Wie vereinbart hatte sich Eden mit Matt pünktlich am nächsten Vormittag in dessen Büro getroffen und den Verkauf des OCEANS mit ihrer Unterschrift besiegelt. Sie nahm den Scheck von Matt entgegen und warf einen flüchtigen Blick darauf.
„Ich hoffe, er ist gedeckt, damit ich nicht noch eine weitere böse Überraschung erlebe“, meinte sie sarkastisch, während sie sich erhob und ihren maßgeschneiderten, fliederfarbenen Kostümrock glattstrich.
Matt lächelte nachsichtig.
„Natürlich ist er gedeckt. Möchten Sie meine Bank anrufen, um sich zu vergewissern?“
„Nicht nötig“, erwiderte Eden und ließ das wertvolle Papier rasch in ihrer Gucci-Handtasche verschwinden.
„Viel Glück mit dem baufälligen Etablissement. Werden Sie es abreißen lassen?“
„Ich weiß noch nicht genau“, erwiderte Matt und begleitete seinen Gast zur Tür. „Ich werde erst einmal das Gutachten abwarten und dann die Kosten zur notwendigen Rekonstruktion überschlagen. Vielleicht finde ich danach sogar einen neuen Käufer.“
„Einen neuen Käufer?“ Eden lachte abfällig. „Wohl kaum! Ich vermute, ich bin die Einzige hier, die auf diese Mogelpackung hereingefallen ist. Und das ist mir auch nur passiert, weil ich nicht von hier bin, und mir keiner gesagt hat, dass das OCEANS in Wahrheit nichts als ein baufälliger Haufen Schutt ist, der jeden Moment zusammenstürzen könnte.“
„Was werden Sie jetzt tun?“, fragte Matt, um vom Thema abzulenken. „Gehen Sie zurück nach Vegas?“
„Vorerst ja“, nickte sie zögernd. „Ich bin schließlich dort zu Hause.“
„Sprachen Sie nicht gestern von einer anderen lukrativen Investition?“
„Ähm... ja. Ich werde Ihr Geld ganz sicher gewinnbringend anlegen.“
Matt lächelte.
„Daran habe ich keinen Zweifel“, erwiderte er charmant und reichte ihr die Hand. „Viel Glück, Eden.“
Eine halbe Stunde, nachdem Eden Hollister die Firma verlassen hatte, meldete Ronda die nächsten Besucher an.
Mit hoffnungsvollem Lächeln trat Dean ins Büro, gefolgt von Caroline, die Matt mit einer herzlichen Umarmung begrüßte.
„Wir kommen eben von der Bank“, verkündete sie frohgelaunt und zog einen Umschlag aus ihrer Tasche. „Hier ist das Geld.“
Matt betätigte den Knopf der Wechselsprechanlage und bat seine persönliche Assistentin um den vorbereiteten Kaufvertrag für das OCEANS. Als besagtes Schriftstück wenig später vor ihm lag, reichte er Dean einen Stift.
„Ihr beide müsst nur noch unterschreiben, dann ist alles perfekt.“
„Und das war`s?“, fragte Caroline ungläubig, kaum dass sie ihre Unterschrift unter das Dokument gesetzt hatte. „Wir sind diese Hexe wirklich ein für alle Mal los?“
„Sieht ganz so aus“, grinste Matt zufrieden. „Ich gratuliere euch beiden. Ihr seid ab sofort wieder die rechtmäßigen Besitzer des OCEANS.“
„Danke, mein Freund“, erwiderte Dean und schüttelte ihm freudig die Hand. „Ich weiß wirklich sehr zu schätzen, was du in der letzten Zeit für mich und Caroline getan hast. Wir werden dir beide immer dafür dankbar sein. Und heute Abend seid ihr natürlich alle unsere Gäste. Du, Danielle und alle, die dabei geholfen haben, Eden Hollister aus Sunset City zu vertreiben!“
*
Gemeinsam mit Michael Donovan fuhr Matt am Nachmittag nach Long Beach ins Untersuchungsgefängnis, wo Edward Hamilton auf seinen Prozess wartete. Geduldig ließen sie die notwendigen Formalitäten über sich ergehen, bevor man sie als Besucher anmeldete.
Der Inhaftierte zeigte sich überrascht, die beiden Männer hier zu sehen. Noch mehr allerdings erstaunte ihn der Grund ihres Besuches.
Nachdem sich Andrew Hamilton zu seiner eigenen Sicherheit, und nicht zuletzt, um seinen guten Ruf zu wahren, offen von dem Fall seines Bruders distanziert hatte, bot Michael Edward seine Hilfe an. Er und Matt hatten am Vormittag ausführlich über die Sache diskutiert und waren zu dem Schluss gekommen, dass diese Hilfeleistung als eine Art Ehrenkodex dafür zu betrachten sei, dass Edward für lange Zeit Matts Geschäftspartner und Mentor gewesen war, der ihm von Beginn seiner Karriere an geholfen und von dem er trotz allem eine Menge gelernt hatte. Über eines war sich Matt jedoch im Klaren: Nach der Verhandlung würden sich ihre Wege für immer trennen, dann war er Edward nichts mehr schuldig.
Bisher hatte der Angeklagte zu allem, was ihm zur Last gelegt wurde, eisern geschwiegen. Auf die Frage, ob er einen Anwalt wünsche, hatte er nur geantwortet, er müsse sich nach der Absage seines Bruders erst nach einem geeigneten Rechtsbeistand umhören. Im Grunde war ihm längst klar, dass ihm diesmal das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand. Wer könnte ihn da besser verteidigen als Michael Donovan, der Anwalt, den sein Bruder Andrew selbst ausgebildet hatte, und der inzwischen unbestritten zu den besten Juristen der Westküste zählte. Also nahm er, wenn offensichtlich auch nur widerwillig, dessen Hilfsangebot an.
Die nächste Besucherin an diesem Nachmittag war Sophia. Sie sah müde aus, und ihre geschwollenen Augenränder verrieten, dass sie viel geweint hatte.
Nachdem sich beide in der kurzen Zeit ihrer Flucht aus Sunset Beach wieder nähergekommen waren, tat es ihm weh, seine schöne Frau so verzweifelt zu sehen, und urplötzlich regte sich sein Gewissen.
„Was auch immer ich getan habe, ich habe es stets für unsere Familie getan. Ich wollte dich nicht verletzen. Das wollte ich nie“, sagte er leise und griff nach ihrer Hand. Der anwesende Beamte sah es sofort und räusperte sich warnend. Sophia nickte mit zusammengepressten Lippen.
„Das hast du aber. Wer weiß, was ich noch alles erfahren muss.“ Sie blickte ihn beschwörend an. „Edward, du brauchst so schnell wie möglich einen Strafverteidiger!“
„Schon geschehen“, erwiderte er mürrisch. „Michael Donovan wird meinen Fall übernehmen.“
„Donovan?“ Sophia war ehrlich überrascht, doch nach kurzer Überlegung nickte sie zufrieden. „Dann hast du den besten.“
Er lächelte zynisch.
„Ich dachte immer, Andrew wäre der Beste. Aber mein feiner Herr Bruder hat sich sehr blitzschnell davongemacht, nachdem er erfahren hat, dass mir das Wasser bis zum Hals steht.“
„Was sollte er auch anderes tun, Edward“, verteidigte Sophia ihren Schwager. „Er stand immer hinter dir, ihr beide zusammen seid ein brillantes Team gewesen, solange du selbst die Grenzen einigermaßen eingehalten hast. Doch dieses Mal bist du eindeutig zu weit gegangen.“
„Ach was. In Zeiten wie diesen muss eine Familie einfach zusammenhalten!“
„Wenn der gute Ruf auf dem Spiel steht, ist der Preis zu hoch. Das müsstest du doch am besten wissen.“
Er schnaufte abfällig und massierte seine schmerzenden Schläfen.
„Vorwürfe sind so ziemlich das Letzte, was ich jetzt brauche, Sophia.“
„Ja, ich weiß“, seufzte sie und lächelte müde.
„Warum ist Caroline nicht mitgekommen?“, wechselte er das Thema.
„Gib ihr etwas Zeit, Edward. Sie ist sehr verletzt.“
„Verletzt?“, rief er aufgebracht. „Was denkt sie sich eigentlich? Schließlich bin ich ihretwegen zurückgekommen!“
„Sei still!“, zischte Sophia mit einem Seitenblick auf den anwesenden Vollzugsbeamten. „Denk nach, bevor du anfängst, hier herumzubrüllen.“
Edward wollte etwas erwidern, beherrschte sich jedoch und schluckte die Bemerkung mühsam herunter. Seine Frau hatte Recht, das musste er zugeben. Hier war weder Ort noch Zeit, solche Familienangelegenheiten zu klären.
„Wirst du in der Stadt bleiben?“, fragte er und spürte Furcht in sich aufsteigen, sie könne verneinen. Sie starrte mit verlorenem Blick auf das winzige, vergitterte Fenster an der schmucklosen, grauen Wand und ließ sich mit der Antwort absichtlich Zeit.
„Ich glaube schon“, erwiderte sie nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien. „Ich werde mir unsere übrigen Sachen aus Caracas nachsenden lassen und mir hier irgendwo ein kleines Appartement suchen. Momentan hat mir Matthew eine Suite im SUNSET INN gebucht.“
Edward sah kurz hinüber zu dem Beamten und stellte erleichtert fest, dass dessen momentanes Interesse einem anderen Paar galt, das anscheinend die Finger nicht voneinander lassen konnte. Diskret beugte er sich vor.
„Hör zu, Sophia“, flüsterte er hastig. „Du musst so schnell wie möglich persönlich noch einmal nach Caracas fliegen. Im Safe in unserem Apartment liegt eine rote Mappe mit diversen Papieren, unter anderem von der HSE. Sie darf unter gar keinen Umständen in die falschen Hände kommen. Vernichte sie! Aber vorher rufst du die Telefonnummer an, die ich auf der Deckseite notiert habe. Es ist die Nummer von meiner Bank in der Schweiz. Auf dem Konto ist genug Geld, um gut zu leben. Du bist bevollmächtigt, es abzuheben und kannst dir davon ein nettes Strandhaus kaufen, bis ich irgendwann wieder aus dem Gefängnis komme.“
Sophia starrte ihn sprachlos an. Schließlich jedoch nickte sie mit einem ergebenen Seufzen.
„Und wann wird das sein? Wann, glaubst du, wirst du wieder bei mir sein?“
„Ich habe keine Ahnung.“
*
Danielle kam an diesem Tag gutgelaunt von der Arbeit zurück.
„Ich habe heute meine offizielle Zulassung zum Studium bekommen“, verkündete sie voller Stolz. „In zwei Wochen geht es los. Und nun rate, wo ich mein erstes Praktikum absolviere!“
Matt grinste.
„Mir wäre es ohnehin am liebsten, wenn du dein Praktikum gleich hier machst, bei mir im…“
„Sunset Memorial Hospital!“, vollendete sie den Satz und umarmte ihn stürmisch. „Ist das nicht toll? Und dreimal darfst du raten, wer an der Klinik mein Mentor ist!“
„Also in LA ist O`Malley dein offizieller Mentor. Aber hier? Keine Ahnung, haben wir denn hier auch Ärzte?“
Danielle boxte ihn übermütig in die Seite.
„Lass das bloß Suki nicht hören, sonst verpasst sie dir bei nächster Gelegenheit einen Einlauf.“
„Klingt verlockend“, erwiderte er grinsend, während er spielerisch eine ihrer kastanienbraunen Locken um seinen Finger wickelte. „Ich bin froh, dass du dein Praktikum hier absolvieren kannst. Von Suki wirst du sicher eine Menge lernen. Und außerdem gefällt mir der Gedanke, dass du den ganzen Tag in meiner Nähe bist. Wenn die Sehnsucht mich plagt, werde ich meinen Herzschmerz ausschließlich von der neuen Medizinstudentin behandeln lassen.“
„Ich wusste gar nicht, dass du so mutig bist“, lachte Danielle und küsste ihn.
„Mmh“, murmelte Matt genießerisch und zog sie näher an sich heran. „Falls das schon eine deiner speziellen Behandlungsmethoden sein sollte, dann will ich unbedingt mehr.“
„Sagtest du nicht am Telefon, Dean und Cary hätten uns ins OCEANS eingeladen?“, seufzte sich Danielle atemlos, als er ihre Lippen schließlich wieder freigab. Irritiert blickte er zur Uhr.
„Verdammt, schon so spät!“
„Ich bin, ehrlich gesagt, überhaupt nicht in Partylaune“, gestand Danielle. „Morgen ist Georges Beerdigung.“
„Das tut mir leid, aber ich habe Dean und Caroline versprochen, dass wir vorbeikommen würden. Wir bleiben nicht lange, okay?“
„Schon gut. Ich werde schnell duschen und mich umziehen, dann können wir los.“
„Warte!“
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hob er sie auf seine Arme und trug sie die Treppe hinauf.
„Matt, was hast du vor?“
„Duschen klingt gut“, raunte er. „Ich dachte, ich helfe dir beim Ausziehen, dann geht es schneller!“
Danielle schlang ihre Arme um seinen Hals und warf übermütig den Kopf zurück.
„Schneller, ja? Da bin ich mir nicht so sicher!“
*
Als Marina an diesem Nachmittag im CENTINELA Hospital auftauchte, um nach Mason zu sehen, stellte sie erstaunt fest, dass er eben dabei war, seine persönlichen Sachen zu packen.
„Was tust du denn da?“, fragte sie und blieb an der Türschwelle stehen.
Er hielt inne und blickte auf.
„Es gibt gute Neuigkeiten“, verkündete er seiner überraschten Besucherin lächelnd. „Dr. Pares ist der Überzeugung, ich könnte heute bereits die Klinik verlassen.“
Marina sah ihn an und zog die Stirn kraus.
„So plötzlich?“
Er nickte und griff nach seiner Jacke.
„Komm, lass uns ein Stück gehen. Es dauert noch etwas, bis ich meine Entlassungspapiere bekomme. Danach habe ich mein Abschlussgespräch mit Pares, und der Gips kommt auch ab, bevor man mich endgültig entlässt.“
„Bist du denn wirklich schon so weit, um allein klarzukommen?“, fragte sie zweifelnd. „Immerhin stehst du gewissermaßen vor einem Neuanfang! Das wird alles andere als einfach.“
Er nahm ihren Arm, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt.
„Ich habe mich nach der Operation gut erholt. Die Kopfschmerzen sind fast weg, und die Erinnerungen alle wieder da. Ich für meinen Teil bin bereit für mein neues Leben.“
„Wo... willst du dieses neue Leben beginnen?“, erkundigte sie sich vorsichtig, während sie beide im Aufzug nach unten fuhren.
„Ich würde gern in Sunset City bleiben“, erwiderte er und forschte vergebens nach einer Reaktion in ihrem Gesicht. Sie blickte jedoch scheinbar teilnahmslos geradeaus und gab nichts von ihren Gefühlen preis.
„Wo wirst du wohnen?”
„Vorerst im Hotel.“
„Und wie willst du das bezahlen?“
„Matt wird mir etwas Geld geben. Und er hat mir vorgeschlagen, in seiner Firma zu arbeiten.“
Marina hob erstaunt die Augenbrauen.
„Wirst du sein Angebot annehmen?“
„Ich weiß noch nicht.“
Schweigend verließen sie das Gebäude und liefen nebeneinander her in die angrenzende Parkanlage. Marina schien die ganze Zeit irgendwie abwesend, zumindest ließ ihr angespannter Gesichtsausdruck darauf schließen, dass sie etwas beschäftigte. Irgendwann blieb sie stehen und sah Mason entschlossen an.
„Du kannst dir das Geld für das Hotelzimmer sparen. Bis du eine passende Unterkunft gefunden hast und sie dir deine persönlichen Sachen aus Caracas geschickt haben, kannst du bei mir wohnen.“
Mason glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
„Bei dir?“
Marina lächelte etwas verlegen.
„Nicht bei mir, sondern in meiner Wohnung“, verbesserte sie rasch und errötete. „Ich könnte solange zu meiner Mutter ziehen.“
Mason ging auf sie zu und legte ihr sanft seine Hand auf die Schulter.
„Du brauchst doch meinetwegen nicht auszuziehen. Ich würde dich ganz sicher nicht stören, wenn ich bei dir wohne. Du würdest gar nicht merken, dass ich…“
„Nein!“, unterbrach sie ihn eine Spur zu hastig und trat sofort einen Schritt zurück. „Nein, das wäre nicht gut.“
Sein freudiges Lächeln erstarb augenblicklich und wich einem Ausdruck offensichtlicher Enttäuschung.
„Du traust mir nicht“, stellte er verbittert fest. „Genauso wie Matt, Danielle und alle anderen, die ich kenne. Ich bin inzwischen fast sicher, dass mir keiner von euch jemals wieder über den Weg trauen wird!“
„Nein, so ist das nicht, Mason“, beeilte sie sich zu sagen. „Du musst verstehen, dass…“
„Spar dir die Worte“, unterbrach er sie unwirsch. „Ich sehe doch, was los ist. Was ich in der Vergangenheit getan habe, wird niemand je vergessen oder verzeihen. Am besten für uns alle wäre es, wenn ich für immer aus Sunset City verschwinden würde. Dann müsste sich niemand mehr darüber den Kopf zerbrechen, ob ich meinen Grips wirklich wieder beisammenhabe, und man mir vertrauen kann oder nicht.“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen und ging schnellen Schrittes zurück.
„Mason… warte!“, rief Marina, doch er drehte sich nicht mehr um.
*
„HEUTE GESCHLOSSEN“ stand auf einem Schild an der Eingangstür zum OCEANS. Trotzdem klang bereits seit den frühen Abendstunden fröhliche Discomusik aus der Kellerbar. Dean und Caroline standen hinter der Theke und mixten sichtlich entspannt Drinks für ihre Freunde, die sie heute extra hierher eingeladen hatten.
Es gab gleich mehrere gute Gründe für diese Feier.
Carolines Entführung war zwar nicht ganz unblutig zu Ende gegangen, aber ihr selbst war glücklicherweise nichts geschehen.
Zudem hatten sie Eden Hollister mit vereinten Kräften ausgetrickst und aus der Stadt vertrieben, und waren endlich wieder die rechtmäßigen Eigentümer des OCEANS.
Aber das Wichtigste war die Tatsache, dass sich in der Not wieder einmal gezeigt hatte, wie viele gute Freunde sie hier in Sunset City wirklich hatten.
Da war vor allem Matt, der es gemeinsam mit seinem Freund Michael Donovan geschafft hatte, Edward aufzuspüren, und diesen dann zusammen mit Mitch Capwell aus Caracas zurückgeholt hatte, um Caroline aus der Gewalt ihrer Entführer zu retten. Überdies hatte er auch noch mit Eden über das OCEANS verhandelt und die Bar für Dean und Caroline zurückgekauft.
Weiterhin waren da Cloe, Anni und Alex, die Eden in einer perfekt inszenierten Aufführung Glauben gemacht hatten, das OCEANS könne jeden Augenblick über ihrem Kopf zusammenstürzen. Niemals hätte Eden Hollister die Bar verkauft, wenn diese Drei nicht so absolut überzeugend gewesen wären.
Da war Stefano, der in einem mutigen, selbstlosen Einsatz Carolines Entführer erschossen hatte und dabei selbst verletzt worden war. Caroline bedauerte zutiefst, dass der Detektiv auf Grund seiner Verletzung heute Abend nicht hier sein konnte.
Und nicht zu vergessen Dean selbst.
Caroline war unglaublich stolz auf den Mann an ihrer Seite. Er hatte nicht nur hartnäckig Edens Verführungsversuchen widerstanden, sondern auch beharrlich um das OCEANS gekämpft, nachdem er es durch seine Gutgläubigkeit an Edward verloren hatte. Trotz aller Gemeinheiten ihres Vaters hielt Dean weiter unbeirrt zu ihr.
Nachdem Caroline all diese Dinge durch den Kopf gegangen waren, drehte sie sich spontan zu Dean um und gab ihm einen Kuss.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie ihm zu.
Angenehm überrascht stellte er die Gläser ab, die er gerade füllen wollte und nahm sich die Zeit, ihren Kuss zu erwidern.
Cloes aufmerksamen Blicken war diese kleine Intimität natürlich nicht entgangen. Prompt kniff sie Anni, die gemeinsam mit Alex neben ihr am Tisch saß, unsanft in den Arm.
„Hey Schätzchen, sieh dir die beiden Turteltäubchen an! Das solltet ihr beide auch öfter tun!“
„Aua“, beschwerte sich Anni ungehalten und rieb sich den Arm. „Hast du sie noch alle, Tantchen?“
„Deine Tante hat Recht, Annabel“, mischte sich Alex ein und zwinkerte ihr zu. „Hast du inzwischen über meinen Vorschlag nachgedacht?“
„Welchen Vorschlag?“, erkundigte sich Cloe sofort und reckte neugierig den Hals.
„Ach, nichts Besonderes“, erwiderte Anni rasch und bedachte Alex mit einem giftigen Blick. Doch der ließ sich nicht so leicht einschüchtern.
„Nichts Besonderes?“, fragte er mit unschuldigem Gesicht. „Ich will mich mit dir verloben und du sagst, das sei nichts Besonderes?“
„Verloben?“, rief Cloe entzückt.
„Ja ja, schrei noch lauter, Tante Cloe“, fauchte Anni und sah sich vorsichtig um, ob nicht vielleicht einer der Umsitzenden die Bemerkung gehört hatte. „Hör auf zu sabbern und krieg` dich wieder ein! Alex hat doch nur einen Scherz gemacht!“
„Einen Scherz?“ wiederholte Cloe entrüstet und schüttelte missbilligend den Kopf. „Mit so etwas scherzt man nicht.“
Alex musterte Anni einen Augenblick lang fassungslos, dann jedoch verdüsterte sich seine Miene.
„Das war auch gewiss nicht meine Absicht“, erwiderte er abweisend und stand auf. „Entschuldigt mich. Ich glaube, ich brauche jetzt einen Drink.“
*
Die Tasche mit den wenigen persönlichen Sachen wog nicht viel, doch Mason empfand sie wie eine Zentnerlast. Seine Brust schmerzte noch immer beim Laufen, und der Arm, der sich ohne den schweren Gips eigentlich federleicht hätte anfühlen müssen, hing kraftlos an seinem Körper, als gehöre er gar nicht dazu. Er würde seine erschlafften Muskeln konsequent trainieren müssen, um wieder richtig zu Kräften zu kommen.
Die Sachen, die er trug, hatte ihm Matt mitgebracht. Die schwarze Jeans und das dunkelblaue Hemd passten ihm hervorragend. Mason lächelte bitter. Optisch gesehen war er eins mit seinem Bruder. Ansonsten jedoch schienen beide nach wie vor nicht allzu viele Gemeinsamkeiten zu haben.
Während er auf den Bus nach Sunset City wartete, überlegte er fieberhaft, was er tun sollte. Er zog seine Brieftasche heraus und zählte das darin befindliche Geld. Erstaunt stellte er fest, dass er mehr als dreitausend Dollar in bar bei sich trug. War der „alte“ Mason wirklich so leichtsinnig gewesen?
Wie dem auch sei, vielleicht sollte er alle Pläne über Bord werfen und einfach verschwinden. Matt vertraute ihm sowieso nicht, ebenso wenig wie Marina.
Er könnte von dem Geld nach Caracas zurückfliegen, seine persönlichen Sachen zusammenpacken und dann auf nimmer Wiedersehen in die weite Welt verschwinden, irgendwohin, wo ihn keiner kannte, und wo ihm niemand mit Misstrauen begegnete, nur weil er in seinem früheren Leben ein hundsgemeiner Bastard gewesen war.
Marinas Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Sie war so hübsch und so wunderbar sanft. Eine Frau, die einen Mann wie ihn glücklich machen könnte. Aber er hatte auch sie einst bitter enttäuscht und ihr Vertrauen schändlich missbraucht. Sie glaubte ihm nicht. Vielleicht würde sie das niemals wieder tun. Und er würde vielleicht auch nie Gewissheit darüber erhalten, von wem das Kind war, das sie unter dem Herzen trug.
Vor ihm hielt ein Bus. „Flughafen-Transfer“ stand auf der Leuchttafel über der Frontscheibe. Der Weg in ein neues Leben? Kurz entschlossen stieg er ein.
´Schau nicht zurück! ´, sagte er sich in Gedanken, als sich Sekunden später die automatischen Türen zischend hinter ihm schlossen.
*
Mitch sah Suki von der Seite an.
„Du hast den ganzen Abend noch keine drei Worte gesagt.“
„Welche drei Worte möchtest du denn hören?“, fragte sie mit schwachem Lächeln.
„Da würde mir schon was einfallen.“ Er musterte sie erwartungsvoll. „Na, was ist, Frau Doktor? Du bist doch sonst um keine Antwort verlegen.“
„Entschuldige, ich bin heute irgendwie nicht in Stimmung zum Reden“, erwiderte sie heftiger als beabsichtigt. Seitdem sie wusste, dass er den Job als Pilot bei OCEANIC Airlines bekommen hatte, fühlte sie sich einfach entsetzlich.
Mitch, der nichts von ihren Gefühlen ahnte, legte liebevoll den Arm um sie.
„Du benimmst dich schon seit gestern Abend so eigenartig. Ist irgendetwas?“
„Nein“, log sie. „Ich bin einfach nur müde und habe Kopfschmerzen.“
„Dann lass uns nach Hause gehen, okay?“, schlug er bereitwillig vor. „Ich werde dir ein heißes Bad einlassen und dir den Nacken massieren, damit die Kopfschmerzen vergehen.“
„Nicht nötig.“ Suki erhob sich und griff hastig nach ihrer Tasche. „Bleib hier und amüsier` dich, ich finde den Weg auch allein.“
„Kommt gar nicht in Frage. Ich begleite dich.“ Entschlossen sprang Mitch auf und winkte Dean und Caroline zum Abschied freundlich zu. „Danke für den schönen Abend, ihr beiden.“
Draußen vor dem OCEANS griff er nach Sukis Hand und zwang sie mit sanftem Druck stehenzubleiben.
„Shugar, sieh mich an! Was ist los?“
Sie versuchte wieder zu lächeln, was ihr jedoch gründlich misslang. In ihren Augen schimmerten Tränen, die sie nur mühsam zurückhalten konnte.
„Es ist dieser verdammte Job, über den du dich so wahnsinnig freust.“
Endlich war es heraus. Mitch musterte sie erstaunt.
„Du meinst den neuen Job bei der OCEANIC?“
Sie nickte heftig.
„Ich habe Angst.“
„Angst… wovor?“, fragte er erstaunt. „Davor, dass ich abstürzen könnte?“
„Nein“, erwiderte sie und wischte sich verstohlen eine Träne weg. „Du bist ganz sicher ein hervorragender Pilot. Und ich weiß ja auch, dass du dir wünschst, wieder zu fliegen.“
„Aber was ist es dann?“
„Ich habe Angst um uns. Um unsere Beziehung.“
„Ja aber, zwischen uns wird sich nicht das Geringste ändern!“
„Doch Mitch, das wird es. Ich arbeite den ganzen Tag und oftmals auch die ganze Nacht im Medical Center, während du rund um die Welt fliegst. Wir werden uns kaum noch sehen.“
Mitch starrte sie einen Augenblick lang fassungslos an. Dann nahm er sie lachend in die Arme und schwenkte sie übermütig herum.
„Lass das, das ist nicht komisch!“, rief Suki und versuchte sich aus seiner Umarmung zu befreien, doch er hielt sie fest und gab ihr einen Kuss.
„Hör zu“, sagte er und nahm ihr Gesicht behutsam zwischen seine Hände. „Glaubst du, das hätte ich nicht bedacht?“
„Hast du?“
„Aber natürlich! Habe ich dir denn nicht gesagt, dass ich den Job nur unter der Bedingung angenommen habe?“
„Welche Bedingung denn?“
„Dass sie mich ausschließlich für Inlandsflüge einsetzen.“
Suki musterte ihn ungläubig.
„Ist das wahr?“
Mitch hob mit unschuldigem Gesicht die Schultern.
„Natürlich!“, erwiderte er, als handle es sich um die normalste Sache der Welt. „Ich werde jeden Abend zu Hause sein. Na ja, sagen wir, fast jeden. Du wirst mich öfter sehen, als dir lieb ist.“
Sukis Augen füllten sich erneut mit Tränen.
„Das hast du wirklich getan? Für mich?“
„Für wen denn sonst“, grinste er. „Für dich würde ich noch ganz andere Dinge tun, Frau Doktor! Vorausgesetzt, du redest mit mir darüber.“
*
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte die attraktive Flughafen-Angestellte am Schalter, als Mason an der Reihe war.
Er zögerte einen Augenblick.
„Caracas“, sagte er dann entschlossen. „Ich möchte mit der nächstmöglichen Maschine nach Venezuela fliegen.“
„Oh, da haben Sie Glück, Sir“, erwiderte die junge blonde Frau und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Die nächste Maschine nach Caracas geht in einer Stunde, und ich hätte sogar noch einen freien Platz für Sie. Haben Sie Gepäck?“
Mason wies auf die kleine Reisetasche.
„Nur Handgepäck.“
Während die Dame am Schalter eifrig in ihrem Computer tippte, kamen Mason erneut Zweifel. War das, was er vorhatte, wirklich richtig?
Das Schicksal hatte ihm eine zweite Chance gegeben. Dennoch würde nach der Operation so vieles anders sein. Er hatte sein Leben lang gelogen und betrogen, wo es nur ging, bei jeder Gelegenheit mit falschen Karten gespielt und voll auf Risiko gelebt. Das war nun vorbei. Aber würde der „neue“ Mason ohne die Kaltblütigkeit des „alten“ überhaupt bestehen können?
Und warum zum Teufel tat ihm der Gedanke an Marina so weh? Warum wurde er das Gefühl nicht los, sie schon wieder im Stich zu lassen?
„Sir?“
Die Stimme der Flughafen-Angestellten riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Sie musste ihn irgendetwas gefragt haben, denn sie sah ihn abwartend an.
„Entschuldigen Sie“, erwiderte er zerstreut. „Was hatten Sie gesagt?“
„Wie möchten Sie zahlen?“, wiederholte sie geduldig und ließ erneut ihr Zahnpasta-Lächeln erstrahlen. „Mit Karte oder in bar?“
„Weder... noch“, erklang eine wohlbekannte Stimme dicht an seinem Ohr. Erschrocken fuhr er herum. Hinter ihm stand Marina und blickte ihn vorwurfsvoll an.
„Du wirst dich nicht schon wieder heimlich davonstehlen, Mason Shelton“, fauchte sie ihn ungewohnt heftig an, bevor sie sich an die Dame vom Schalter wandte. „Entschuldigen Sie bitte, aber der Herr hat seine Meinung geändert. Stornieren Sie das Flugticket. Er wird nirgendwohin fliegen.“
Mason war zu verblüfft, um irgendwie reagieren zu können. Willenlos ließ er es geschehen, dass sie seinen Arm nahm und ihn unter den bedauernden Blicken der Flugschalter-Dame energisch mit sich fortzog.
*
Anni beobachtete Alex, der an der Bar stand und an seinem Drink nippte.
Sie hatte ihn mit ihrer Bemerkung verletzt, das war ihr klar. Mit Worten jemanden verletzen, das konnte sie wirklich gut, und bisher hatte ihr das auch nicht das Geringste ausgemacht. Bis heute.
Alex bedeutete ihr mehr, als sie bislang bereit war zuzugeben. Die ganze Zeit über war sie einem Phantom nachgejagt - Matt Shelton, der ihre Gefühle jedoch nie erwidert hatte. Bis zu dem Tag, als Alex in ihr Leben getreten war. Mit seiner lässigen Art und seiner kühlen Arroganz hatte er sie zur Weißglut gebracht und es trotzdem irgendwie geschafft, dass sie sich mehr und mehr zu ihm hingezogen fühlte. Er war immer für sie dagewesen, egal ob sie gerade glücklich war oder sich mies fühlte.
´In guten wie in schlechten Zeiten´, schoss es Anni durch den Kopf. Warum sollte es nicht auch weiterhin so sein? Für immer...
Eigenartig, mit einem Mal fand sie diese Vorstellung gar nicht mehr so erschreckend. Ganz im Gegenteil.
Einer plötzlichen Eingebung folgend griff sie sich Cloes Glas und trank es mit einem Zug leer. Den Protest ihrer Tante ignorierend stand sie auf, zog ihr kirschrotes Superminikleid glatt und marschierte geradewegs auf Randy zu, der gemeinsam mit Robyn hinter dem Discopult stand und für die passende Musik sorgte.
„Gib mir das Mikro und stell für einen Moment das Geplärr ab“, befahl sie in barschem Ton. „Na los, mach schon, bevor ich mir diesen Wahnsinn nochmal anders überlege.“
Randy grinste. Er kannte Annabel Parker und wusste genau, was auch immer diese Frau vorhatte, sie würde sowieso nicht davon abzubringen sein. Er ließ den Titel, der gerade lief, diskret ausklingen und reichte ihr wortlos das Mikrofon.
Anni räusperte sich zunächst etwas verlegen. Daraufhin drehten sich alle Anwesenden nach ihr um und sahen sie erwartungsvoll an.
Auch Alex...
„Also Leute! Ich… ähm… ich mach es kurz, damit ihr weitertanzen könnt“, begann sie zögernd und registrierte erschrocken, wie laut ihre Stimme durch die Lautsprecher widerhallte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. „He, du da an der Bar!“, rief sie forsch. Alex schien überrascht und tippte sich fragend mit dem Finger auf die Brust. „Ja genau, du!“, nickte Anni und schluckte ihre Nervosität herunter. „Da wir hier gerade unter uns sind, will ich unbedingt eine Sache loswerden. Du hast mich vorhin etwas gefragt und eine von meinen dummen Antworten bekommen, die ich leider immer und überall auf Lager habe.“
Verhaltenes Gelächter ringsum.
Unbeirrt dessen sprach Anni weiter.
„Zugegeben, manchmal bin ich wohl etwas voreilig mit dem, was ich sage. Du sollst wissen, dass mir das gerade sehr leidtut. Deshalb will ich dich jetzt etwas fragen.“ Sie kaute einen Augenblick lang nervös auf ihrer Lippe, bevor sie weitersprach und damit alle Anwesenden, besonders jedoch den Einen in Erstaunen versetzte: „Es ist nämlich so... Ich liebe dich, Alexander Franklyn. Ja, das tue ich wirklich. Willst du mich heiraten?“
*
„Was denkst du dir eigentlich, du elender Feigling?“, herrschte Marina Mason aufgebracht an, als sie allein waren. „Du erzählst jedem, du hättest dich geändert, und bei der ersten Gelegenheit nimmst du den nächsten Flieger und willst dich klammheimlich auf und davonstehlen!“
Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so wütend gesehen zu haben.
„Marina... glaub mir bitte, ich...“
„Halt den Mund!“, fauchte sie und setzte sich völlig fertig auf eine der Bänke. „Ich muss mich erst einmal beruhigen.“ Sie legte eine Hand auf den Bauch und atmete tief durch. „Das Baby und ich, wir beide haben einen Marathon hinter uns, um dich noch zu erreichen“, stöhnte sie und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Verdient hast du es nicht.“
„Wie hast du mich gefunden?“
„Ich habe vor der Klinik in meinem Wagen auf dich gewartet, um dich nach Sunset City mitzunehmen. Ich muss wohl kurz eingeschlafen sein, denn als ich schließlich nachgefragt habe, wann du endlich entlassen wirst, warst du bereits weg. Die Schwester erinnerte sich, dass du den Bus nehmen wolltest, und so bin ich sämtliche Bushaltestellen im Umkreis abgefahren. Dann sah ich gerade noch, wie du in diesen Airport-Bus eingestiegen bist, und da ging mir ein Licht auf. Also bin ich hinterhergefahren um zu sehen, was du vorhast. Leider musste ich mir draußen erst einen Parkplatz suchen, so dass ich dich fast wieder aus den Augen verloren hätte.“
„Es tut mir leid, Marina, aber ich dachte, es ist besser, ich verlasse Sunset City“, gestand Mason schuldbewusst.
Sie lachte abfällig.
„Besser? Für wen? Für dich?“
„Für uns alle. Ich gehe irgendwo hin, wo mich keiner kennt, und niemand etwas von meiner Vergangenheit weiß. Hier begegnen mir ja doch nur alle mit Vorurteilen und Misstrauen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich spüre das.“
„Ach ja?“ Sie richtete sich auf und sah ihn an. „Du spürst das? Hast du auch mal daran gedacht, dass wir uns genauso an dein neues Leben gewöhnen müssen, wie du selbst? Wie kann man nur so egoistisch sein!“
„Egoistisch? Ich?“
„Ja, Mason! Du denkst nur daran, wie du dich fühlst. Was glaubst du eigentlich, wie mir schon die ganze Zeit über zumute ist? Ich habe dich geliebt und wollte mein Leben mit dir teilen, nachdem ich wegen dir alles, was mir lieb und teuer war, hinter mir gelassen hatte. Damals hast du mich nur ausgenutzt, und jetzt soll ich plötzlich glauben, dass alles anders ist! Verstehst du denn wirklich nicht, dass manche Dinge einfach etwas Zeit brauchen?“
Mason rieb sich nervös das Kinn.
„Hätten wir... wir beide, meine ich... haben wir denn noch eine Chance?“
Marina kaute auf ihrer Unterlippe.
„Ich weiß es nicht. Noch nicht. Versteh doch bitte, ich...“
„Doch, ich verstehe“, unterbrach er sie mit bitterem Lächeln und nickte. „Ich verstehe sehr gut. Ich wäre immer ein Risikofaktor in deinem Leben, und du willst kein Risiko mehr eingehen.“ Er hob die Hand und strich ihr sanft über die Wange. „Vielleicht komme ich ja wieder, irgendwann. Aber jetzt muss ich los. Mein Flug geht in einer Stunde.“
„Du willst also wirklich einfach verschwinden?“
„Ja, es ist besser so, glaub mir.“ Er spürte den dumpfen Schmerz in seiner Brust, als er diese Worte sagte, und er wusste genau, dass dieses Gefühl keine Folge seiner Unfallverletzungen war. Es war ein ganz anderer Schmerz. Einer, der viel tiefer saß. Schnell nahm er seine Tasche. „Leb wohl, Marina.“
„Warte...“
Als er sich erstaunt umdrehte, sah er, dass sie Tränen in den Augen hatte.
„Ich bin ja völlig verrückt, nach allem was zwischen uns geschehen ist“, murmelte sie, als könne sie selbst nicht glauben, was da gerade in ihrem Kopf vor sich ging. Gefühl und Verstand gingen getrennte Wege, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie versuchte es gar nicht erst.
Ihre Stimme hatte einen überraschend festen Klang, als sie Sekunden später sagte: „Wenn es dir mit uns beiden wirklich ernst ist, dann sollst du deine letzte Chance haben.” Sie trat einen Schritt auf ihn zu und reichte ihm ihre Hand. Die andere legte sie mit einem vielsagenden Blick auf ihren Bauch.
„Bitte bleib! Wir beide... Wir brauchen dich, Mason."