Stefano hatte während der Fahrt zum OCEANS über Funk die Nachricht erhalten, dass Caroline bereits auf dem Weg in die Klinik sei. Kurzentschlossen hatte er gewendet und den plötzlich sehr schweigsamen Edward am Sunset City Memorial abgesetzt.
„Ich sehe später noch einmal vorbei“, versprach er. „Vielleicht ist Caroline bis dahin ansprechbar und bereit dazu, mir ein paar Fragen zu beantworten.“
Als er auf dem Rückweg am OCEANS vorbeikam, hatten sich die letzten Gäste bereits auf den Heimweg gemacht. Nur Alex stand noch an der Seite und telefonierte. Stefano hielt den Wagen an und stieg aus.
Neugierig sah er sich um. Nein, hier deutete weit und breit nichts mehr darauf hin, was vor ein paar Stunden geschehen war.
„Alles in Ordnung?“, wandte er sich an Alex.
Dieser schaltete sein Handy aus und betrachtete es einen Augenblick lang nachdenklich.
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe bereits mehrmals versucht, Claudia zu erreichen, aber sie meldet sich nicht. Dabei müsste sie doch inzwischen von ihrem Kurzurlaub zurück sein.“
„Sie und Manuel sind bereits heute Nachmittag wieder in Sunset City eingetroffen“, erwiderte Stefano. „Sicher ist sie im Hotel und schläft schon.“
Alex schüttelte den Kopf.
„Nein, dort ist sie nicht. Als ich vorhin die Nachricht vom Einsturz der Höhle erhielt, bin ich auf dem Weg hierher am PACIFIC INN vorbeigefahren, um sie abzuholen. In solchen Fällen wie diesem, wenn an einem unserer Arbeitsplätze etwas Unvorhergesehenes geschieht, treffen wir uns immer alle vor Ort, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Aber sie war nicht da. Der Portier glaubte sich zu erinnern, dass sie das Hotel am späten Nachmittag wieder verlassen hatte.“ Grübelnd strich er sich über die Stirn. „Ich frage mich wo sie so lange steckt. Es ist fast Mitternacht!“
Stefano wurde unwillkürlich von einer merkwürdigen Unruhe erfasst.
„Wir sollten nochmal zum Hotel fahren. Vielleicht ist sie inzwischen wieder dort“, schlug er vor und deutete auf seinen Wagen. „Steigen Sie ein!“
Alex sprang auf den Beifahrersitz.
„Nennen Sie es einen „sechsten Sinn“ oder meinetwegen auch nur Spinnerei, ich kann es nicht erklären“, meinte er beunruhigt. „Aber seitdem ich aus L.A. zurück bin, habe ich so ein komisches Gefühl im Magen. Irgendetwas stimmt nicht.“
„Ach kommen Sie“, versuchte Stefano ihn und vor allem sich selbst zu beruhigen. „Claudia ist eine erwachsene Frau. Vielleicht übernachtet sie bei einer Freundin.“
„Freundin?“ Alex schüttelte den Kopf. „Sie kennt doch außer eurer Familie und mir hier niemanden näher.“
„Nun, eines weiß ich genau“, erwiderte Stefano sarkastisch, während er in rasantem Tempo die Mainstreet hinunterfuhr. „Bei meiner Familie ist sie garantiert nicht.“
Im Hotel gab ihnen der Portier die gleiche Antwort wie zuvor. Claudia war noch nicht wieder eingetroffen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Alex und blickte Ricardo ratlos an. „Es ist nicht ihre Art, einfach ohne eine Nachricht zu verschwinden. Zumal wir morgen gleich nach Sonnenaufgang mit der Arbeit beginnen wollten. Wo kann sie nur sein?“
Stefano hob nachdenklich die Schultern.
„Ihre Ehe mit Manuel wurde heute früh geschieden. Vielleicht will sie nur ein bisschen allein sein.“
„Aber doch nicht bis nach Mitternacht“, entgegnete Alex skeptisch. „Die Bars und Gaststätten haben bereits alle geschlossen, und am Pier wird sie um diese Zeit auch nicht mehr herumsitzen. Allmählich mache ich mir wirklich Sorgen!“
„Okay.“ Stefano klopfte entschlossen mit der flachen Hand auf das Dach seines Wagens. „Ich werde dem Portier meine Visitenkarte geben und ihn bitten, mich anzurufen, wenn sie auftaucht. Und wir beide fahren den Strand ab, drehen noch eine Runde durch die Stadt und halten ein wenig Ausschau.“
„Einverstanden“, rief Alex, erleichtert darüber, dass Stefano seine Ängste um Claudia aus was auch immer für Gründen zu teilen schien. „Fahren wir!“
*
Der feine Staub vermischte sich mit der Luft und drang überall hin, selbst in die kleinste Ritze. Claudias Augen brannten wie Feuer. Ihr war furchtbar heiß, der Kopf schmerzte, und als sie mit dem Handrücken über die Stirn strich, fühlte sie etwas Feuchtes, Klebriges. War das Blut?
Was war geschehen?
Um sie herum war es stockfinster.
´Wo bin ich?´, dachte sie entsetzt. Sie lag auf hartem, steinigen Untergrund und konnte sich kaum bewegen. Irgendetwas schien mit eisernem Griff ihre Beine festzuhalten. Trotzdem versuchte sie sich aufzurichten, doch sie kam nicht weit. Kaum hob sie den Oberkörper etwas an, stieß sie sich schmerzhaft den Kopf. Sie tastete mit der Hand nach dem Widerstand und spürte kantiges Felsgestein, das nicht einen Millimeter nachgab.
´Bin ich in einen Seitenarm der Höhle geraten?´, versuchte sie angestrengt ihre Gedanken zu ordnen. ´Warum ist das Licht aus? Wo sind die anderen? Alex und Manuel würden doch nie zulassen, dass ich irgendwo ohne Absicherung hingehe! Wo sind die beiden?´
Mühsam versuchte sie die in ihrem Inneren aufsteigende Panik zu bekämpfen und sich zu konzentrieren. Dann, ganz allmählich, begann ihr Gehirn wieder zu arbeiten.
´Ich war in dieser Höhle´, erinnerte sie sich mühsam, Stück für Stück. ´Ich wollte vom Strand aus durch den unterirdischen Gang ins OCEANS laufen...´
Aber was war danach passiert?
Sie wusste nur noch, dass sie aus irgendeinem Grund gerannt war, so schnell sie konnte, und dass es dann hinter ihr plötzlich furchtbar geknallt hatte, ein Geräusch war entstanden, das so klang, als würde eine riesige Geröllwalze auf sie zurasen.
´Licht! Ich hatte eine Taschenlampe... Sie muss mir heruntergefallen sein!´
Automatisch begannen ihre Hände den Boden um sich herum abzutasten.
Sand, Gestein... Sie musste husten und versuchte wieder vergeblich, sich vorwärts zu bewegen.
Da! Ihre Finger bekamen einen metallisch glatten Gegenstand zu fassen. Die Lampe! Claudia drückte auf den Schalter und eine Welle der Erleichterung durchfuhr sie: Die Lampe funktionierte, das Licht ging an.
Doch der anfänglichen Freude darüber folgte schlagartig die Ernüchterung, als sie sah, wo sie sich befand. Fassungslos folgten ihre Augen, die sich erst einen Augenblick an das helle Licht gewöhnen mussten, dem Schein der Lampe und ihre zitternden Lippen formten sich zu einem lautlosen Schrei.
„Oh…mein… Gott...!“
*
Edward saß allein auf einem der Stühle im Gang vor Carolines Krankenzimmer, das Gesicht in beide Hände vergraben. Erschrocken blickte er hoch, als jemand schnellen Schrittes auf ihn zugeeilt kam.
„Edward!“
„Sophia... Was zum Teufel willst du denn hier?“
Ron hatte Sophia hergebracht. Da er allerdings wenig Lust verspürte, hier in ihrer Begleitung auf Edward zu treffen und damit womöglich öffentlich eine unschöne Szene heraufzubeschwören, hatte er sich am Eingang verabschiedet, jedoch nicht ohne ihr vorher das Versprechen abzuringen, sich am nächsten Tag zum Mittagessen mit ihm zu treffen. Sophia war alles egal, sie wollte jetzt nur eines: erfahren, was mit ihrer Tochter geschehen war.
„Wo ist Caroline? Wie geht es ihr?“, rief sie und ließ sich mit zitternden Knien neben ihrem Ehemann nieder.
„Der Arzt ist gerade bei ihr. Von ihm werden wir hoffentlich gleich alles Wichtige erfahren“, erwiderte Edward. „Woher weißt du überhaupt von dem Unfall?“
„Diese junge Ärztin hat mich benachrichtigt, Dr. Yamada. Sie meinte, es sei ratsam, wenn ich sofort herkommen würde.“ Sophia umklammerte Edwards Arm. „Sag schon, wie schlimm ist es?“
„Keine Ahnung. Cary war bewusstlos, als man sie herbrachte. Sie muss wohl etwas auf den Kopf bekommen haben.“
„Oh Gott, mein armes Kind!“, schluchzte Sophia und presste die Hand auf den Mund, um ein Stöhnen zu unterdrücken. „Daran bist nur du schuld, mit deinem krankhaften Wahn, alles kontrollieren zu müssen!“
„Ich?“ Edward sah sie schmerzerfüllt an. „Ich habe doch nicht...“
„Ach sei still!“, fauchte Sophia außer sich vor Zorn. „Nur, weil es dir nicht gepasst hat, dass sie einmal etwas selbstständig entscheiden wollte, hast du sie gleich aus dem Haus geworfen! Natürlich bist du schuld!“ Sie sah sich um, ob jemand auf dem Flur sie hören konnte, aber es war niemand zu sehen. „Merke dir gut, was ich dir jetzt sage, mein Lieber...“, zischte sie ihn drohend an. „Das mache ich nicht mehr länger mit! Wenn Caroline das hier heil übersteht, wirst du dich bei ihr entschuldigen und sie bitten, nach Hause zurückzukommen. Wenn du das nicht tust, dann... gehe ich auch. Und dieses Mal für immer!“
Sie hatte eine Auseinandersetzung erwartet, doch Edward schwieg. Er starrte nur vor sich hin ins Leere.
„Was ist?“, hakte Sophia verunsichert nach.
„Ich habe das nicht gewollt“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme, als plötzlich Dean und Mitch den Gang entlang geeilt kamen.
„Gibt es schon etwas Neues?“, fragte Mitch atemlos. Edward schien wie aus einem Traum zu erwachen. Er blickte hoch - und sah Dean.
„Raus hier!“, schrie er völlig außer sich und sprang auf. „Du verdammter Bastard, verschwinde auf der Stelle aus diesem Krankenhaus!“
„Hey, Moment mal“, ging Mitch geistesgegenwärtig dazwischen, bevor Edward sich auf den jungen Mann stürzen konnte. „Was soll denn das?“
„Er ist schuld! Er ganz allein! Er hat Caroline dazu überredet, sich mit ihm das OCEANS zu teilen! Ohne ihn wäre das alles...“
„Jetzt halten Sie gefälligst mal die Luft an!“, herrschte Dean ihn an. „Sie wissen ja nicht, was Sie da sagen! Ich habe Cary zu gar nichts überredet!“
„Sie bekommen das Geld meiner Tochter nicht!“, keifte Edward wie von Sinnen. „Sie wird schneller wieder aus dem Geschäft aussteigen, als Sie ihren Namen aussprechen können! Ich lasse alle ihre Transaktionen stornieren und ihre Konten sperren!“
„Das dürfen Sie gar nicht! Cary ist volljährig“, erwiderte Dean scheinbar gleichmütig.
„Und ob ich das kann, Sie elender…“, setzte Edward zu einer erneuten Schimpfkaskade an.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Dr. Arthur Mendes trat aus Carolines Krankenzimmer, gefolgt von John O`Malley und Suki Yamada. Mit einem Blick erfasste er die angespannte Situation und blickte ungehalten von einem zum anderen.
„Ich muss doch sehr bitten. Was fällt Ihnen ein, hier solch ein Geschrei zu veranstalten. Sie befinden sich in einem Krankenhaus!“
Sophia war aufgesprungen.
„Wie geht es meiner Tochter, Doktor?“
Arthur Mendes atmete tief durch und versuchte Sophia zuliebe ein halbwegs verbindliches Lächeln zustande zu bringen.
„Es geht ihr inzwischen den Umständen entsprechend gut, Mrs. Hamilton“, sagte er ernst. „Ihr Zustand war kritisch, als man sie vor einer Stunde herbrachte, aber inzwischen ist sie wieder bei vollem Bewusstsein. Wir konnten sie stabilisieren und bereits einige Tests durchführen. Und abgesehen von ein paar kleinen Hautabschürfungen und Prellungen...“
„Was ist mit der Wunde an ihrem Kopf?“, unterbrach ihn Dean besorgt.
„Es war nur eine kleine Platzwunde“, erwiderte Arthur, verzog dann jedoch bedenklich das Gesicht. „Allerdings...“
„Ja?“ Nichts Gutes ahnend starrte Dean ihn an.
„Die Stelle, wo sie einer der Gesteinsbrocken am Kopf getroffen hat, ist genau die gleiche, an der sie erst kürzlich aufgrund ihres Sturzes im Hotelzimmer verletzt worden war.”
Sophia umklammerte erschrocken den Arm des Arztes.
„Was bedeutet das, Doktor?“
„Das wissen wir zur Stunde noch nicht. Zuerst müssen wir auf jeden Fall ein Kopf-CT machen. Danach können wir dann Genaueres sagen. Aber bis dahin, Herrschaften...“ Er blickte warnend in die Runde. „Bis dahin verlange ich, dass die Patientin völlige Ruhe genießt. Die kleinste Aufregung könnte den größten Schaden verursachen. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja ja.“ Ungeduldig blickte Edward den Arzt an. „Dürfen meine Frau und ich jetzt zu ihr?“
Dr. Mendes wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit seinen beiden Kollegen und straffte die Schultern.
„Tut mir leid, aber das kann ich nicht zulassen. Ein Besucher darf kurz hinein, und Miss Hamilton hat ausdrücklich nach einem jungen Mann namens Dean verlangt.“
„Das bin ich.“ Dean drängte sich an den anderen vorbei zur Tür.
„Okay“, nickte Arthur. „Aber denken Sie daran, keine Aufregung!“
Während Dean das Krankenzimmer betrat, wurde Edward draußen fast handgreiflich.
„Was erlauben Sie sich! Dort drin liegt meine Tochter! Und Sie lassen diesen Mistkerl zu ihr, während meine Frau und ich hier draußen stehen und vor Sorge fast wahnsinnig werden!“
„Beruhigen Sie sich, Mister Hamilton“, erwiderte Arthur ungerührt. „Es geht hier ausschließlich um das Wohl meiner Patientin. Ich halte es für besser, wenn sie morgen früh nach ihr zu sehen. Bis dahin haben Sie sich hoffentlich wieder etwas beruhigt. In Ihrer jetzigen Verfassung würden Sie Caroline mit Sicherheit nur aufregen. Gehen Sie nach Hause.“
Edward wurde bleich vor Wut.
„Ich verlange auf der Stelle...“
„Soll ich den Sicherheitsdienst rufen?“, fragte Dr. O`Malley vorsichtshalber. Arthur schüttelte den Kopf, ohne jedoch Edward aus den Augen zu lassen.
„Ich glaube, Mister Hamilton hat mich verstanden und wird uns keine weiteren Schwierigkeiten mehr machen.“
„Komm mit, Edward“, befahl Sophia und packte ihren Mann entschlossen am Arm. „Lass uns gehen! Wir kommen morgen früh wieder her.“ Sie wandte sich an Arthur. „Bitte sagen Sie ihr, dass wir hier waren, und... sagen Sie ihr auch, dass wir sie beide sehr lieben.“
Der Arzt nickte.
„Das werde ich gerne tun. Gute Nacht!“
Suki, die bisher geschwiegen hatte, trat zu Mitch und legte ihm ihre Hand auf den Arm. Sie sah blass aus, die Ereignisse dieser Nacht hatten ihre Spuren auf dem ebenmäßig hübschen Gesicht der jungen Ärztin hinterlassen.
„Ich bin hier gleich fertig, wartest du auf mich?“
„Aber natürlich“, lächelte er und zwinkerte ihr beruhigend zu. „Kopf hoch, Schatz, es hätte schlimmer kommen können. Viel schlimmer.“
*
Stefano und Alex waren noch immer mit dem Wagen unterwegs, als Stefanos Handy klingelte. Er meldete sich, in der Hoffnung, Claudia sei endlich im Hotel aufgetaucht. Doch es war die aufgeregt klingende Stimme seiner Mutter, die an sein Ohr drang.
„Es ist etwas Schreckliches passiert!“
„Ja Mama, ich weiß“, erwiderte Stefano und verdrehte genervt die Augen. „Eine der Strandhöhlen ist eingestürzt. Aber so schrecklich, wie es sich anhört, ist es gar nicht. Eine Person war verschüttet, doch die Einsatzkräfte haben sie inzwischen lebend geborgen. Du kannst also beruhigt schlafen gehen.“
„Wer... Wer war verschüttet?“, fragte Madame Dolores atemlos.
„Mama...“ Stefano warf einen entschuldigenden Blick auf Alex. Das war so peinlich!
„Hör zu, ich erzähle dir später alles, okay?“
„Stefano!“, rief Dolores eindringlich. „War es Claudia, die verschüttet war?“
„Was?“, fragte Stefano verständnislos. „Wie kommst du denn auf diesen Unsinn?“
„Sag es mir“, beharrte sie.
Stefano stöhnte auf.
„Nein, es war Caroline Hamilton. Bist du nun zufrieden? Ich muss jetzt auflegen...“
„Stefano! Warte!“
Er hörte den schweren Atem seiner Mutter am anderen Ende der Leitung.
„Ich hatte eine Vision... Wo ist Claudia?“
„Seit wann interessiert dich das denn?“, fragte Stefano unwirsch und atmete tief durch. Er wusste, sie regte sich immer fürchterlich über ihre so genannten Visionen auf, und deshalb wollte er sie beruhigen. „Claudia ist in ihrem Hotelzimmer und schläft. Und das solltest du jetzt auch tun! Wir sehen uns morgen.“ Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten und blickte Alex kopfschüttelnd an. „Meine Mutter! Sie glaubt, sie habe übersinnliche Kräfte und plagt sich ständig mit irgendwelchen Visionen herum.“
„So etwas soll es ja geben“, erwiderte Alex diplomatisch.
„Nein“, lachte Stefano nervös. „Sie ist nicht verrückt, sie glaubt nur mit ganzer Kraft an alles Übersinnliche. Und manchmal scheint es mir, als habe sie wirklich den berühmten sechsten Sinn.“
„Ich wollte damit auch nicht andeuten, dass ich sie für verrückt halte, ganz im Gegenteil. Manchmal glaube ich, dass gewisse Leute wirklich so eine übersinnliche Gabe haben“, meinte Alex nachdenklich. „Aber warum hat sie ausgerechnet nach Claudia gefragt?“
Stefano hob die Schultern und lenkte den Wagen vom Strand zurück auf die Straße.
„Keine Ahnung. Ich habe ihr gesagt, dass Claudia im Hotel ist, damit sie sich nicht unnötig Gedanken macht. Es wundert mich sowieso, dass sie sich nach ihr erkundigt, die beiden verstehen sich eigentlich nicht besonders.“
„Ehrlich gesagt, wäre mir auch wohler zumute, wenn Claudia endlich auftauchen würde“, seufzte Alex und sah auf die Uhr. „Es ist inzwischen weit nach Mitternacht.“ Er blickte Stefano fragend an. „Was tun wir jetzt?“
„Wir fahren erst einmal zu Caroline in die Klinik und erkundigen uns, wie es ihr geht. Vielleicht ist sie bereits ansprechbar. Oder soll ich Sie vorher im Hotel absetzen?“
„Nein, ich komme mit. Ich könnte sowieso nicht schlafen.“
*
„Stefano? Stefano...!“
Geradezu entsetzt darüber, dass ihr Sohn es gewagt hatte, einfach aufzulegen, starrte Madame Dolores das Telefon an, aus dem nur noch ein langanhaltender Piepton drang.
Er hatte aufgelegt. Aufstöhnend warf sie das Handy auf den Tisch und drückte die Fingerspitzen an ihre pochenden Schläfen. Diese Kopfschmerzen verspürte sie immer, nachdem eine starke Vision sie heimgesucht hatte. Und diese hier war besonders intensiv gewesen. Wenn ihr Stefano doch nur glauben würde!
Es ging um Claudia. Sie wusste zwar nicht, warum, aber sie konnte mit jeder Faser ihrer Sinne spüren, dass etwas Schreckliches passiert war. Die junge Frau war in Gefahr... In Lebensgefahr!
Dolores sank in ihren Sessel und konnte sich nicht erinnern, sich jemals so hilflos gefühlt zu haben.
*
Die Luft wurde immer stickiger. Claudia wusste weder, wie lange sie hier schon lebendig begraben war, noch hatte sie eine Ahnung, wieviel Sauerstoff ihr noch blieb.
Lebendig begraben, das war der richtige Ausdruck für das, was sie im Lichtkegel der Lampe erfasst hatte. Sie befand sich anscheinend in einer Luftblase, einem winzig kleinen Hohlraum. Vor ihr war ungefähr noch ein halber Meter Platz, über ihr nicht viel mehr, um sie herum lagen übereinander gestürzte Gesteinsbrocken, die aussahen, als könnten sie jeden Moment weiter zusammenrutschen. Bis zur Hüfte steckte sie unter einer Lawine von Sand und Steinen fest, aus der sie sich mit eigener Kraft nicht befreien konnte.
„Mach das Licht aus“, sagte sie zu sich selbst und musste erneut husten. „Spar deine Kräfte. Sie werden nach dir suchen...“
Gleichzeitig jedoch schoss es wie ein Blitz durch ihren Kopf: ´Wer soll denn nach mir suchen? Keiner weiß, dass ich hier drin bin!´
Aber ihr Lebenswille war stärker als die Angst. Tapfer bekämpfte sie die erneut aufsteigende Panik. ´Wenn ich hier drin schon sterben muss, dann mit der Gewissheit, dass ich wenigstens vorher alles versucht habe, was in meiner Macht steht, damit sie mich finden!´
Entschlossen begann sie, mit der Lampe gegen die Steine zu klopfen, die vor ihr lagen, immer und immer wieder, bis ihre Kräfte erlahmten und sie erschöpft einschlief...
*
Als Dean Carolines Krankenzimmer betrat, schien sie zu schlafen. Blass und bewegungslos lag sie in den Kissen, einen Verband um die Stelle am Kopf, wo die herabstürzenden Steine sie getroffen hatten. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig.
Zögernd trat Dean näher, blieb dicht vor ihrem Bett stehen und betrachtete schweigend ihr schmales Gesicht. Sie wirkte so zerbrechlich, wie sie dalag, und er verspürte wieder den dringenden Wunsch, sie beschützend in seine Arme zu nehmen. Als hätte sie seine Gedanken gehört, schlug Caroline die Augen auf.
„Dean!“ Sofort umspielte ein freudiges Lächeln ihre Lippen.
„Cary...“ Dean ignorierte ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Stattdessen beugte er sich hinunter zu ihr, nahm ihr Gesicht zärtlich zwischen seine Hände und küsste sie sanft. Erstaunt darüber verharrte sie für einen kurzen Augenblick, doch wenige Augenblicke später hatte sie sich gefasst. Vorsichtig erwiderte sie seinen Kuss und schlang ihre Arme um seinen Hals.
Nach ein paar Sekunden löste Dean seinen Mund von ihren weichen Lippen.
„Hey“, flüsterte er und sah sie unendlich liebevoll an. „Ich muss damit aufhören. Ich habe Dr. Mendes versprochen, dich nicht aufzuregen.“
Caroline lächelte schüchtern.
„Du regst mich nicht auf, Dean. Du trägst gerade unwahrscheinlich zu meiner Genesung bei.“
Lächelnd strich er über ihr Haar, das unter dem Verband hervorquoll.
„Du hast mir eine Riesenangst eingejagt, und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir dich da unten in dem verschütteten Gang gefunden haben.“ Er küsste sie noch einmal und spürte, dass sie sich nur widerwillig von ihm löste. Aufmunternd zwinkerte er ihr zu. „Ich verspreche dir, dass du noch viel mehr davon bekommst. Aber erst musst du schnell gesund werden!“
„Ganz schnell“, versprach Caroline und strahlte ihn an. Dann aber verdüsterte sich ihr Gesicht. „Ist mein Vater auch da?“
Dean nickte.
„Er, und auch deine Mum. Aber Dr. Mendes hat ihnen verboten, dich vor morgen früh zu sehen. Er sagte, du hättest ausdrücklich nach mir verlangt.“
„Das ist richtig. Ich wollte nur dich sehen, sonst niemanden.“ Verstohlen biss sie sich auf die Lippen. „Und du bist mir wirklich nicht böse?“
„Weshalb sollte ich dir böse sein?“, fragte er erstaunt.
„Weil ich diesen Gang betreten habe. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich hatte mich so sehr über meinen Vater geärgert und wollte einfach einen Moment lang allein sein.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, erwiderte er und lächelte. „Und was deinen Vater betrifft, so tut es ihm mit Sicherheit ganz gut, wenn er eine Nacht lang Zeit hat, in Ruhe über alles nachzudenken. Vielleicht geht ihm ja dabei endlich einmal ein Licht auf.“
Caroline stutzte bei Deans letzten Worten, richtete sich kerzengerade in ihrem Bett auf und starrte erschrocken ins Leere.
„Was hast du da eben gesagt?“
„Ich... ich meinte, vielleicht geht deinem Vater ein Licht auf...“, wiederholte Dean, irritiert über ihre Reaktion.
„Das ist es!“, rief Caroline und griff aufgeregt nach seiner Hand. „Als Dr. O`Malley mir vorhin erzählte, was passiert ist, dachte ich zuerst, ich könnte mich an alles erinnern. Trotzdem hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass ich etwas Wichtiges vergessen hätte.“ Ihre Hand umfasste krampfhaft seine Finger. „Dean! Jetzt weiß ich es wieder! Ich war nicht allein da unten! Da war noch jemand in diesem Gang!!
Dean glaubte sich verhört zu haben.
„Cary, das bildest du dir vermutlich nur ein. Wie sollte denn jemand in diesen Gang gekommen sein? Durch die Bar ganz sicher nicht, das hätte ich bemerkt.“
Caroline starrte ihn einen Augenblick lang nachdenklich an.
„Nein, nicht durch die Bar. Aber vielleicht… von der anderen Seite?“
„Das wäre zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, murmelte Dean, mehr zu sich selbst, aber Cary nickte heftig.
„Ich bin ganz sicher! Weiter hinten habe ich deutlich einen Lichtschein gesehen, kurz bevor alles zusammenbrach!“ Sie schluckte aufgeregt. „Ich... ich muss unbedingt mit Stefano Cortez von der Polizei sprechen!“
*
„Ausgeschlossen“, meinte Dr. Mendes entschieden und blickte die beiden Männer vor sich streng an. „Die Patientin wird heute bestimmt keine Fragen mehr beantworten.“
„Es ist dienstlich und dauert wirklich nur einen Augenblick“, beharrte Stefano Cortez, der eben gemeinsam mit Alex Franklyn das Medical Center betreten hatte.
„Ich sagte NEIN!“ Der Arzt zeigte sich zum Wohle seiner Patientin unerbittlich. „Kommen Sie bitte morgen früh wieder. Caroline braucht viel Ruhe.“
Betreten sahen die beiden sich an.
„Da kann man nichts machen“, nickte Stefano schließlich resigniert. „Kommen Sie, Alex, fahren wir nach Hause und warten ab. Mehr können wir im Moment leider nicht tun.“
Sie wollten gerade gehen, als Dean die Tür von Carolines Krankenzimmer öffnete und hinaus auf den Flur trat.
„Detektiv Cortez?“, rief er erstaunt, als er die beiden Männer sah. „Das trifft sich gut! Caroline will unbedingt mit Ihnen sprechen!“
Dr. Mendes wollte gerade wieder einschreiten, aber Dean hielt ihn zurück.
„Hören Sie Doktor, was Caroline zu sagen hat, könnte unter Umständen ein weiteres Menschenleben retten. Und glauben Sie mir, sie wird sich fürchterlich aufregen, wenn Sie erfährt, dass Detektiv Cortez hier war und sie nicht mit ihm reden durfte. Es dauert wirklich nicht lange. Sie können dabeibleiben, wenn Sie möchten!“
Der Arzt zog unmutig die Stirn in Falten.
„Also gut. Eine Minute!“
*
Kurze Zeit später wurde es erneut lebendig auf den nächtlichen Straßen von Sunset City. Sondereinheiten der Feuerwehr, Polizei und Rettungskräfte fuhren zum zweiten Mal in dieser Nacht zum OCEANS. Unter Alex fachkundiger Anleitung kämpften sich die Männer mühsam durch den eingestürzten Gang, räumten, bohrten vorsichtig mit Spezialbohrern in das zerborstene, übereinander gerutschte Gestein und sicherten alles, so gut es ging, was sie bisher freigelegt hatten. Vergeblich lauschten sie zwischendurch immer wieder auf irgend ein Lebenszeichen. Sie arbeiteten so schnell sie konnten und wechselten sich untereinander ab.
Stefano war mit vor Ort und half, so gut er konnte. Immer wieder dachte er an die Worte seiner Mutter am Telefon und an Claudia, die nirgends aufzufinden gewesen war.
Gab es eine Verbindung zu der angeblich verschütteten, bislang unbekannten Person? War am Ende wirklich etwas dran an der merkwürdigen Vision seiner Mutter, und Claudia war hier unten in dem Höhlengang von dem Einsturz überrascht worden?
Die Angst um sie und diese unerklärliche innere Unruhe ließen ihn unermüdlich weiterarbeiten, ohne auf die Gefahr zu achten, in der sich jeder Einzelne der Helfer befand.
In den frühen Morgenstunden fanden sie Claudia in dem Hohlraum, der sich zwischen den eingestürzten Gesteinsmassen gebildet hatte.
Bewusstlos, mit unzähligen blauen Flecken und von herabgestürztem Gestein eingeklemmten Beinen.
Aber sie lebte...