Das Ende der Welt
Einen würdigen Erben George Orwells fand ich, als ich in Google »Orwell in der islamischen Welt« eingab und auf den algerischen Autor Boualem Sansal stieß.
Abistan erobert Ozeanien
Mit seinem 2015 erschienenen Roman »2084. Das Ende der Welt« tritt Boualem Sansal gegen »1984« an und geht als Sieger hervor. Wer eine handelsübliche Dystopie mit Spannung, etwas Sex und Schreckensszenen will, sollte allerdings bei »1984« bleiben. In »2084« schlägt sich die konsequent zu Ende geführte Banalität des Bösen im Schreibstil nieder – eine entsetzliche Welt lässt sich nur entsetzlich schildern, so dass ich froh war, auf der letzten Seite und den letzten Worten eines notwendigerweise entsetzlichen Buches angelangt zu sein. »2084« empfiehlt sich als Lektüre für das Café, im Park oder am Strand – der Leser wird gefordert und eine angenehme Umgebung schafft einen Gegenpol zur gnadenlosen Tristesse des Romans.
Die in »2084« dargestellte Welt des fiktiven Staates Abistan ist von so vollkommener Öde und dabei so gut durchkonstruiert, dass ich mich frage, wie auch nur ein einziger intelligenter Mensch SO ETWAS wollen kann. Es gibt keine Stühle, Tische und Gemälde mehr und die Sprache hat keine Worte für sie und viele andere, längst verschwundene schöne Dinge des Lebens. Die Menschen werden mittels einer künstlichen Religion hypnotisiert und terrorisiert, aus der alles Lebendige und Bedeutsame, jeder Widerspruch und alles Transenzendete wegrationalisiert wurde. Aus Gott, den man anbeten oder verwerfen kann, wurde Yölah, der alles weiß und alles kann und Komitees berufen hat, vor denen seine Untertanen ihren nicht existierenden Glauben vortäuschen müssen. Im Laufe historischer Prozesse entstandene Religionen tragen den Kein der Rebellion gegen sich in sich selbst, aus dem Post-Islam Abistans haben ihre Designer diese Keime sorgsam entfernt.
Das Lebensmotto der wie Vieh gehaltenen einfachen Menschen lautet: unterwirf dich einem Gott, an den du nicht glaubst, gehorche der Obrigkeit und helfe deinen Brüdern. Bürokratien und Klüngel aller Art wuchern fröhlich vor sich hin: die Gerechte Brüderlichkeit, die Clans, die Freiwilligen Rächenden Gläubigen, der Apparat, das System, Prediger und ihre Kultstätten. Wer eines der neun Gebete am Tag versäumt, erhält unabhängig von Stand und Vermögen hundert Stockschläge auf die Nieren. In einem Pseudo-Kapitalismus sind Unternehmer mit dem Staatsapparat verflochten, dabei sind die einfachen Menschen so arm, dass es keinen aus Konsumenten und Anbietern bestehenden Markt geben kann. Elektrizität können sich nur die Reichen leisten und die Mega-Deals der Zukunft werden um Kohlepfannen gemacht. Krankheiten und Seuchen greifen um sich, und die Untertanen dürfen ihr Stadtviertel nur verlassen, um in den Krieg oder auf Pilgerschaft zu ziehen.
Ja, es gibt Reformer, doch ihre zum Scheitern verurteilten Pläne und Nostalgiker, die ausgerechnet dem zwanzigsten Jahrhundert nachtrauern, wecken nicht Hoffnung, sondern Verzweiflung. Damit Atheisten, freizügige Frauen und andere subversive Elemente nicht unerwartet und unkontrollierbar mitten unter den Untertanen auftauchen und das System untergraben, gibt es ein Ghetto, wo man unverschleierte Frauen zu Gesicht bekommt und an den Wänden gotteslästerliche Parolen stehen. Dort müssen sich die Menschen mit allerlei Illegalem durchschlagen und leben in noch größerem Elend als die übrigen Untertanen. Als so genannte Regs sind Ghettobewohner Teil des kriminellen Untergrundes von Abistan und enden gelegentlich auf Massenhinrichtungen im Stadion.
Die in »1984« von der Partei bekämpfte und gefürchtete Urkraft Sexualität, so vortrefflich durch Julia verkörpert, ist in »2084« längst abgetan. Die braven Bürger Ozeaniens, die dachten es könne nicht mehr schlimmer kommen, werden eines Besseren belehrt: in einem seiner Heiligen Kriege erobert Abistan Ozeanien und dem Terror von IngSoc folgt der Terror der Gleichgültigkeit. Die Menschen sind schon im Leben tot und ihr einziger Daseinszweck ist die Aufrechterhaltung eines in all seinen archaischen Formen zum Selbstzweck gewordenen Systems. In »1984« kann ein Rezensent Namen nennen und Charaktere schildern, loben und verurteilen. Entgegen allen Lügen, die O’Brien dem von ihm gefoltertem Winston erzählte, gab es noch Hoffnung. Bis »2084« kam. Hier lohnt es nicht, Charaktere zu schildern. Jemand wie Ati, der nur durch einen Zufall entdeckt, dass er ein Mensch ist, hatte nie die Chance zu leben. Abistan ist der einzige Charakter und die einzige Geschichte des Romans und mehr wollen wir nicht wissen.
Boualem Sansal und die »Dialektik der Aufklärung« in Algerien
15. Oktober 1949 – Boualem Sansal wird in Theniet El Had im Westen Algeriens geboren. Algerien war damals noch französische Kolonie.
1954 bis 1962 – Krieg zwischen Frankreich und den Algerien um die Unabhängigkeit Algeriens.
1956 zieht die Familie von Boualem Sansal nach Algier.
1962 - Algerien wird als Sozialistische Volksrepublik unabhängig und in den folgenden Jahrzehnten autoritär regiert.
ab 1968 - Sansal studiert an der Ecole polytechnique und macht Ingenieursdiplom in Maschinenbau.
1975 – Doktor in Industrielle Wirtschaft; während des Doktorstudiums arbeitet Sansal als Dozent und betreibt Unternehmensforschung.
1986 wird Sansal Generaldirektor einer öffentlichen Consultingfirma.
ab den 1980er Jahren bekommen in dem 130 Jahre vom Mutterland der Aufklärung Frankreich beherrschten und nach der Unabhängigkeit säkularen Algerien rückwärtsgewandte Diskurse immer mehr Einfluss – das Regime und seine islamischen Gegner wie die so genannte Heilsfront (FIS) verfallen gleichermaßen dem religiösen Regress
1988 kommt es zu Massenproteste gegen das Regime.
von den 1990ern bis Anfang der 2000er Jahre erschüttert der Terror islamistischer Gruppierungen und staatliche Repression Algerien.
1999 – Boualem Sansals erster Roman »Le serment des barbares« - deutsch: »Der Schwur der Barbaren« - erscheint.
2003 - nach kritischen Äußerungen über den seit 1999 amtierenden Präsidenten Bouteflika wird Sansal aus dem Staatsdienst entlassen und arbeitet seitdem hauptberuflich als Schriftsteller.
2008 - der Roman »Le village de l’allemand ou Le journal des frères Schiller« - deutsch: »Das Dorf des Deutschen« - erscheint.
2011 erhält Sansal dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
2012 wird er in die Wettbewerbsjury der Berlinale berufen.
2015 erscheint »2084. La fin du monde« – deutsch: »2084. Das Ende der Welt«.
2019 – nach Protesten aus der Bevölkerung tritt Präsident Bouteflika zurück.
Quelle: Wikipedia, www.boualem-sansal.de , Al Jazeera Algeria Test of Power (Dokumentation, auf YouTube)
Mit »2084« scheint nicht nur die islamische Welt im immerwährenden und jede Hoffnung erstickenden Nichts angekommen zu sein. Doch eine mutige Frau aus Saudi-Arabien widersetzt sich dem Ende der Welt.
Rana Ahmad
ist das Pseudonym einer 1985 in Riad geborenen Tochter syrischer Einwanderer, die 2015 aus Saudi-Arabien nach Deutschland floh, um hier Physik zu studieren. Seit einigen Jahren prangert sie mit Veranstaltungen, Videos und einem 2017 erschienen Buch die Verhältnisse in ihrem Heimatland an.
Ihr Leben und Werk zeugen von einer Wirklichkeit, welche die zugleich beste und schlimmste Science Fiction schreibt. Anfang 2019 sorgten Berichte für Empörung, denen zufolge die Regierung Saudi-Arabiens über Google und Apple eine für Behördenangelegenheiten erstellte App vertreiben lässt, mit der männliche Verwandte oder Ehemänner das Verhalten von ihnen abhängiger Frauen kontrollieren können. Will eine Frau zum Beispiel eine Reise unternehmen, so wird mittels der App kontrolliert, ob sie dazu die Erlaubnis ihres Ehemannes oder männlichen Vormunds hat.
Quelle: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/saudi-arabien-app-unterstuetzt-ueberwachung-von-frauen
»Frauen dürfen hier nicht träumen«
Rana Ahmad widmet ihren Erfahrungsbericht allen, die ihr Leben ändern wollen, aber noch nicht daran glauben, dass sie es können. Sie hat es geschafft und trotzt Saudi-Arabien, wo sich der Terror von »1984« und der Konsumismus in »Schöne neue Welt« mit der archaischen Unterdrückung durch Familie und Religion verbinden.
Inmitten eines Wohlstands, Perspektiven und einer Geborgenheit, die nicht einmal in der westlichen Welt selbstverständlich sind, schlägt immer wieder die Repression patriarchaler und religiöser Normen zu. Rana vergleicht die Schule, in die sie geht, mit einem Gefängnis – es sind nur Mädchen dort, sie ist von der Straße abgeschirmt und der Schulhof gleicht dem Hof in einer Justizvollzugsanstalt. Ein öffentliches Leben existiert in Saudi-Arabien nicht; einziger Treffpunkt sind Restaurants.
An den wenigen Tagen, in denen der Sommer in Deutschland den Vergleich mit Saudi-Arabien nicht zu scheuen braucht, genießen die Menschen hier eine Freiheit, von der dort vor allem die Frauen keine Vorstellung haben. In einem von der Sonne mehr als verwöhnten Land mit endlosen Stränden besteht Badeurlaub darin, dass die Männer im Meer planschen und die Frauen vollverschleiert am Strand hocken. In Riad kann frau in einem dreihundert Meter hohen Einkaufszentrum beim Shoppen den Kopf und Körper verhüllenden Schleier etwas lässiger tragen, doch am Ausgang warten die Männer der Religionspolizei, um diejenigen zu drangsalieren, die sich nicht wieder bis auf einen Sehschlitz verhüllen und es etwa versäumen, die Augenbrauen zu bedecken. Als Rana über ein ins Internet gestelltes Video die öffentlichen Auspeitschung des Bloggers Raif Badawi sieht und schier verzweifelt, fragt ihre ahnungslose Mutter sie, ob sie mit ihr Einkaufen geht. Da haben Enttäuschungen und Schicksalsschläge den Glauben von Rana Ahmad an die Werte ihrer Gesellschaft längst zerstört. Über das Internet wird sie auf Friedrich Nietzsche aufmerksam, doch der umstrittene deutsche Philosoph steht in Saudi Arabien auf dem Index. Wie in einer Parodie auf »1984« und das in Ozeanien kursierende Buch des Staatsfeindes Emmanuel Goldstein beschafft sich Frau Ahmad heimlich Nietzsches Hauptwerk »Also sprach Zarathustra«.
Beim Schicksal von Ranas Freundin Nona, die sie seit ihrer Schulzeit kennt, zeigt sich eine Wirklichkeit schlimmer als jede Dystopie. Orwell hat sich seine Romanfiguren ausgedacht, der Terror in Saudi-Arabien zerstört lebende Menschen. Nona ließ sich auf eine nichteheliche Affäre mit einem Mann ein. Ihre Liebschaft wird entdeckt und Religionspolizei und Nonas Familie zerstören die Persönlichkeit von Ranas Freundin wie es O’Brien in »1984« mit Winston getan hat. Rana lässt sich nicht zerbrechen und sie macht die Kaaba in Mekka, das zentrale Heiligtum des Islam, zum Brennpunkt ihrer Rebellion.
Zum ersten Mal besuchte sie mit ihrer Familie Mekka im Rahmen der im Islam vorgeschriebenen Wallfahrt als tiefgläubige Muslima. Nie hatte sie sich Gott so nahe gefühlt wie in diesen Tagen, als sie mit Millionen anderer Pilger die Stationen der Wallfahrt absolviert. Zehn Jahre später ist sie insgeheim Atheistin geworden und muss die Wallfahrt auf Druck ihrer Mutter erneut machen. Nun fühlt sie sich nur noch einsam – und macht ihr ideologisches Coming Out. In einem wegen Bauarbeiten ungenutzten und nicht von Videokameras überwachten Winkel hält sie einen Zettel mit der Aufschrift »Atheist Republic« vor die von Pilgern umgebene Kaaba, macht mit ihrem Handy eine Aufnahme davon und schmuggelt sie ins Internet, wo sie wenige Tage später anonym veröffentlicht wird.
Frau Ahmad schreibt, wie sehr besonders Frauen trotz ihrer Benachteiligung die Werte von Religion und Familie verinnerlicht haben und ihr eigener Werdegang ist nicht nur bezüglich der Kaaba voll religiöser Motive. Ihr Weg führt aus der Dunkelheit ins Licht, ist nicht ohne Zweifel und mündet in Erkenntnissen, die selbstverständlich sein sollten.
Ich teile nicht alle Standpunkte aller […] Autoren, die ich lese, denn dieses […] Weltbild lässt Raum für andere Meinungen. Es ist vielleicht das, was mich am meisten […] überzeugt. Es ist kein strenges Glaubenssystem, das mit Strafen arbeitet, es ist nicht an eine autoritäre Gruppe oder Gemeinschaft gebunden, ich kann jederzeit beschließen, doch [nicht dazu zu gehören], ohne Strafen fürchten zu müssen, und wenn ich etwas Gutes tue oder mich auf eine bestimmte Art verhalte, dann tue ich das, weil ich mich selbst dazu entscheide, nicht, weil es ein System oder ein Vertreter eines Systems von mir verlangen.
nach S. 150f., Auslassungen und Änderungen in Klammern von mir
Frau Ahmad verwirft das bequeme Leben in einer Doktrin, die für sie zur Lüge geworden ist, und sie sieht sich vor der Wahl zwischen Tod oder Flucht. Im Islam ist die Flucht Mohammeds aus Mekka nach Median der Beginn der Zeitrechnung und für Rana Ahmad wird ihre Flucht aus Saudi-Arabien zum Beginn eines neuen Lebens. Als sie sich nach ihrer Ankunft in Istanbul zum ersten Mal duscht, ist das für sie auch eine spirituelle Reinigung. Dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben unbefangen und völlig selbstverständlich Sex hat, ist vielleicht die wichtigste Station auf ihren Weg ins Licht.
Bezeichnenderweise kommen Frau Ahmad nur Zweifel am Sinn ihrer Flucht, als sie in der Türkei in einer Fabrik für Gebäck arbeitet und dort Kinderarbeit und brutale Ausbeutung erlebt. Zuvor hat sie für ihr neues Leben auch eine Stelle in einer Förderschule und die Aussicht auf Beförderung aufgegeben. Tagtäglich ums Überleben zu kämpfen entspricht nicht ihrer Vorstellung von Freiheit und deshalb kommt sie nach Deutschland. Die Lüge existiert auch hier und die Aufklärung müssen wir aus Saudi-Arabien importieren, weil sie hier in Sozialdarwinismus, Kollektivismus und Ellenbogengesellschaft erstarrt ist. Doch unser Leben ist voll von Dingen, die vor allem den Frauen in Saudi-Arabien verwehrt sind. Kein Urteil über das totalitäre System dieses Landes ist so vernichtend, wie das einer von dort geflohenen Frau, welche die lebensbejahenden Deutschen entdeckt.
Lesespaß oder Pflichtlektüre?
George Orwell beherrschte das Handwerk des Schreibens, aber er ist nicht durch stilistische Brillanz oder stets spannende Inhalte Teil des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit geworden. Orwell ist ein tragischer Held, Zeitzeuge und Prophet und sein Genie liegt darin, Dinge auf den Punkt zu bringen. Vielleicht hätte aus ihm einer der auch literarisch ganz Großen werden können – der Thriller »Burmese Days«, die geniale Tierfabel »Animal Farm« und die schreckliche Tragikomödie »1984« waren Ansätze dazu. Sein viel zu früher Tod mit 46 Jahren beendete seine Laufbahn als Schriftsteller vorzeitig.
Boualem Sansal hat mit »2084« Maßstäbe für eine Dystopie gesetzt, doch in seinem Roman »Das Dorf des Deutschen« schreibt er essayistisch, nicht belletristisch. Schade um eine sehr spannende Idee von einem Sohn, der die düstere Vergangenheit seines geliebten Vaters entdeckt.
Rana Ahmad und ihre deutsche Ko-Autorin Sarah Borufka haben mit dem Erfahrungsbericht einer Muslima die zur Atheistin wird, ein spannend erzähltes und zugleich tiefgründiges Werk geschaffen, das unterhält, zum Nachdenken und Streiten anregt. »Frauen dürfen hier nicht träumen« ist ein auch literarisch beeindruckendes Zeugnis vom Glanz und Horror der technischen Zivilisation und ein Stück Wirklichkeit gewordene Science Fiction.
Bücher
George Orwell: »1984. Nineteen Eighty-Four«,
Penguin Books, London 2008
George Orwell: »Animal Farm. A Fairy Story«,
Penguin English Library 2008 ss
Boualem Sansal: »2084. Das Ende der Welt«,
Merlin Verlag, Gifkendorf 2016
Boualem Sansal: »Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller«,
Merlin Verlag, Gifkendorf 2016
Rana Ahmad mit Sarah Borufka: »Frauen dürfen hier nicht träumen. Mein Ausbruch aus Saudi-Arabien, mein Weg in die Freiheit«,
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2017