionen Menschen das Leben und es heißt, dass Russland erst – wenn man den technischen Fortschritt außer Acht lässt – 1953 wieder den Lebensstandard von 1913 erreichte.
Zwei
Der Zweck heiligt die Mittel.
Die Bolschewisten sind 1917 durch einen Putsch an die Macht gekommen und unterdrückten linke wie liberale und rechte Gegner gleichermaßen. Am Anfang ihrer Herrschaft standen die Gründung ihres zunächst Tscheka genannten berüchtigten Geheimdienstes unter Feliks Dzierżyński und der Roten Armee unter Leo Trotzki. In einem jahrelangen Krieg gegen die rechten Weißen und ausländische Mächte mussten die Bolschewisten ihr Überleben und den Machterhalt sichern. Dass Lenin nachgesagt wurde, er habe die Ermordung von Prostituierten befohlen, weil sie die Soldaten der Roten Armee korrumpieren, illustriert eine Politik, der jedes Mittel recht war.
Drei
Anstelle der Arbeiterklasse wurde die Partei historisches Subjekt. (Alan Bullock in »Hitler und Stalin. Parallele Leben«)
Die über dem einfachen Volk stehende Staatspartei entwickelte schnell und unter ihrem Generalsekretär Josef Stalin auf furchtbare Weise ein Eigenleben. Politik fand auf institutionalisierte Weise oder über brutale Machtkämpfe, durch Entscheidungen in Gremien oder die Ermordung von Rivalen ausschließlich in der Staatspartei statt.
Vier
Es geht um Millionen und man denkt in Jahrzehnten (Wolfgang Leonhard über das Weltbild marxistischer Intellektueller) und das hängt mit dem Verständnis von Geschichte zusammen.
Ein Grundpfeiler des Marxismus ist die materialistische Geschichtsauffassung. Geschichte soll nicht als unhinterfragte Abfolge von Haupt- und Staataktionen und dem Wirken »großer Männer« verstanden werden. Was in der Geschichte geschieht, wird durch verfügbare Technologien und Ressourcen bestimmt. Von Anfang an haben Produktivkräfte und gesellschaftliche Klassen die Struktur von Gemeinwesen und ihre Konflikte geprägt. Es hat viele Jahrtausende gedauert, bis aus Jägern und Sammlern mit Steinwerkzeugen Arbeiter und Angestellte wurden, die mit Autos und Zügen reisen, Smartphone und Computer benutzen.
Geschichte ist aber nur faszinierend, wenn man ihr nicht hilflos ausgeliefert ist. In der Betrachtung der Geschichte geht es oft um Millionen als bloße Zahl und ganze Epochen. Wenn man Geschichte in Millionen Schicksale einzelner Menschen auflöst und ihr Leben Tag für Tag aufzeichnen würde, kommen noch nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden Tränen und schieres Entsetzen. Ein Projekt für eine gerechte Gesellschaft kann Geschichte nur so schreiben:
Geschichte
Fünf
Holismus – eine Weltanschauung soll alles erklären und regeln (Karl Popper).
Die Menschen hatten sich in die sozialistische respektive kommunistische Ordnung zu fügen und sollten brave Sozialisten und Kommunisten werden. Russen und Chinesen wurde die rote Fahne, das Symbol einer politischen Bewegung und ihrer Weltanschauung, als Landesflagge verordnet und vieles aus ihrer Kultur, das nicht sozialistisch war, wurde unterdrückt.
Sechs
»Moralischer Futurismus« (Karl Popper).
Das Geschichtsverständnis war von Determinismus bestimmt. Aus der Analyse von Geschichte und Wirtschaft wurde der Zusammenbruch des Kapitalismus und der Übergang zu Sozialismus und Kommunismus abgeleitet. Dieser Logik zufolge waren Sozialismus und Kommunismus nicht gerecht, sondern unvermeidlich.
Sieben
»Tomorrow never comes.«
Die Marxisten sagen den Menschen, sie müssen noch warten, bis es eine gerechte Welt gibt und bis dahin Unrecht ertragen oder selbst schlimme Dinge tun. Das versprochene lichte Morgen kommt nie und das nächste Heute ist so grau und trist wie das vergangene.
Acht
»Die Spießer waren an der Macht.« (Aus einer Doku über LGBT in Osteuropa)
Nach der Oktoberrevolution existierten zunächst Bestrebungen, tradierte patriarchale und heteronormative Lebensverhältnisse und Familienstrukturen zu überwinden. Im Diskurs des so genannten Freudomarxismus sollten die von Freud gestellten Fragen nach der psychischen Verfasstheit des Individuums mit der von Marx analysierten Gesellschaftsformation verbunden werden. Mit dem Aufkommen des Stalinismus versandeten all diese Bestrebungen und in der Sowjetunion war bis zu ihrem Ende Homosexualität verboten. Die DDR fuhr einen Zickzackkurs zwischen Aufbruch und sexueller Emanzipation, erneuter Repression und der Rücknahme vorbildlicher Errungenschaften.
Neun
»Die Mauer muss weg!«
Die Mauer, die von 1961 bis 1989 Berlin teilte, wurde zum Symbol einer menschenverachtenden Herrschaft, die das eigene Volk einsperrte. Die DDR und andere Staaten des Ostblocks sperrten nicht nur ihre Völker ein, sondern auch Menschen aus anderen Kulturkreisen aus. Man war unter seinesgleichen und merkte nicht, was einem vorenthalten wurde und verstand nicht, dass man unter sich immer mehr degenerierte.
Die Menschen in der DDR hatten einen Kulturbetrieb, der in dem was erlaubt war, hochwertige Leistungen erbrachte. Wer die Weltraum-Utopie »Andymon« las, vermisste »Farm der Tiere« von George Orwell nicht. Weil fast niemand in die DDR einwanderte, waren von Einwanderern begangene Straftaten in ihr kein Thema.
Auf verhängnisvolle Art und Weise reihen sich die DDR und ihre sozialistischen Bruderländer in jene Kulturkreise ein, zu deren Untergang die Abschottung maßgeblich beigetragen hat. Man hat doch alles und die anderen sind Barbaren mit großen Nasen, Briketts und schwarze Affen. Wenn man an seiner Engstirnigkeit zugrunde gegangen ist, dienen Menschen aus anderen Kulturkreisen als Schuldige und Schreckgespenst, um das eigene Versagen weg zu erklären. Die »Fremden« lassen sich nicht länger aussperren und es kommt zu Konflikten mit ihnen. Gescheiterte Eliten und Chefideologen können alle Schuld auf sie schieben und Demagogen nach Abschieben und Abschottung rufen. Sind die Grenzen dicht, geht es nicht bergauf, sondern bergab, aber das merkt man mangels Vergleichsmöglichkeiten nicht.
Zum Weiterdenken
Der geplatzte Traum - »Aufstieg und Fall des Kommunismus«
https://www.youtube.com/watch?v=x7QaV6CuFLc&list=PLqYir1-ws0-JVxOEVnKDiRdZldXMdC6PM
Über Wolfgang Leonhard (1921 - 2014)
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Leonhard
Alan Bullock, Hitler and Stalin: Parallel Lives, HarperCollins, 1991
deutsch: Hitler und Stalin. Parallele Leben
und als Dokumentation (englisch)
https://www.youtube.com/watch?v=-I7AFBnzU5I
Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, erschienen 1999
Zusammenfassung unter
https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzbuch_Kapitalismus
und Download unter
https://www.exit-online.org/pdf/schwarzbuch.pdf
Über den Philosophen Karl Popper (1902 - 1994)
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper
und sein Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_offene_Gesellschaft_und_ihre_Feinde
Zum Freudomarxismus
https://de.wikipedia.org/wiki/Freudomarxismus
und der russischen Frauenrechtlerin Alexandra Kollontai (1872 – 1952)
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexandra_Michailowna_Kollontai
Über Sergej Snegow (1910 - 1994)
https://de.wikipedia.org/wiki/Sergei_Alexandrowitsch_Snegow
und sein Hauptwerk »Menschen wie Götter« (drei Bände, erschienen 1966, 1968 und 1977)
https://de.wikipedia.org/wiki/Menschen_wie_G%C3%B6tter
Über LGBT in Osteuropa
https://www.youtube.com/watch?v=PapSwgpuUmI
Michel Ayih: Ein Afrikaner in Moskau
Ein ernüchternder Erfahrungsbericht eines Afrikaners über das Leben in der UdSSR.
Verlag: Bertelsmann, Gütersloh, nur antiquarisch