Eine Frage mit drei Antworten
Immer wieder erschüttern mit Gewalt ausgetragene Konflikte die Länder der islamischen Welt. Durch die Gründung des Staates Israels inmitten der islamischen »Umma« und die Annexion von Jerusalem – arabisch al-Quds – als israelische Hauptstadt haben diese Konflikte eine weit über die Region hinaus gehende Brisanz. Seit Jahr und Tag tragen Migranten aus der islamischen Welt ihre Konflikte auch hierzulande aus und das nicht immer gesetzeskonform und friedlich. Zu all den hausgemachten Ideologien des Terrorismus in Europa ist als Import der Islamismus hinzugekommen.
Nur zu oft herrschen angesichts von Krieg und Gewalt Ratlosigkeit und Entsetzen und der aus Ägypten stammende Politologe Hamed Abdel Samed sagt der islamischen Welt sogar ihren Untergang voraus:
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Untergang_der_islamischen_Welt
In einem Interview legt Hamed Abdel Samed seine Sicht dar:
https://www.youtube.com/watch?v=K8vAO6Ilmlo
Es gibt zwei nahe liegende Antworten auf die Frage nach den Ursachen für all die Tragödien in der islamischen Welt.
Antwort Eins
Die islamische Welt hinkt den Industriestaaten um Jahrhunderte hinterher.
Für diese Antwort spricht der Aufstieg Europas seit der Renaissance, während die islamische Welt auf hohem Niveau stagnierte und später verfiel. Das Osmanische Reich wurde von der Supermacht der frühen Neuzeit zum »kranken Mann am Bosporus«. Noch bis ins 17. Jahrhundert konnten die Osmanen den Supermachtstatus behalten, ohne eine technische Zivilisation zu entwickeln. Um Wissenschaft und Technik bemühten sich die halbbarbarischen und zerstrittenen Völker Europas. In Europa fanden Aufklärung und industrielle Revolution statt – in der islamischen Welt nicht.
Allerdings hat es in den letzten zweihundert Jahren auf allen Ebenen, in jedem Bereich und durch verschiedene Akteure in der islamischen Welt Bestrebungen gegeben, den Rückstand gegenüber den führenden Industrienationen aufzuholen. Die Modernisierung begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Im zwanzigsten Jahrhundert bestand die Zukunftsvision in der arabischen und islamischen Welt in einem Leben, das dem im Deutschland der Nachkriegszeit vergleichbar war. Der Analphabetismus wurde zurückgedrängt und die Bildung forciert. Aus von Landwirtschaft und dem Export von Öl und Gas lebenden Volkswirtschaften sollten moderne Industriegesellschaften werden. Die Erfolge der Modernisierung illustriert das höchste Haus der Welt. Es ist das 828 Meter hohe Burj Khalifa und steht im arabischen Dubai:
Die Musik aus der islamischen Welt ist schon lange dem Mittelalter entwachsen und modern. Hier einige Beispiele.
»Punjabi Girl« von Asifa Lahore:
https://www.youtube.com/watch?v=nS4P5uP2sCs
»Das Herz, das liebt« von Souad Massi (arabisch):
https://www.youtube.com/watch?v=mtunWFgfQ0A&list=RDEMFSa9YQb8j8mjoYrUfxxeiA&index=19
»KELMTI HORRA« von Emel Mathlouthi mit Gitarrist Karim Attoumane, Oslo 2015:
https://www.youtube.com/watch?v=zKcGgYnm6Bs
»Nifsi« von Myriam Fares:
https://www.youtube.com/watch?v=vwtaL-8IXO8
»Ma Tegi Hena « von Nancy Ajram:
https://www.youtube.com/watch?v=UBBxGHvjNFM
Als Klassiker der modernen arabischen Musik das Beste von Fairuz:
https://www.youtube.com/watch?v=NTXCW0OmTnM
Antwort Zwei
Die islamische Welt wurde durch die westlichen Kolonialmächte in nicht lebensfähige Staaten aufgeteilt.
Von Nordafrika bis zum mittleren Osten entsprechen die Grenzen der im zwanzigsten Jahrhundert in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten weder den historischen Gegebenheiten vor dem Kolonialismus noch dem Willen aller in ihnen lebenden Menschen. Die Araber betrachten sich als zu einer Kultur zugehörig und wurden doch auf mehr als zwanzig Staaten aufgeteilt. Die Berber, die als Ureinwohner des Maghreb und der Sahara eigene Sprachen sprechen und eine eigenständige Kultur bilden, haben kein eigenes Gemeinwesen. Kurdistan wurde auf die Türkei, den Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Heute werden über dreißig Millionen Menschen zu den Kurden gezählt und sie bilden ein Volk ohne Staat. Im Sudan wurden bei der Unabhängigkeit 1956 islamische Araber im Norden mit christlichen und animistischen Afrikanern im Süden zusammengefügt. Den Libanon haben die Franzosen gemeinsam mit den christlichen Maroniten aus der Taufe gehoben und um das maronitische Kernland von anderen Konfessionen bewohnte Gebiete gefügt. Seit Emde des 19. Jahrhunderts streben die Zionisten die Rückkehr der Juden in ihre antike Urheimat an, doch der von ihnen gegründete Staat Israel wird von seinen arabischen Nachbarn als Fremdkörper betrachtet. Im Diskurs der islamischen Umma ist das heutige Israel kein legitimer Nachfolger des Königreiches von David und Salomo, sondern auch aufgrund seiner Unterstützung durch den christlichen Westen eine unselige Neuauflage der Kreuzfahrerstaaten des Mittelalters.
Krieg und Gewalt innerhalb und zwischen derartigen »künstlichen« Staaten scheinen nur zu plausibel. Eine gute Zusammenfassung dieser Sichtweise bietet das Video »The Decision That Ruined the Middle East « von AlternateHistoryHub:
https://www.youtube.com/watch?v=BaPWlKv7n0Y
Konflikte um Grenzen und Land, die ihre Protagonisten mit Volk und Nation, Religion und Ideologie legitimierten, hat es in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch in Europa gegeben. All ihre Fortschritte trieben die Europäer in zwei Weltkriegen, Umstürzen und Bürgerkriegen, Terror und Massenmorden in eine wahnhafte Selbstzerfleischung mit ‘zig Millionen Toten. Angesichts der Machtübernahme der Nazis 1933 fasste der Schriftsteller Joseph Roth die Zustände in Europa so zusammen: »Die Hölle regiert.«
Nach 1945 beendete nicht eine Anpassung nationalstaatlicher Grenzen, sondern die Überwindung des Nationalstaates die Selbstzerstörung Europas. Westeuropa fiel unter die Hegemonie der USA und zuvor verfeindete Staaten fanden sich in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammen. In Osteuropa erzwang die UdSSR in ihren Satellitenstaaten zumindest eine Friedhofsruhe. Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie wandten sich die Staaten Osteuropas der Europäischen Union und der NATO zu. Nationalismus und rückwärtsgewandte Nostalgie mögen populär sein, doch wer will noch den Nationalstaat? Mit seiner Überwindung hat Europa einen Entwicklungssprung gemacht, der in der islamischen Welt ausgeblieben ist. Wir kommen zu
Antwort Drei
Die islamische Welt hat für ein friedliches Zusammenleben entscheidende Entwicklungen der Zeit nach 1945 nicht vollzogen.
Diese Entwicklungen begannen in Westeuropa und Nordamerika und manche waren von Idealismus und Rechtschaffenheit getragen. Andere waren das Ergebnis von Zufällen und manche verdanken ihre Existenz dem Wirklichkeitssinn oder auch nur purem Opportunismus der Handelnden. Viele Fortschritte mussten über Jahre und Jahrzehnte erkämpft werden und blanke Gier und rückwärtsgewandte Ideologien bedrohen immer wieder das Erreichte.
Für die nach 1945 eingeleitete Entwicklung steht das Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« des Philosophen Karl Popper. Es enthält eine umfangreiche Kritik der Philosophie Platons, ein Verriss Hegels und kritische Anmerkungen zu Karl Marx. Popper wirft den drei Philosophen eine deterministische Auffassung der Geschichte und ein auf einem Absolutheitsanspruch basierendes »holistisches« Verständnis von Staat und Gesellschaft vor. Popper zufolge ist jedes System abzulehnen, das auf den Menschen zwingend vorgeschriebenen Konzepten von Staat und Gesellschaft, Lebensführung und Miteinander, Geschichte und Weltanschauung basiert. Fortschritt besteht nicht darin, dass sich ein Gesellschaftssystem, eine Staatsform und eine Weltanschauung gegen andere Systeme durchsetzen. Im Gegenteil – durchsetzungsfähige Systeme basieren oft auf Kämpfen, Kämpfen und nochmals Kämpfen. Die Menschen kämpfen nicht, um zu leben, sondern leben, um zu kämpfen und sie wissen nicht mehr, wofür sie kämpfen.
Holistischen Systemen setzt Popper das Konzept der offenen Gesellschaft entgegen, die jeden Absolutheitsanspruch vermeidet und die Menschen ihr Leben selbst gestalten lässt. In der offenen Gesellschaft findet Geschichte nur als das auf Regeln basierende Austragen von Konflikten statt und den Menschen steht es frei, zu welcher Weltanschauung sie sich bekennen.
Es liegt in ihrer Logik, dass eine Philosophie, die für alle gemacht wurde und die alle auffordert, nach ihrer eigenen Philosophie zu leben, unterschiedlich und manchmal widersprüchlich verstanden wird. Zudem stehen im Buchtitel die »Feinde«, die in gutem Glauben oder mit böser Absicht, von außen oder von innen die offene Gesellschaft untergraben und zerstören.
Auf schlimme und tragische Weise illustriert eine aus den USA ausgewanderte zionistische Siedlerin im Westjordanland, wohin die Abkehr von der offenen Gesellschaft führt. Mehr über sie und ihre Gesinnungsgenossen auf diesem Video:
https://www.youtube.com/watch?v=NmvXu_QcKAE
Die Menschen in der islamischen Welt sollten es umgekehrt machen. Sie sollten sich der offenen Gesellschaft zuwenden und hausgemachte oder aus Europa importierte holistische Staatsauffassungen und Ideologien verwerfen. Dafür müssen sie weder ihre Religion noch ihre Lebensweise ändern, sondern nur leben und leben lassen.
»Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« von Karl Popper.
Eine Zusammenfassung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_offene_Gesellschaft_und_ihre_Feinde
Über Karl Popper und die offene Gesellschaft:
https://www.youtube.com/watch?v=coQ6sfSKnx8
»Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« auf Arabisch:
https://www.hindawi.org/books/49050373/4/