Völlig euphorisch war Mason in dieser Nacht ins Hotel zurückgekehrt. Viel zu aufgedreht, um gleich schlafen zu gehen, hatte er sich in seiner sorgsam wieder angelegten Verkleidung noch einen Drink an der Bar gegönnt. Doch auch der Alkohol, der seinem Körper sofort eine wohlige Wärme spendete, brachte ihm nicht die Ruhe, die er brauchte, um schlafen zu können. Im Gegenteil, sofort waren sie wieder da, diese lästigen dumpfen Kopfschmerzen. Seit seinem Unfall kamen sie in immer kürzer werdenden Abständen und quälten ihn. Wie so oft betäubte er sie mit starken Schmerzmitteln, denn er konnte sich gerade jetzt keine Schwäche eingestehen.
Später dann in seinem Zimmer begann er unruhig auf und ab zu wandern.
Sein Plan stand fest: In ein paar Stunden würde er dafür sorgen, dass das Liebesglück von Matt und Danielle endgültig ein jähes Ende fand. Und wenn die kleine Danielle sich nach dem Schock, der ihr leider bevorstand, erst einmal erholt hatte, würde sie Matt nicht mehr lieben, sondern hassen. Und dann? Dann würde Mason Shelton auf der Bildfläche erscheinen, und sie würde erkennen, dass er derjenige war, der für sie bestimmt war, so, wie sie für ihn.
Er lächelte versonnen.
Wie gerne würde er Danielle schon heute Nacht in den Armen halten! Die Sehnsucht nach ihr brannte unbändig in ihm und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Noch war sie unerreichbar, aber nicht mehr lange! Und bis es soweit war, würde er sich eben mit einer anderen trösten.
Zum Beispiel mit einer, von der er wusste, dass sie sich schon vom ersten Augenblick ihres Zusammentreffens nach ihm verzehrte.
Er trat auf die Terrasse hinaus und sah hinüber zu Cynthias Zimmer. Allem Anschein nach schlief sie bereits, aber ihre Terrassentür stand einen Spalt breit offen. Mason grinste siegessicher. Cynthia würde noch viel für ihn tun. Zumindest in geschäftlicher Hinsicht war sie ihm eine unverzichtbare Hilfe. Sie war klug und kannte Joannas Firma wie keine andere. Außerdem war sie clever und ehrgeizig genug, um seinen Plänen in jeder Hinsicht zu dienen. Vielleicht war es nun an der Zeit, sie auch ganz privat ein wenig besser kennenzulernen.
Kurz entschlossen stieg Mason über die Balkonbrüstung und verschwand lautlos wie ein Schatten im Dunkel ihres Hotelzimmers...
*
„Und du hast allen Ernstes vor, dein Studium abzubrechen, um hier in Sunset City zu bleiben? Wovon willst du denn leben?“ Mit ungläubig zusammengezogenen Augenbrauen schaute Danielle ihre jüngere Schwester an. Sie saßen bereits seit geraumer Zeit zusammen in Danielles kleinen Zimmer in Mitchs Haus und diskutierten über die derzeit ungewisse Zukunft der jüngsten Belling-Tochter. Glücklich, endlich hier in Kalifornien zu sein, war Robyn kaum zu bremsen und malte sich ihr künftiges Leben in rosaroten Farben aus.
„Ich schreibe mich an der UCLA ein, so dass ich gleich ins nächste laufende Semester einsteigen kann.“
Danielle stöhnte auf.
„Glaubst du denn, die University of California in LA hat ausgerechnet für dich sofort einen Platz frei? Viele Studenten warten monatelang auf einen Studieneinschreibung.“
„Dann muss ich mich eben gedulden, bis etwas frei wird. Und bis dahin suche mir einen Job. Das kann doch nicht so schwer sein.“
„Den solltest du dir ohnehin suchen. Wovon willst du denn sonst deine Gebühren bezahlen? Und außerdem, hast du mal darüber nachgedacht, dass du mit einem Agrarwissenschafts-Abschluss in Kalifornien völlig fehl am Platz bist? Wenn du mit dem Studium fertig bist, wirst du wohl kaum hier an der Küste eine Anstellung finden!“
„Ach Dani, dann mache ich eben etwas anderes.“ Robyns Enthusiasmus schien grenzenlos. „Lass es mich doch einfach versuchen! Ich könnte ja auch BWL studieren, das ist voll im Trend. Schlimmstenfalls kann ich ja nach dem Studium zurück nach Oklahoma ziehen.“
´Schlimmstenfalls`, wiederholte Danielle in Gedanken und verdrehte die Augen, doch dann besann sie sich eines Besseren. Sie klang ja schon fast wie ihre Mutter! Warum sollte Robyn nicht versuchen ihre Träume zu verwirklichen? Schließlich tat sie selbst das doch auch gerade. Außerdem war ihre Schwester alt genug, um Entscheidungen in ihrem Leben selbst zu treffen und auch dafür geradezustehen. Nur so würde sie irgendwann erwachsen werden. Und was war eigentlich so falsch daran, wenn sie ihr Studium hier in LA abschließen und anschließend vielleicht zurück nach Crawford gehen würde, um die Farm der Familie weiterzuführen, wie ihr Vater sich das immer gewünscht hatte? Sollte sie sich ruhig ein oder zwei Jahre in Kalifornien austoben!
„Vielleicht wird ja sogar irgendwann ein Zimmer hier im Haus frei. Dann ziehe ich sofort ein“, hörte sie Robyn sagen, und es schwang so viel Lebensfreude in der Stimme ihrer Schwester mit, dass Danielle unwillkürlich lächeln musste.
„Es ist dir also wirklich ernst damit?“
„Aber klar ist es mir ernst! Was denkst du denn!“
„Okay.“ Danielle atmete tief durch. „Wir machen einen Deal: Wenn du Mum und Dad überzeugen kannst, dass sie dir deine Flucht und das unterbrochene Studium verzeihen, dann zahle ich deine Aufnahmegebühr an der UCLA. Und du kannst meinetwegen in ein paar Tagen mein Zimmer haben.“
„Wow!“ Robyn stieß einen Freudenschrei aus und flog ihr um den Hals. Ihre Augen glänzten. „Das ist so toll! Danke Dani!“ Sie hielt inne und sah ihre Schwester prüfend an. „Ja aber, wo wirst du dann wohnen?“
„Bei Matt“, erwiderte Danielle und zwinkerte ihr zu. „Schließlich sind wir verlobt und er hat mich gefragt, ob ich bei ihm einziehen möchte.“
„Das ist fantastisch! Ich freu mich für dich. Du musst absolut glücklich sein!“
„Das bin ich auch“, nickte Danielle. „Allerdings...“
„Was?“
„Nun, da ist Matts Exfrau, an die ich immerzu denken muss. Marina. Ich kann nichts dafür, es ist einfach so ein Gefühl. Ich weiß, sie liebt ihn noch immer, und ich bin nicht sicher, ob er wirklich schon über diese Beziehung hinweg ist.“
Robyn verdrehte die Augen und grinste altklug.
„Meine Güte! Du bist nicht sicher? Schau in seine Augen! So, wie der Typ dich ansieht, kann es überhaupt keinen Zweifel an seinen Gefühlen für dich geben. Seine Blicke verraten ihn. Und du hättest erleben sollen, wie er sich um dich gesorgt hat, als du in der Klinik lagst! Er liebt dich, Danielle! Diese Marina ist Vergangenheit. Du bist seine Zukunft, mit dir will er sein Leben verbringen.“
„Hör sich einer die weise kleine Schwester an“, lachte Danielle. „Aus dir spricht die pure Lebenserfahrung.“
„Man muss doch nicht alt und grau sein, um so etwas zu erkennen. Vergiss Marina Shelton! Glaub mir, Matt hat sie bereits vergessen.“
„Ah ja? Wenn du das sagst.“ Danielle stand auf und gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Trotzdem sollten wir langsam schlafen gehen. Es ist bereits weit nach Mitternacht. Ich hoffe, Mum und Dad sind nach deinem Anruf einigermaßen beruhigt. Morgen früh werde ich mich ebenfalls bei ihnen melden und versuchen, Dad noch ein wenig zu besänftigen.“
„Das wäre echt lieb von dir“, erwiderte Robyn aufatmend. „Mum versteht mich, aber ich habe den Eindruck, für Daddy bin ich immer noch sein kleines Mädchen, das er unter keinen Umständen schon loslassen will. Genauso war es damals, als du von zu Hause weggegangen bist.“
Danielle lächelte etwas wehmütig.
„Sie wollen nur das Beste für uns beide. Und wenn sie merken, dass wir glücklich sind, dann sind sie`s auch. So...“ Sie ging hinaus und schleppte aus der Abstellkammer am Ende des Ganges eine zusammengeklappte Liege herbei. „Das muss für die erste Nacht genügen.“
„Na klar“, lachte Robyn und breitete Decke und Laken darauf aus. „Solange ich nicht unter dem Pier übernachten muss, ist mir alles recht.“
*
Matt lag in dieser Nacht lange wach. Eine eigenartige innere Unruhe, die er sich einfach nicht erklären konnte, hatte von ihm Besitz ergriffen und ließ ihn lange nicht zur Ruhe kommen.
Da war dieser merkwürdige Anruf von Marina...
Während seiner Verlobungsfeier hatte er sein Handy ausgeschalten, um nicht gestört zu werden. Als er vom OCEANS nach Hause gekommen war und es wieder in Betrieb nahm, zeigte es drei Anrufe an. Alle drei stammten von Marina. Beim dritten Anruf hatte sie dann eine Nachricht hinterlassen, die er sich bislang mehrmals angehört hatte, aber immer noch nicht zu deuten wusste.
„Hallo Matt, es tut mir leid, was heute geschehen ist. Ich wollte wirklich nicht, dass dir auf diese unschöne Art deine Verlobungsfeier verdorben wird. Ich hoffe, wir können irgendwann in Ruhe noch einmal über die Sache reden. Es ist nun mal passiert, und wir können nichts mehr daran ändern. Vielleicht war ja alles Vorsehung, wer weiß. Ruf mich bitte an, wenn du Zeit hast.“
Irritiert zog er die Stirn in Falten. Es tat Marina leid, was heute passiert war? Damit konnte eigentlich nur die Sache im OCEANS gemeint sein. Sicher hatte sie davon erfahren und vermutet, dass die Party geplatzt war.
Sie hörte sich ungewohnt deprimiert und traurig an. Trotzdem beschloss er, sie erst am nächsten Tag zurückzurufen. Sicher schlief sie schon, immerhin war es bereits nach Mitternacht.
Nun lag er lange wach und ließ seine Gedanken in die Vergangenheit wandern, mitten hinein in seine gemeinsame Zeit mit Marina.
Es waren wundervolle Jahre gewesen, das konnte er nicht leugnen. Sie war voller Lebensfreude, herrlich spontan und liebenswert, gleichzeitig jedoch auch sensibel und verletzlich. Gerade diese Gegensätze in ihrem Wesen waren es, die ihn so an ihr faszinierten, und er hatte vom ersten Augenblick ihres Kennenlernens gewusst, dass sie die Frau für ihn war, mit der er sein Leben verbringen wollte.
Ihr Hobby war von jeher die Malerei gewesen. Sie zauberte wundervolle Aquarelle auf die Leinwand. Jedes einzelne davon war ein lebendiges Zeugnis ihrer Empfindungen und Gefühle, zart und zugleich unwahrscheinlich intensiv.
Einige davon verkaufte sie an einen reichen Unternehmer nach Venice Beach, aber die schönsten Bilder schmückten damals ihr gemeinsames Haus und die Blockhütte in den Bergen.
Matt unterstützte ihr Hobby, so gut es ging. Er hatte ihr sogar die kleine Abstellkammer oben am Ende des Flures als Atelier eingerichtet. Sie war so gerne dort, stundenlang stand sie an ihrer Staffelei und malte. Ihre Bilder spiegelten genau das wieder, was sie fühlte. Sie war verliebt und glücklich. Zumindest eine Zeit lang…
Doch als der Alltag Einzug hielt, und Matt öfter geschäftlich für die Firma unterwegs war, begann sie sich unmerklich zurückzuziehen, sie wurde schweigsam und verschlossen, unternahm stundenlange Spaziergänge allein am Strand oder schloss sich in ihrem Atelier ein und wollte nicht gestört werden. Heute war ihm klar, dass sie viel mehr unter der Einsamkeit gelitten hatte, als er je geahnt hätte.
Er erinnerte sich genau, wie oft sie zu Beginn ihrer Beziehung davon geträumt hatten, etwas später eine Familie zu gründen, doch als er sie später darauf ansprach, meinte sie nur, sie sei noch nicht bereit dafür, ein Kind großzuziehen.
Irgendwann während dieser schwierigen Zeit war Mason in Sunset City aufgetaucht. Er hatte Marina mit seinem Charme geradezu überrollt und schließlich dazu gebracht, einfach mit ihm durchzubrennen. Sie folgte ihm blind, in der Hoffnung, bei ihm die Liebe und Geborgenheit zu finden, die Matt ihr aus Zeitgründen nicht ausreichend zu geben vermochte.
Mason jedoch verfolgte ganz andere Ziele. Marina war nichts weiter gewesen als eine weitere schöne Trophäe in seinem nahezu krankhaften Wahn, seinem Bruder zu schaden und ihm wehzutun.
Matt atmete tief durch. Die Vergangenheit machte ihm immer noch zu schaffen, mehr, als er sich selbst eingestehen wollte.
Oben in Marinas Atelier hatte er Wochen nach ihrem Verschwinden ihr Tagebuch gefunden.
Das war der Augenblick, in dem seine ganze Welt über ihm zusammengebrochen war.
Er hatte seinen unbändigen Frust an diesem kleinen Zimmer ausgelassen, und als er damit fertig war, erinnerte nichts mehr an seine verlorene Frau. Wirklich besser ging es ihm danach zwar nicht, aber es war das Symbol für einen endgültigen Schlussstrich unter einen Abschnitt seines Lebens.
Über zwei Jahre lang hatte er sich vor einem neuen Glück verschlossen. Die Enttäuschung saß einfach zu tief.
Und nun?
Danielle war in sein Leben getreten, diese wundervolle lebenslustige junge Frau mit den bernsteinfarbenen Augen und dem bezauberndsten Lächeln der Welt. Und plötzlich war die Welt um ihn herum nicht mehr grau und trostlos. Irgendetwas war auf diesem Flug zwischen Himmel und Erde mit ihm geschehen.
Matt lächelte in Erinnerung daran.
Er hatte sie in diesem Flugzeug gesehen und alles an ihr hatte ihn fasziniert. Und auch, wenn er sich damals noch gegen eine neue Liebe sträubte, so hatte er doch tief in seinem Inneren bereits geahnt, dass diese Frau sein Leben verändern würde.
Mit dem Gedanken an sie und ihre gemeinsame Zukunft schlief er schließlich ein.
*
Als man Claudia in die Klinik brachte, wich Stefano nicht von ihrer Seite, bis er davon überzeugt war, dass sie bestmögliche Hilfe bekam. Er hielt ihre Hand und ließ sie erst los, als der behandelnde Arzt ihm unmissverständlich zu verstehen gab, er möge zum Wohle der Patientin endlich draußen warten.
Einen Augenblick stand Stefano unschlüssig auf dem Klinikgang, dann drehte er sich um und ging zu Carolines Krankenzimmer.
Leise klopfte er an die Tür und trat ein.
Sie war munter und sah ihm erwartungsvoll entgegen.
„Habt ihr noch jemanden dort unten gefunden?“, fragte sie gespannt.
Stefano nickte mit zusammengepressten Lippen. Jetzt erst fiel die ganze Anspannung von ihm ab, die ihn die ganze Nacht hindurch beherrscht hatte. Seine Kehle wurde eng, und seine Augen brannten von den aufsteigenden Tränen, die er mühsam herunterwürgte. Statt einer Antwort trat er an Carolines Bett und umarmte sie herzlich.
„Danke Cary... du hast Claudia das Leben gerettet“, flüsterte er. „Das werde ich dir nie vergessen.“
„Es war… Claudia?“ Caroline löste sich erstaunt aus seiner Umarmung. „Deine Schwägerin war dort unten? Sag schon, ist alles in Ordnung mit ihr?“
Er stöhnt nur schmerzlich auf und nickte heftig.
Caroline klopfte auf die Bettkante.
„Setz dich zu mir!“ Sie sah in seine Augen und wusste plötzlich Bescheid.
„Du liebst sie, habe ich Recht?“
Stefano blickte fast erschrocken hoch.
„Cary, ich...“
„Du brauchst nichts zu sagen“, unterbrach sie ihn mit sanfter Stimme. „Wir beide kennen uns schon ziemlich lange. Ich habe früher als Kind immer zu dir aufgeschaut und dich heimlich bewundert. Stefano, der coole Typ von der Polizei-Akademie, der sich vor nichts und niemand fürchtet.“ Sie lächelte. „Ich bin inzwischen kein Kind mehr. Ich brauche nur in dein Gesicht zu sehen, dann weiß ich, was du für Claudia empfindest. Aber sie ist mit deinem Bruder verheiratet.“
„Nicht mehr. Sie haben sich gestern scheiden lassen.“
„Warum?“
„Das ist eine lange Geschichte, Cary. Ich erzähle sie dir, wenn es dir wieder bessergeht. Aber im Moment brauchst du noch genauso viel Ruhe wie Claudia. Ich wollte nur vorbeikommen und dir danken. Ohne dich wäre sie da unten qualvoll erstickt.“ Er stand auf und griff nach ihrer Hand. „Du hast recht.“ sagte er plötzlich. „Ich habe mich in Claudia verliebt. Ich habe nur bisher nicht gewagt, es mir selbst einzugestehen.“ Nachdenklich sah er sie an. „Du bist wirklich nicht mehr nur Edwards kleines Töchterlein. Du bist eine kluge junge Frau.“
Caroline zwinkerte ihm zu.
„Dazu muss man nicht besonders klug sein. Nenn es einfach weibliche Intuition. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich selbst im Moment verliebt bin.“
„Wer ist er Glückspilz?“
„Sorry, aber ich möchte noch nicht darüber reden, es ist alles noch so… neu.“
Er nickte verständnisvoll, küsste sie freundschaftlich auf die Wange und stand auf. Sie sah ihm nach, wie er zur Tür ging.
„Und keine Sorge, Stefano, Dein kleines Geheimnis ist bei mir sicher.“
*
Cynthia erwachte und blinzelte einen Moment lang orientierungslos in den Raum.
Dann richtete sie sich auf und bemerkte, dass der Platz neben ihr leer war.
Sie atmete tief durch und fuhr sich mit den Fingern durch ihr zerzaustes dunkles Haar, während die Enttäuschung darüber, dass sie hier allein erwachte, wie ein Feuer in ihrem Inneren zu schwelen begann.
Mason... Er war hier gewesen, letzte Nacht. Endlich, die Erfüllung ihrer geheimsten Wünsche und Sehnsüchte.
Er war einfach aus dem Dunkel aufgetaucht, wie so oft in ihren Träumen und hatte sie wachgeküsst, während seine Hände gierig und besitzergreifend ihren Körper erkundeten. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie bei dem bloßen Gedanken daran, wie seine Finger ihre Haut liebkost und jeden Zentimeter davon berührt hatten, während seine hungrigen Lippen ihren Mund suchten und ihr voller Verlangen den Atem nahmen.
Cynthia war absolut nicht prüde, aber wenn sie daran zurückdachte, schoss ihr nachträglich das Blut in die Wangen. Sie hatten beide kein Wort gesprochen, ihr gegenseitiges Verlangen sprach eine eigene Sprache und bedurfte keiner Frage. Sie liebten sich wild und leidenschaftlich und brachen in dieser Nacht alle Tabus.
Nein, er war kein zärtlicher Liebhaber. Er war gierig und fordernd und hatte sie einfach genommen, als ob sie ihm schon immer gehörte. Doch anstatt sich dagegen zu wehren, gab sie sich ihm hin, bedingungslos und ohne Vorbehalt. Ihr Gefühl hatte jegliche Vernunft ausgeschaltet. Sie ließ sich willenlos treiben in einem alles verzehrenden Strudel aus purem Verlangen.
So etwas war ihr noch nie passiert. Für einige Momente des absoluten Glücks gab es nur sie und ihn in einem zeitlosen Raum.
Umso schmerzlicher empfand sie die Tatsache, dass er nun einfach verschwunden war. Wie gerne wäre sie in seinen Armen aufgewacht!
Aber vielleicht war so etwas von Mason nicht zu erwarten. Allem Anschein nach vermochte er seine Leidenschaft für eine Frau nur in ganz bestimmten Augenblicken zu zeigen. Beispielsweise nachts, in einem dunklen Hotelzimmer.
Cynthia sprang aus dem Bett und nahm eine heiße Dusche. Während die Wassertropfen auf ihrer samtweichen Haut abperlten, spürte sie wieder Masons Hände, als wäre er noch immer da. Sehnsuchtsvoll schloss sie die Augen und überließ sich einen Augenblick lang dieser Illusion.
Das Läuten des Telefons holte sie abrupt aus ihrem Tagtraum.
Hastig drehte sie das Wasser ab und wickelte sich in das große Frotteetuch, bevor sie den Hörer abnahm.
„Ja bitte?“
„Cynthia?“
Sie lächelte. Seine Stimme...
Sicher würde er ihr gleich sagen, wie toll er die Nacht mit ihr fand, und vielleicht würde er sie voller Verlangen um eine weitere bitten.
„Ja Mason, ich bin hier“, sagte sie verheißungsvoll.
„Dann erwarte ich Sie in fünf Minuten zu einer geschäftlichen Besprechung in meinem Zimmer.“
Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Cynthia starrte fassungslos auf das Telefon in ihrer Hand. Er hatte sie tatsächlich gesiezt... nach dieser Nacht! Seine Stimme war wie ein kalter Guss und ernüchterte sie schlagartig.
Zutiefst verletzt und verunsichert verschwand sie erneut im Badezimmer, um sich wie gewohnt zurechtzumachen.
*
Anni sah zum wiederholten Mal auf die Uhr. Verdammt, schon so spät? Alex wollte sie doch pünktlich um elf zum Lunch abholen!
„Na Süße, wo drückt denn der Schuh?“, grinste Tante Cloe, die eben von der Veranda ins Zimmer trat. „Du starrst die Wanduhr an, als wolltest du sie dazu bringen, rückwärts zu laufen.“
„Männer“, knurrte Anni gereizt. „Warum können die niemals pünktlich sein!“
„Ich nehme an, hinter dem Sammelbegriff Männer verbirgt sich dieser junge, absolut gutaussehende, knackige Archäologe. Wie heißt er doch gleich?“
„Alex.“
„Ah ja, Alex. Den solltest du dir warmhalten, meine Liebe, der hat einen soliden Beruf, verdient gutes Geld und sieht dabei absolut sexy aus. Alles zusammen findet man heutzutage äußerst selten. Meistens haben die Reichen irgendeine Macke, die Gutaussehenden wiederum haben keinen Cent in der Tasche“, erklärte Cloe augenzwinkernd und arbeitete dabei unbeirrt weiter mit Hingabe an ihrer Maniküre.
Anni musterte ihre Tante genervt.
„Ich wette, du weißt, wovon du redest“, stichelte sie, doch Cloe schien das nicht im Geringsten zu stören. Sie war eine durch und durch unerschütterliche Frohnatur, die so schnell nichts und niemand aus der Fassung bringen konnte.
„Natürlich Schätzchen. Hin und wieder gibt es sicher Ausnahmen, man muss sie nur zu finden wissen.“
„Und man muss sie halten können“, versetzte Anni ihrer Tante einen boshaften Seitenhieb in Bezug auf deren in letzter Zeit ziemlich häufig wechselnde Bekanntschaften. Cloe zog nur leicht missbilligend die Augenbrauen hoch.
„Annabel, das war nicht nett!“
„Okay, tut mir leid, war nicht so gemeint“, lenkte Anni widerwillig ein. „Ich kann es nur nicht ausstehen, wenn mich ein Kerl versetzt. Noch dazu, wenn mir der Magen knurrt.“ Sie blickte erneut ungeduldig auf die Uhr. „Wir wollten zum Lunch in den YACHT CLUB. Bereits vor einer Viertelstunde!“
„Meine Güte, die paar Minuten“, lachte Cloe. „Der Mann arbeitet hart, da kann es schon mal vorkommen, dass er sich ein wenig verspätet! Warum gehst du nicht einfach vor, und wenn du ihn nicht ohnehin unterwegs triffst, schicke ich ihn in den Club, sobald er hier auftaucht.“
Anni seufzte ergeben und griff nach ihrer winzigen Handtasche.
„Gute Idee. Wenn er mir nicht versprochen hätte, den Lunch zu bezahlen, wäre ich ohnehin schon weg.“
„So schlimm steht es um deine Finanzen?“
„Unsere Finanzen, Tante Cloe“, verbesserte Anni bedeutungsvoll. „Du solltest dir besser auch jemanden suchen, der dir dein Mittagessen bezahlt.“
Damit rauschte sie im knappen, roten Minikleid hinaus.
Nachdenklich blieb Cloe stehen und starrte auf die Tür, die lautstark hinter ihrer Nichte ins Schloss fiel. Ja, um die familiären Finanzen war es momentan wirklich nicht allzu günstig bestellt. Nur gut, dass sie selbst sich in den letzten Jahren ein paar kleine Reserven beiseitegeschafft hatte, von denen weder Anni, noch ihr nichtsnutziger Bruder Wes – Gott hab ihn selig – jemals erfahren hatten. Für ein Leben in etwas bescheideneren Verhältnissen würde es schlimmstenfalls allemal reichen.
Cloe lächelte. Aber noch war nicht aller Tage Abend…
*
Cynthia straffte die Schultern und klopfte energisch an Masons Hotelzimmertür. Sie hatte sich nach seinem Anruf absichtlich mit ihrer Morgentoilette Zeit gelassen, und das Ergebnis war überaus passabel. Sie sah mit ihrem locker aufgesteckten Haar und dem burgunderfarbenen Hosenanzug schlichtweg hinreißend aus. Ihr Selbstbewusstsein allerdings blieb heute etwas auf der Strecke, obwohl sie fest geschlossen war, sich das keinesfalls anmerken zu lassen.
Kein Mann durfte sie so behandeln, auch nicht Mason Castillo!
Sie trat ein und schloss die Tür.
Mason stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster.
„Warum hat das so lange gedauert?“, fragte er ungeduldig und drehte sich um. Cynthia schluckte. War das der Mann, mit dem sie vor ein paar Stunden die wohl bisher intensivste und wildeste Liebesnacht ihres Lebens verbracht hatte?
Sie straffte trotzig die Schultern und setzte sich unaufgefordert in einen der Sessel. Lässig schlug sie die langen Beine übereinander und musterte ihn herausfordernd.
„Sie wollten etwas mit mir besprechen?“
Mason blieb dicht vor ihr stehen und durchbohrte sie mit einem finsteren Blick, der alles bedeuten konnte. Es fiel Cynthia schwer, seinen unergründlich dunklen Augen standzuhalten, aber sie schaffte es dennoch.
Nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, wandte Mason sich ab und griff nach einem Umschlag, der auf dem Tisch lag. Er öffnete ihn und reichte Cynthia drei Fotos.
„Es ist Zeit, dass wir unseren Plan in die Tat umsetzen. Es geht um diese Frau. Name und Adresse steht hinten auf den Fotos. Sie wissen, was Sie zu tun haben, Cynthia?“
Sie nickte und betrachtete die Fotos interessiert. Die Frau darauf war eine exotische Schönheit, grüne Augen, volle sinnliche Lippen, und ihr Haar war von einem derart intensiven Rot, dass Cynthia sich unwillkürlich fragte, ob es wohl echt war, oder ob die Dame eventuell der Natur etwas nachgeholfen hatte.
„Sie werden mit ihr ins Gespräch kommen und sie kennenlernen. Wie und wo, das überlasse ich Ihnen. Sie sind doch ein cleveres Mädchen.“ Mason lächelte selbstgefällig. „Joanna jedenfalls hat regelrecht geschwärmt von Ihren Fähigkeiten.“
Cynthia starrte ihn überrascht an. Warum brachte dieser Mistkerl ausgerechnet jetzt Joanna Castillo ins Spiel?
Sie nahm all ihre übrig gebliebene Selbstachtung zusammen und setzte ebenfalls ein einigermaßen überlegenes Lächeln auf.
„Natürlich. Joanna hat meine Fähigkeiten immer sehr zu schätzen gewusst.“
„Oh... Ich weiß Ihre Fähigkeiten durchaus ebenso zu schätzen, meine Liebe“, erwiderte Mason, und sie vermeinte einen deutlich sarkastischen Unterton aus seinen Worten herauszuhören. „Deshalb nehme ich an, dass ich Ihnen unseren Plan nicht noch einmal erklären muss.“
„Nein.“ Cynthia griff nach dem Umschlag mit den Fotos und erhob sich. „Ich weiß, was zu tun ist. Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen, Mason.“
„Das tue ich.“ Er trat zur Seite und gab ihr den Weg frei.
Sie war schon fast an der Tür, als er sich plötzlich räusperte.
„Ach, Cynthia...“
Immer noch leicht verärgert drehte sie sich um und entdeckte zu ihrem Erstaunen, dass er lächelte. „Was letzte Nacht betrifft...“ Er spitzte die Lippen, legte zwei Finger auf seinen Mund und warf ihr eine Kusshand zu. „Wir beide sind ein sehr gutes Team.“
Sie stutzte und glaubte für einen Moment sich verhört zu haben, doch ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr, dass es nicht so war. Überrascht und verunsichert nickte sie nur kurz und verließ ohne ein weiteres Wort eilig den Raum.
Mason wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann verwandelte sich sein verführerisches Lächeln in ein teuflisches Grinsen.
„Soweit dazu. Und nun zu Plan B... zu dir, kleine Danielle!“
*
Anni betrat den YACHT CLUB und blickte sich suchend um.
Das Nobel- Restaurant gleich neben dem PACIFIC INN war zu dieser Tageszeit sehr gut besucht, und Anni konnte auf den ersten Blick weder Alex, noch einen für sie akzeptablen, freien Tisch entdecken.
Einige der Gäste erhoben sich jedoch gerade um zu gehen, und Anni stellte mit Genugtuung fest, dass es sich bei den freiwerdenden Plätzen um einen ihrer Lieblingstische handelte. Zielstrebig ging sie darauf zu, ohne auf den Kellner zu achten, zu dessen Aufgaben es gehörte, die Gäste entsprechend vornehm einzuweisen. Sie warf ihre Handtasche unsanft auf das blütenweiße Tischtuch und setzte sich, als neben ihr ein diskretes Räuspern erklang. Sie schaute hoch und bemerkte Gaston, den Chefkellner, der sich mit missbilligender Miene neben ihrem Tisch aufgebaut hatte.
„Miss Parker“, begrüßte er sie mit Eiseskälte in der Stimme, was Anni überhaupt nicht zu stören schien.
„Gaston“, erwiderte sie selbstbewusst. „Würden Sie bitte dafür sorgen, dass man mir eine Speisekarte bringt?“
Der Maître rührte sich nicht von der Stelle.
„Mademoiselle belieben hier zu speisen?“, säuselte er streng.
Anni blickte verärgert auf.
„Also zum Bridge spielen bin ich bestimmt nicht hier. Nun machen Sie schon, ich habe Hunger.“
Gaston zog missbilligend die Augenbrauen hoch.
„Es tut mir leid, das sagen zu müssen, Miss Parker, aber Ihr Kredit in unserem Etablissement ist bereits um ein Vielfaches überzogen, und unser Haus ist nicht länger gewillt, Ihnen daraufhin...“
„Wovon reden Sie hier eigentlich?“, fuhr ihn Anni ungehalten an. „Wollen Sie mir zu verstehen geben, dass ich bei Ihnen keinen Lunch bekomme, oder was?“
„Nun, ich fürchte, so ist es“, erwiderte er so diskret wie möglich, was gar nicht so einfach war, denn durch Annis ungehaltene Stimme blickten bereits einige Gäste zu ihnen herüber.
„Sie fürchten?“, knurrte Anni angriffslustig und klopfte dabei drohend mit der Salatgabel im Takt auf den Tisch. „Das klingt mir ehrlich gesagt vielmehr so, als würden Sie sich darüber freuen!“
„Miss Parker“, sagte Gaston mit schier unerschütterlicher Ruhe und Vornehmheit. „Wenn Sie mir vorweisen, dass Sie finanziell in der Lage sind, die heutige Mahlzeit zu bezahlen, dann können wir diese kompromittierende Unterhaltung sofort beenden.“
„Ich soll... was? Das ist ja wohl die Höhe!“ Anni knallte die Gabel auf die Tischplatte, beugte sich leicht vor und blitzte ihn wütend an. „Hören Sie mal gut zu, Sie Witzfigur, ich bin eingeladen worden, und wenn Sie nicht wollen, dass mein Begleiter, der jeden Augenblick hier erscheinen wird, Sie für diese Frechheit gleich als Salatbeilage serviert, dann bringen Sie mir jetzt die verdammte Speisekarte!“ „Bedaure. Nein“, erwiderte Gaston völlig unbeeindruckt.
Anni stutzte.
„Nein?“, wiederholte sie fassungslos und registrierte ein eindeutiges Kopfschütteln, das sie irritierte. Normalerweise verfehlten ihre berüchtigten Verbalattacken so gut wie nie ihre Wirkung. Gaston jedoch schien ein härterer Brocken zu sein als zunächst angenommen.
„Na gut.“ Anni lehnte sich zurück und verschränkte provozierend die Arme vor der Brust. „Weil wir beide uns schon einige Zeit kennen, werde ich dieses Mal großzügig sein und von einer Beschwerde absehen. Von mir aus buchen Sie meine Rechnung heute vom Geschäftskonto der H&S Enterprises ab.“
„Das darf ich ohne Absprache mit Ihren beiden Teilhabern nicht tun“, erwiderte Gaston mit einer unerschütterlichen Geduld, die Anni allerdings langsam aber sicher auf die Palme brachte.
„Das dürfen Sie nicht tun?“, äffte sie ihn ungehalten nach und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Ich würde vorschlagen, Sie bewegen Ihren Allerwertesten zum Telefon und rufen Mr. Shelton oder Mr. Hamilton an!“
„Ich bin nicht befugt, Mr. Shelton oder Mr. Hamilton wegen solcher... Banalitäten bei der Arbeit zu stören, Miss Parker.“
Anni kochte.
„Banali... Verdammt nochmal, mir knurrt der Magen und wenn ich nicht sofort meinen Lunch bei ihnen bekomme, dann können Sie ab morgen Teller abwaschen, denn dann verklage ich Ihren dämlichen Imbiss, das Ihnen Hören und Sehen vergeht!“
Gaston rang sich ein müdes Lächeln ab.
„Nur zu, Miss Parker.“ Er wies mit einer Hand zum Ausgang. „Wenn ich Sie jetzt höflichst bitten dürfte, ohne weiteres Aufsehen...“
Anni sah ihre Felle davon schwimmen. Wütend griff sie nach ihrer Handtasche, als sie bemerkte, dass die elegante junge Dame am Nebentisch die ganze Zeit interessiert herüberblickte.
„Was glotzen Sie denn so?“, fauchte sie ungehalten. „Macht es Ihnen Freude, sich am Unglück anderer Leute zu weiden?“
Die Dame erhob sich lächelnd und kam zu ihr herüber.
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte keinesfalls aufdringlich erscheinen, aber ich habe Ihr kleines... Gespräch soeben mit angehört.“
„Wer hat das nicht“, ließ sich Gaston mit verhaltener Stimme vernehmen. Er sah sich peinlich berührt um und wartete noch immer, dass Anni endlich das Feld räumte. Die unbekannte junge Dame gab ihm diskret ein Zeichen.
„Bitte bringen Sie die Speisekarte an meinen Tisch.“ Sie wandte sich an Anni. „Darf ich Sie bitten sich zu mir zu setzen und sich als mein Gast zu betrachten?“
„Wieso? Kennen wir uns?“, fragte Anni misstrauisch.
„Nein, ich glaube nicht. Aber ich war kürzlich in einer ähnlichen Situation wie Sie, und deshalb kann ich recht gut nachvollziehen, wie man sich fühlt, wenn man abgewiesen wird. Außerdem bin ich neu in der Stadt und speise nicht gern allein. Also bitte...“ Sie wies auf den freien Platz an ihrem Tisch. „Machen Sie mir die Freude.“
Normalerweise hätte Anni stolz abgelehnt, aber ihr Magen zog sich eben schmerzlich zusammen und signalisierte ihr unmissverständlich, dass er jetzt und hier eine Mahlzeit forderte. Ihre Wut auf Alex war grenzenlos. Sie würde ihn dafür lynchen, dass er sie so schändlich versetzt hatte.
Mit einem triumphierenden Blick auf Gaston folgte sie der Dame an deren Tisch. Bevor sie sich setzte, fiel ihr glücklicherweise noch eine Anstandsregel ein, die ihr vor langer Zeit mal irgendwer beigebracht hatte. Sie streckte spontan die Hand aus.
„Hi, ich bin Annabel Parker.“
Die Dame lächelte, und ihr Händedruck war kühl und fest.
„Cynthia Rodriges. Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Annabel!“
*
Sobald er es verantworten konnte, eine Pause einzulegen, setzte sich Alex in seinen Jeep und fuhr zum Krankenhaus, um nach Claudia zu sehen.
Sie war noch immer nicht wach. Stefano saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand, und es schien fast so, als habe er sich seit heute Morgen noch keinen Zentimeter von hier wegbewegt. Blass und übernächtigt blickte er Alex entgegen, als dieser das Zimmer betrat.
„Sie schläft“, sagte er leise und nickte, als müsse er sich selber davon überzeugen. „Sie schläft sich gesund.“
Alex legte ihm seine Hand auf die Schulter.
„Dasselbe sollten Sie auch tun. Es nützt Claudia überhaupt nichts, wenn Sie sich hier herumquälen.“
„Ich habe mir freigenommen“, erwiderte Stefano. „Ich möchte bei ihr sein, wenn sie aufwacht. Sie hat so viel durchgemacht.“
„Was sagen die Ärzte?“
„Sie hat Quetschungen an den Beinen und im Rücken, und sie wissen noch nicht genau, ob im Bereich der Lendenwirbel durch das herabfallende Gestein Nerven verletzt wurden. Sie werden so bald wie möglich ein MRT machen, aber dazu muss Claudia erst wieder wach sein. Dr. Mendes meinte, sie hat eine Verletzung am Hinterkopf, die eventuell ein leichtes Schädeltrauma verursacht hat, und Schlaf sei jetzt die beste Medizin, um sich davon zu erholen. Er hat ihr etwas gegeben, damit sie weiterschläft.“
„Dann ist sie gar nicht bewusstlos?“, fragte Alex erleichtert.
„Nein, ich sage doch, sie schläft nur.“
Alex sah auf die Uhr.
„Okay, in der nächsten Stunde bin ich auf unserer Baustelle abkömmlich. Ich werde also hierbleiben und auf Claudia aufpassen, während Sie nach Hause fahren, sich duschen, rasieren und umziehen. Sie wollen doch bestimmt nicht in diesen schmutzigen Klamotten dahocken, wenn sie aufwacht.“
Stefano blickte an sich herunter, musterte selbstkritisch sein durchgeschwitztes, von der Rettungsaktion im OCEAN beschmutztes und zerknitterte Hemd, und fuhr sich mit der Hand über sein unrasiertes Stoppelkinn. Alex hatte Recht. Er musste fürchterlich aussehen. Sogar seine Jeans und sogar sein dunkles Haar waren noch immer voller Staub.
Eine Dusche wäre wirklich angebracht.
„Ich komme sofort zurück“, meinte er und klopfte dem jungen Archäologen dankbar auf die Schulter, bevor er leise das Krankenzimmer verließ.
Alex setzte sich an den Bettrand und sah nachdenklich in Claudias blasses Gesicht. Sie wirkte so zart und zerbrechlich, und war doch eine unglaublich starke Frau, voller Energie, dass sich mancher Mann ein Beispiel an ihr nehmen konnte. Er selbst arbeitete gern mit ihr zusammen. Nur in den letzten Tagen vor dem Unglück war sie still und in sich gekehrt gewesen. Er hatte sie gefragt, was denn los sei, und sie hatte ihm anvertraut, wie es um ihre Ehe mit Manuel bestellt war, und dass seine Familie sie ablehnte.
Eigenartig, es kam ihm nicht so vor, als ob Stefano voreingenommen gegen Claudia war, ganz im Gegenteil. So, wie er ihn heute Nacht erlebt hatte, und wie er sich um sie sorgte, würde er fast vermuten, dass Stefano Claudia mehr als nur gerne mochte. Genauso wie es ihm mit Anni ging...
A-N-N-I !
Er hatte total vergessen, dass er zum Lunch mit ihr verabredet gewesen war!
Alex blickte auf die Uhr. Es war bereits weit über die Zeit! Er kannte sie inzwischen gut genug um zu wissen, dass sie im YACHT CLUB hocken und vor Wut schäumen würde.
Leise verließ er das Zimmer, um draußen kurz zu telefonieren. Er wählte Annis Handynummer und musste erfahren, dass dieser Anschluss gesperrt war.
Bingo!
Also versuchte er es im Restaurant.
„YACHT CLUB Sunset City, Gaston am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“
„Könnten Sie mir bitte sagen, ob sich unter Ihren derzeitigen Gästen momentan eine Miss Parker befindet?“, fragte er höflich.
„Oh ja“, lautete die vielsagende Antwort. „Möchten Sie sie sprechen, Sir?“
„Wenn das möglich wäre, gerne.“
„Einen Augenblick.“
Alex lauschte, während der Chefkellner mit dem Telefon in der Hand hinausging, und vernahm aus weiter Ferne die leisen Stimmen der Gäste. Dann hörte er Gastons leicht säuselnde Stimme:
„Miss Parker?“
„Sie schon wieder! Was zum Teufel wollen Sie?“
„Ein Anruf für Sie.“
„Geben Sie schon her! ... Hallo, wer ist da?“
Alex holte tief Luft.
„Annabel Schätzchen, es tut mir leid, aber aus unserem Lunch wird heute nichts. Ich bin aufgehalten worden, und momentan...“
„Alex?“, unterbrach sie ihn in barschem Ton.
„Ja Baby?“
„Du kannst mich mal!“
*
Mason ließ den Mietwagen mit den abgetönten Scheiben langsam ausrollen und stellte den Motor ab. In seiner Verkleidung saß er da und beobachtete eine Weile das Haus, hinter dem er geparkt hatte.
Er wusste, dass Mitch seit heute Morgen in der Flughalle der HSE beschäftigt war. Luke und Randy gingen ihrem Job nach. Nur diese Ärztin, Dr. Yamada, sah er durch das geöffnete Fenster in der Küche herumwerkeln.
Verdammt, musste die nicht irgendwann zum Dienst?
Gegen Mittag wurde sein Warten belohnt. Suki Yamada verließ mit ihrer Umhängetasche das Haus. Fast zur gleichen Zeit kamen Danielle und eine ihm unbekannte junge Frau munter schwatzend die Straße heraufgebummelt. Kurz darauf verschwanden sie im Haus.
Mason sah auf seinen Notizzettel. Da wäre dann noch Dean, der Wirt vom OCEANS. Aber egal, ob dieser sich momentan im Haus befand oder nicht, er stellte keine Gefahr für seinen Plan dar.
Er wartete noch eine Viertelstunde, dann nahm er die Perücke ab, entledigte sich des Bartes und der lästigen Kontaktlinsen und zog sein dunkles Jackett an. Prüfend warf er einen letzten Blick in den Innenspiegel des Wagens.
Perfekt! Genauso hatte sein Zwilling ausgesehen, als er heute Morgen ins Büro gegangen war. Helles Hemd und dunkler Anzug...
Mason fuhr ein Stück die Straße hinunter und parkte den Wagen drei Häuser weiter.
Dann stieg er aus und sah sich um. Die Straße lag menschenleer vor ihm.
Zufrieden lächelnd strich er seine Jacke glatt und setzte ein verbindliches Lächeln auf, während er zielstrebig auf den Eingang des sonnengelben Hauses zuging.