Vor einiger Zeit hatte ich in der S-Bahn mit einigen an Politik interessierten jungen Menschen eine Diskussion darüber, wer in Deutschland schlimmer ist: die Regierung oder die Opposition?
Ich selbst bin Zeit meines Lebens weit links und gegen das bürgerlich-kapitalistische System gewesen. Während politischer Arbeit und im Politikstudium und seit der Jahrtausendwende via Internet habe ich mich mit Radikalen aller weltanschaulichen Richtungen ausgetauscht. Das Spektrum ging von weit links bis hart rechts und umfasste sowohl Atheisten als auch Islamisten. Nach vierzig Jahren Erfahrungen mit Oppositionsarbeit und politischen Kräften jeder Couleur, die sich als Opposition gegen was auch immer gerieren, war mein Resümee: ich bin gegen die Opposition.
Während Corona sagte ein Sozialwissenschaftler, die mit den Maßnahmen der Regierung gegen die Pandemie zu Recht Unzufriedenen sollten sich eine neue Opposition suchen. Gewöhnlich suchen sich die mit der Regierung Unzufriedenen eine neue Regierung aus den Reihen der bisherigen Opposition.
Die jungen Menschen, mit denen ich in der S-Bahn diskutierte, haben sich nicht mit der Opposition, sondern mit der Regierung beschäftigt und waren mit Recht unzufrieden. Theoretisch sind in der »Ampel« aus Rot, Grün und Gelb die Parteien an der Regierung, deren Diskurse das Land und seine Menschen brauchen. Theoretisch
steht die SPD für soziale Gerechtigkeit
stehen die Grünen für den Schutz der Umwelt
und die FDP steht für Bürgerrechte und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
Dass es Zielkonflikte und widerstreitende Interessen gibt, liegt in der Natur der Sache, aber keines der vier Anliegen macht ohne die drei anderen Sinn. Sollte die Regierung dennoch versagen, hätten wir theoretisch eine Opposition, die ihr Paroli bieten könnte:
CDU und CSU stehen als konservative Parteien für das Bewährte und das im Parteinamen enthaltene Christentum verpflichtet zur Nächstenliebe auch und besonders mit Marginalisierten und Ausgegrenzten.
Die »Alternative für Deutschland« bekennt sich dazu, rechts zu sein und Rechte glauben an Machtpolitik und Herrschaftsausübung, wie sie Machiavelli und Hobbes dargelegt haben.
Die Linke steht für Kritik am Kapitalismus und Erarbeiten einer Alternative, die seine Schwächen überwindet.
So sieht es in der Theorie aus.
In der Wirklichkeit kommt die Bundesregierung nicht über Krisenmanagement und das Verwalten von Problemen hinaus. Das ist viel im Vergleich zu dem, was die Opposition tut.
Die Linke gebärdet sich wie eine Partei von Beamten, die in der Sache Recht haben, aber nicht Recht bekommen.
CDU und CSU stehen in insgesamt 32 Jahren mit zwei von ihnen geführten Bundesregierungen vor allem für Stagnation.
Die »Alternative für Deutschland« verkörpert das Gegenteil dessen, was in den Diskursen von Machiavelli und Hobbes unter Politik zu verstehen ist.
Was die politischen Kräfte eint, ist, dass sie das Gegenteil dessen sind, was sie sein sollten. Dazu kommt ein mehr oder weniger stark ausgeprägter Absolutheitsanspruch. Man liebt es, zu polarisieren und die eigene Klientel zu hätscheln und Menschen, die nicht zu ihr gehören, das Recht auf Leben abzusprechen. Themen werden nicht um der Sache selbst angesprochen, sondern um damit bei Freund und Feind Emotionen zu schüren. Anstelle nach dem »Sowohl als auch« zu suchen, wird das »Entweder – oder!« beschworen.
Weil es keinen von den politisch Handelnden unabhängigen Maßstab zur Bewertung ihres Tuns gibt, nehmen die Menschen den Niedergang der Politik hin oder wenden sich von ihr ab. Wer wählt, wählt das kleinere Übel und flüchtet sich von der Wahlurne wieder ins Private.