Caroline saß auf der Terrasse des kleinen Appartements, das sie und Dean seit ein paar Tagen gemietet hatten und starrte hinaus in die angrenzenden, blühenden Gärten, ohne wirklich etwas von der Blumenpracht zu sehen, die der ganze Stolz der Anwohner war. Sie fühlte sich so unglücklich und allein wie nie zuvor in ihrem Leben.
Dean arbeitete nun schon geraume Zeit im OCEANS als Geschäftsführer von Eden Hollister, der neuen Besitzerin. Bereits frühmorgens war er unterwegs, um einzukaufen, Lieferungen, Einnahmen und Ausgaben zu überprüfen und den extravaganten Wünschen seiner neuen Chefin, die Bar betreffend, gerecht zu werden. Diese Hexe streckte außerdem ganz offensichtlich ihre rot lackierten Krallen nach ihm aus. Fast jeden Tag ließ sie sich in ihrem Privatjet von Las Vegas herüber nach Sunset City bringen, wo sie dann den Abend in ihrem neu erworbenen Etablissement in Deans Nähe verbrachte.
Caroline hatte sich regelrecht den Kopf zermartert, was sie tun könnte, um Eden die Sache zu vermiesen, doch das Millionärstöchterlein war viel zu sehr von sich überzeugt, als das sie die Versuche ihrer Rivalin, sie vom OCEANS und dem offensichtlichen Objekt ihrer Begierde fernzuhalten, überhaupt ernstnahm. Mit Sicherheit sah sie Caroline nicht einmal als Rivalin an, sondern viel mehr als Deans unbedeutende Exfrau, die es zu ignorieren galt. Sie zu entlassen war eine ihrer ersten Geschäftshandlungen gewesen.
Dean selbst ertrug die Sache noch einigermaßen gefasst. Er hätte kündigen können, schließlich war er nur Edens Angestellter, aber das würde bedeuten, dass er auch die letzte Verbindung zu der Bar aufgab, die er und seine Freunde mit so viel Begeisterung aufgebaut hatten, und die er bis vor kurzem voller Engagement gemeinsam mit Caroline führte, und dazu war er innerlich noch nicht bereit.
Noch nicht.
Caroline vermisste die gemeinsamen Stunden mit Dean, die Abende im OCEANS, die Gespräche mit Freunden. Und sie vermisste ihre Eltern, das Gefühl, sicher und geborgen zu sein, obwohl sie sich in der Vergangenheit oftmals genau über diese Geborgenheit beklagt und versucht hatte, daraus auszubrechen. Sie vermisste sogar ihren Vater, obwohl er im Grunde der einzig Schuldige an der ganzen Misere war. Aber ihr fehlte seine souveräne Stärke, mit der er in der Vergangenheit jede Lebenssituation für sich und seine Familie gemeistert hatte, und sie ertappte sich immer wieder bei der Vorstellung, wie Edward diese verdammte Eden mit einem eiskalten Lächeln aus Sunset City vertrieben hätte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Aber die Realität sah anders aus.
Edward war nicht mehr da, und sie selbst war nicht in der Lage, wie ihr Vater zu handeln. Dazu fehlten ihr nicht nur die finanziellen Mittel und die so genannten Hintermänner, die für Edward regelmäßig die Drecksarbeit erledigt hatte, sondern auch ein wenig sein unerschütterliches Selbstvertrauen. Einer Jetset- Lady mit millionenschwerem Imperium im Rücken konnte sie allein nicht das Wasser reichen.
Außerdem war Eden ausgesprochen gutaussehend und sehr sexy. Wer weiß, wie lange es dauern würde, bis Dean ihrem Charme irgendwann erlag. Dann hatte diese Hexe erreicht, was sie wollte und würde sich vielleicht wieder verziehen, aber was blieb danach?
Caroline seufzte.
Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken. Sie wünschte nur, sie könnte mit jemandem reden. Jemand, der sie verstand.
Eine Frau. Eine Freundin.
Oh ja, sie wusste eine, die ihre Probleme verstehen würde. Eine, die in Sachen Liebe und Beziehungen ziemlich versiert war, und der sie vertraut hatte, solange sie denken konnte. Caroline sprang auf, nahm ihre Tasche und wollte gerade das Haus verlassen, als ihr Handy zu läuteten begann.
In der Annahme, es sei Dean, der sie zu erreichen versuchte, kramte sie es eilig aus der Tasche.
„Ja, bitte?“
Ihr Herzschlag drohte sekundenlang auszusetzen, als sie die vertraute Stimme am anderen Ende hörte.
„Cary! Schätzchen! Hier spricht deine Mutter!“
„Mom?“ Ungläubig presste Caroline das winzige Handy an ihr Ohr. „Bist du das wirklich?“
„Aber ja, natürlich“, hörte sie die aufgeregte Stimme ihrer Mutter. „Wie geht es dir, mein Liebling?“
Caroline presste die Lippen aufeinander. Plötzlich kam aller Groll wieder in ihr hoch.
„Wo bist du?“, brachte sie mühsam zwischen den Zähnen hervor.
„Das darf ich dir nicht sagen. Dein Vater und ich, wir...“
„Ihr seid einfach abgehauen, ich weiß. Und jetzt frag mich bloß nicht noch einmal, wie es mir geht!“
„Caroline... versteh doch, wir mussten verschwinden, sonst hätten sie deinen Vater ins Gefängnis gesteckt! Und du weißt, was immer er auch getan hat, er hat es für uns getan, für seine Familie!“
„Oh ja, die Familie“, höhnte Caroline verbittert. „Sie ist ihm so wichtig, dass er gleichzeitig dafür gesorgt hat, dass ich nun keine mehr habe!“
„Was meinst du? Er hat dich doch finanziell abgesichert, bevor wir abgereist sind...“
„Dann frag ihn doch mal, unter welchen Bedingungen! Frag ihn, was in seinem Abschiedsbrief stand!“ Caroline lachte bitter. „Du kannst ihm bestellen, dass ich seine Forderungen erfüllt habe. Er kann stolz auf sich sein!“
„Wovon redest du, Kind?“
„Davon, dass ich mich erst von Dean scheiden lassen musste, bevor ich auch nur einen Cent vom Familienkonto gesehen habe.“
Sie hörte, wie Sophia aufstöhnte und verdrehte wütend die Augen. „Sag jetzt bloß nicht, du hättest nichts davon gewusst. Du kennst ihn schon etwas länger als ich!“ Als keine Antwort kam, nickte sie bestätigend. „Vergiss es, Mom. Wo auch immer du jetzt bist, ich hoffe, du bist glücklich da.“
„Cary, Schätzchen… bitte versteh doch…“
„Weiß Daddy, dass du mich anrufst?“
„Nein, wir müssen sehr vorsichtig sein.“
Caroline atmete tief durch und versuchte vergeblich ihre innere Ruhe wiederzufinden.
„Natürlich.“
„Hast du etwas von Corey gehört?“
„Ja, wir telefonieren fast täglich. In den nächsten Semesterferien wird er mich sicher besuchen.“
„Das ist gut. Ich war sowieso nie besonders glücklich darüber, dass er die Polizei-Akademie besucht, und so weit von zu Hause weg ist. Und was Dad darüber denkt, weißt du ja.“
„Ist mir egal. Mein Bruder weiß wenigstens, was er will.“
Am anderen Ende war es wieder einen Augenblick lang still, dann räusperte sich Sophia nervös.
„Cary, ich muss jetzt auflegen, aber ich verspreche dir, dass ich mich von nun an regelmäßig bei dir melde. Ich werde dir über einen Mittelsmann eine größere Geldsumme auf dein Konto überweisen lassen. Du und Corey, ihr könnt dann über das Geld frei verfügen, es ist an keinerlei Bedingungen gebunden.“
„Das wird Daddy aber gar nicht gern hören“, meinte Caroline sarkastisch.
„Er wird nichts davon erfahren, er hat im Moment andere Sorgen.“
„Danke Mom.“ Caroline schluckte schwer an dem Kloß, der in ihrem Hals steckte. Sie wollte nicht zeigen, wie sehr sie ihre Eltern vermisste. Warum konnte nicht einfach alles wieder so sein wie früher?
„Und was ist mit dir?“, fragte sie besorgt. „Geht es dir wirklich gut?“
„Ja Schätzchen, es geht mir blendend“, erwiderte Sophia eine Spur zu hastig, und Caroline hörte deutlich das Zittern in der Stimme ihrer Mutter.
„Lüg mich bitte nicht an, Mom. Nicht schon wieder!“
Sophia stöhnte kurz auf, dann brachen ihre wahren Gefühle für einen Augenblick aus ihr heraus.
„Oh Gott, ich vermisse dich, Cary, ich vermisse deinen Bruder, mir fehlt Sunset City und unser altes Leben.“
Caroline unterdrückte mit Mühe die aufsteigenden Tränen.
„Ich vermisse dich auch. Dich und Dad, sehr sogar. Aber keine Angst, Corey und ich, wir sind erwachsen und kommen schon klar, mach dir keine Sorgen.“
„Ich liebe dich, Schatz!“
„Ich liebe dich auch, Mom.“
Ein kurzes Knacken, dann war es still in der Leitung.
Caroline starrte einen Moment lang zitternd auf ihr Handy. Dann jedoch straffte sie die Schultern.
„Lass dich nicht hängen“, sagte sie zu sich selbst. „Meine Eltern haben ihren Weg gewählt, jetzt wähle ich meinen.“
Entschlossen öffnete sie die Tür und trat hinaus.
„Caroline Hamilton?“
Erstaunt hob sie den Kopf und sah die beiden Männer, die links und rechts vom Eingang auf sie gewartet zu haben schienen. Sie trugen dunkle Sonnenbrillen und sahen auch sonst nicht besonders vertrauenserweckend aus.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie beunruhigt.
„Steigen Sie ein“, forderte der eine Mann sie auf und ergriff ihren Arm, während er auf den dunklen Wagen deutete, der mit geöffneten Türen unmittelbar vor dem Eingang geparkt stand.
„He, was soll das? Lassen Sie mich los!“, rief Caroline erschrocken und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, doch seine Hände waren wie Schraubzwingen, und nun sprang auch der andere Mann hinzu und schob sie mit roher Gewalt zu dem Fahrzeug hinüber. „Mach keine Schwierigkeiten, Mädchen“, zischte er. „Sei hübsch brav, dann passiert dir auch nichts!“
Zu Tode erschrocken wollte Caroline um Hilfe schreien, doch bevor ein Laut über ihre Lippen kam, hatten die beiden unbekannten Männer sie bereits zum Wagen gedrängt und stießen sie unsanft auf den Rücksitz. Einer von ihnen sprang auf den Beifahrersitz, während der andere an Carolines Seite blieb.
„Fahr los!“, befahl er dem wartenden Fahrer, warf eilig die Tür zu, und der Wagen schoss mit aufheulendem Motor die Straße entlang Richtung Norden.
*
Mason strich sich über die schweißnasse Stirn. Hinter seinen Schläfen tobte ein dumpfer, pochender Schmerz, der ihm fast den Verstand raubte. Was Marina ihm erzählte, war ungeheuerlich und ließ ihn innerlich schaudern. Sein ganzes Leben musste laut ihrer Aussagen nur darin bestanden haben, seinem Bruder zu schaden und ihm das Leben zur Hölle zu machen. Er hatte Matts Ehe zerstört, hatte ihn mit seiner eigenen Frau betrogen und war letztendlich mit ihr nach Europa durchgebrannt? Und als er ihrer schließlich überdrüssig geworden war, hatte er diese wunderschöne junge Frau weggeworfen wie unnötigen Ballast...
Er saß da und starrte Marina an. Er hatte wirklich nichts ausgelassen, um Matt und ihr zu schaden, wo immer es ging.
Und nicht nur das.
In Sunset City hatte er sich sogar an Matts neue Freundin herangemacht, sie zuerst glauben lassen, er selbst sei Matt, und sie dann während eines Ausfluges in den Bergen in sein Strandhaus entführt.
Kein Wunder, dass Danielle ihn jedes Mal ansah, als sei er ein Monster!
Marina bemerkte seinen Blick und verstummte erschrocken. Hatte sie ihm zu viel zugemutet? Oder warum sah er sie so merkwürdig an?
„Ich sollte jetzt lieber gehen“, meinte sie etwas unsicher und stand auf. „Für heute habe ich dir schon zu viel erzählt. Denk darüber nach, vielleicht fällt dir dann alles andere von allein wieder ein.“
„Nein... warte!“, rief er und sprang auf, das daraufhin entstehende heftige Schwindelgefühl in seinem Kopf hartnäckig ignorierend. „Bitte, geh noch nicht!“
Unschlüssig blieb sie stehen und bemerkte, wie blass er geworden war.
„Ist dir nicht gut?“, fragte sie beunruhigt. „Wir sollten wirklich ein anderes Mal weiterreden.“
„Nein, mir fehlt nichts“, erwiderte er hastig und nahm sacht ihren Arm. „Bitte setz dich wieder. Erzähl mir alles!“
Marina schüttelte entschieden den Kopf.
„Ich denke, für heute ist es genug. Du siehst momentan nicht aus, als könntest du noch mehr verkraften.“ Sie legte schützend eine Hand auf ihren Bauch. „Und ehrlich gesagt, ich auch nicht. Ich möchte jetzt nach Hause und mich ein wenig ausruhen.“
Mason wollte widersprechen, doch dann besann er sich.
„Du bist schwanger“, nickte er und versuchte zu lächeln. „Da kann sich jemand sehr glücklich schätzen.“
Marinas Mundwinkel zuckten verdächtig.
„Ja, sicher.“ Rasch griff sie nach ihrer Tasche und ging zur Tür, als es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Der Gedanke kam unvermittelt und bohrte sich wie ein spitzer Pfeil in seine Seele, so dass es ihm fast den Atem nahm.
„Warte!“
Nichts Gutes ahnend verharrte sie und drehte sich zögernd um.
„Was ist?“
„Du hast vorhin gesagt, Matt sei nicht der Vater deines Babys.“ Sein Blick versuchte vergeblich ihren festzuhalten. „Wer ist es dann, Marina?“
„Das geht dich nichts an“, brachte sie mühsam heraus, vermied es jedoch, ihm in die Augen zu blicken.
Mit zwei Schritten war er bei ihr. Er hob seine gesunde Hand, umfasste ihren Arm und zwang sie, ihn anzusehen.
„Sag mir die Wahrheit: Ist dein Baby von mir?“
„Nein!“, rief sie panisch und versuchte sich loszureißen. „Nein, es ist nicht von dir!“
„Du lügst!“, zischte er wütend. „Ich sehe es dir an! Los, Marina, sag es mir! Ist das Kind, das du erwartest, mein Kind?“
In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Sie wollte nur noch weg.
„Lass mich los!“ Völlig panisch und ohne dabei an die Konsequenzen zu denken, stieß sie ihn mit aller Kraft gegen seine verletzte Brust. Mit einem Schmerzensschrei ließ er von ihr ab, taumelte zurück und verlor das Gleichgewicht.
Unfähig, etwas zu tun, stand Marina da und musste mit ansehen, wie er verzweifelt nach einem Halt suchte, dabei einige Verbandsmaterialien, die auf einem kleinen Beistelltisch standen, mitriss, bevor er zu Boden ging, mit dem Kopf hart an der Bettkante aufschlug und dann regungslos liegen blieb...
*
Caroline wusste nicht, wie lange sie gefahren waren. In ihrer Panik schien sie jegliches Zeitgefühl verloren zu haben. Während sie Sunset City verließen, legte ihr der Mann, der neben ihr saß, eine Augenbinde und Handfesseln an.
„Entspann dich, Kleine“, hatte er mit völlig teilnahmsloser Stimme gesagt. „Wir werden nicht lange unterwegs sein.“
Auf die Fragen, die sie angstvoll stellte, nachdem sie begriffen hatte, dass ihre verzweifelten Versuche, sich zu wehren, erfolglos waren, hatte sie keine Antwort bekommen, so dass sie sich schließlich erst einmal in ihr Schicksal ergab und versuchte, so ruhig und gleichmäßig wie nur möglich zu atmen, um die Angst zu bekämpfen, die ihr die Kehle zuschnürte. Dass es sich hier um eine Entführung handelte, war ihr längst klar.
Aber warum?
Hatte Eden Hollister das veranlasst? War sie ihr vielleicht doch lästiger als zuerst angenommen?
Nun waren sie allem Anschein nach an ihrem Ziel angekommen, denn der Wagen verlangsamte seine Fahrt und hielt schließlich an.
Caroline wurde aufgefordert auszusteigen. Sie spürte die Hände, die sie fest am Arm packten und irgendwohin führten. Stolpernd versuchte sie Schritt zu halten. Eine Tür klappte zu, dann noch eine, und schließlich wurde sie unsanft auf eine weiche Unterlage gestoßen, vermutlich ein Sessel oder ein Sofa.
„Wo haben Sie mich hingebracht?“, rief sie panisch. „Reden Sie doch mit mir!“
„Immer mit der Ruhe“, brummte eine Stimme dicht neben ihr. Ängstlich fuhr sie zusammen, als sie spürte, wie jemand ihr die Augenbinde abnahm.
Sie blinzelte. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel, das in dem Zimmer herrschte, in das ihre vermeintlichen Entführer sie gebracht hatten. Ein Sofa, ein Sessel, ein Tisch und eine Liege, das war alles, was ihr auf den ersten Blick auffiel. Ihre Augen suchten nach einem Fenster, doch da war keines. Das karge Licht rührte nur von einer einzelnen Wandlampe her.
Für einen Augenblick glaubte sie, ersticken zu müssen.
„Bitte, lassen Sie mich gehen!“, wimmerte sie.
„Alles zu seiner Zeit.“ Der Mann, der sich ihr gegenüber an den Tisch setzte, wirkte ruhig und gelassen. Er war durchschnittlich groß, schlank und trug ein dunkles Sakko und Jeans. Sie schätzte ihn so um die Vierzig, und sein aalglattes Gesicht mit der Hakennase erinnerte sie an einen Raubvogel, der geduldig auf seine Beute lauert. Aus kalten grauen Augen starrte er sie an.
„Miss Hamilton“, begann er mit schleppender Stimme. „Es tut mir leid, dass wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten müssen, aber Ihr Vater lässt uns leider keine andere Wahl.“
„Mein Vater?“, keuchte Caroline entsetzt. „Er steckt dahinter?“
„Nun, in gewissem Sinne ja. Wir würden gern von Ihnen wissen, wo er sich zurzeit aufhält.“
„Ich... ich habe keine Ahnung. Irgendwo im Ausland!“
„Geht’s auch etwas genauer, Miss?“, bellte der Mann, der an der Tür stand, ungeduldig. Caroline erkannte an der Stimme, dass es derselbe Mann war, der im Auto neben ihr gesessen hatte.
„Tut mir leid, ich weiß es wirklich nicht!“
„Na, dann werden wir Ihrem Gedächtnis mal ein wenig nachhelfen müssen!“
Drohend kam der Mann näher, die Finger lässig in die Gürtelschlaufen gehakt, wobei unter seiner Lederjacke eine Waffe deutlich sichtbar wurde, die im Bund seiner ausgewaschenen Jeans steckte. Er hatte ein kantiges Gesicht und die breiten Schultern eines Bodybuilders und sah nicht aus, als würde er Spaß verstehen.
Der Mann, der Caroline gegenübersaß, hob gebieterisch die Hand.
„Nicht so eilig, Clay“, sagte er ruhig, fast freundlich, ohne Caroline dabei aus den Augen zu lassen. Sie fühlte sich unbehaglich unter seinem Blick. Allem Anschein nach war er hier der Boss, denn der andere blieb sofort abwartend stehen. „Ich denke, Miss Hamilton sagt uns die Wahrheit. Ich traue es diesem Schakal ohne weiteres zu, dass er sich abgesetzt hat, ohne seiner eignen Familie zu sagen, wohin. Er war schon immer ein gewissenloser Bastard.“
Caroline schluckte. Es tat weh, dass so abfällig über ihren Vater geredet wurde, doch in der gegenwärtigen Situation war es besser, den Mund zu halten und nicht zu widersprechen.
„Was machen wir jetzt mit ihr?“, fragte der Kerl namens Clay.
„Die junge Dame ist vorerst unser Gast“, erwiderte sein Komplize mit dem Raubvogelgesicht und erhob sich lächelnd. „Wie lange, liegt ganz bei ihr.“
„Aber ich weiß wirklich nicht, wo sich mein Vater aufhält“, wiederholte Caroline mit zitternder Stimme.
„Na gut.“ Der Mann nickte und gab dem anderen ein Zeichen, die Tür zu öffnen, bevor er sich noch einmal kurz an seine Gefangene wandte. „Ich werde jetzt einige Anrufe erledigen. Fühlen Sie sich in der Zwischenzeit wie zu Hause, Miss Hamilton.“
Sie hob ihm verzweifelt ihre gefesselten Handgelenke entgegen.
„Oh“, grinste er. „Natürlich, wie unhöflich von mir!“ Er trat näher und löste mit geschickten Handbewegungen die Fesseln. „Nebenan ist ein kleines Badezimmer, in dem Sie sich etwas frisch machen können, wenn Sie möchten. Aber verschwenden Sie keinen Gedanken an Flucht, meine Liebe“, ermahnte er sie drohend, und seine Raubvogelaugen durchbohrten sie förmlich, als könne er ihre Gedanken lesen. „Wir sind hier mitten in der Wildnis, und ich könnte nicht dafür garantieren, dass einige freilaufende Tiere Sie nicht als willkommenen Leckerbissen begrüßen würden. Außerdem steht Clay mit einem Gewehr vor der Tür, und glauben Sie mir, er hat sehr nervöse Finger.“
„Ich werde nicht versuchen zu fliehen“, versprach Caroline sichtlich eingeschüchtert.
„Fein, dann sind wir uns ja einig.“ Der Mann richtete sich auf und sah sie an.
„Clay wird Ihnen nachher einen kleinen Imbiss bringen. Ich sehe später wieder nach Ihnen.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Denken Sie daran, keine Dummheiten. Solange Sie nach unseren Spielregeln spielen, wird Ihnen nichts geschehen. Und wenn sich gewisse Leute kooperativ verhalten, sind Sie bald wieder unversehrt zu Hause.“
*
Marina stand wie versteinert. Sie spürte die übermächtige Angst, die das Blut in ihren Adern gefrieren ließ und ihr mit eisigen Fingern die Kehle zuzuschnüren drohte. Panisch presste sie die Fäuste vor den Mund, um den tief aus ihrem Inneren aufsteigenden Schrei zu unterdrücken.
Was hatte sie getan?
Mason lag da und rührte sich nicht. War er tot? Hatte sie ihn umgebracht?
Sie zitterte wie Espenlaub, als plötzlich jemand laut und vernehmlich anklopfte und die Tür öffnete.
„Mason! Ich muss mit dir reden...“ Danielle betrat das Zimmer und hielt erschrocken inne, als sie Marina bemerkte, die einer Ohnmacht nahe, an der Wand lehnte. Erstaunt folgte sie dem starren Blick der jungen Frau und erblickte Mason, der neben dem Bett auf dem Boden lag, bleich und leblos.
„Danielle“, wimmerte Marina mit zitternder Stimme. „Oh bitte, es war ein Unfall, ich wollte das nicht!“
Geistesgegenwärtig schloss Danielle die Tür. Mit wenigen Schritten war sie bei Mason, kniete neben ihm nieder und fühlte seinen Puls.
„Er lebt“, stellte sie erleichtert fest, während sie wieder aufsprang und den Alarmknopf drückte. „Was ist passiert?“
„Er wollte wissen, ob er der Vater meines Babys ist“, stammelte Marina schluchzend. „Ich habe mich bedroht gefühlt und ihn weggestoßen, und da ist er... Oh mein Gott, ich wollte doch wirklich nicht...“
Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und die Schwester kam eilig herein. Sie sah Mason am Boden liegen. Daneben kniete Danielle, die seine Vitalfunktionen überprüfte.
„Der Patient ist nach einem Sturz ohne Bewusstsein“, erklärte sie so ruhig wie möglich. „Holen Sie den diensthabenden Arzt. Und dann rufen Sie Dr. Pares aus! Bringen Sie ein Reanimationsset mit. Er hat kaum einen Puls. Beeilen Sie sich!“
Die Schwester rannte hinaus.
Danielle wandte sich an Marina.
„Setzten Sie sich hin!“, befahl sie in ungewöhnlich scharfem Ton. „Und kein Wort! Überlassen Sie mir das Reden!“
Widerspruchslos gehorchte Marina und sank zitternd auf den Sessel, die Arme wie schützend über ihren Bauch gelegt. Mit größter Mühe versuchte sie ein hysterisches Schluchzen zu unterdrücken, während sie mit weit aufgerissenen Augen auf den reglos daliegenden Mason starrte.
Danielle hatte dessen Beine unter Zuhilfenahme der zusammengerollten Bettdecke etwas hochgelagert und überprüfte noch einmal die Pulsfrequenz.
„Komm schon, Mason“, flüsterte sie und sah zu ihrem Entsetzen, dass unter dem Wundpflaster, das er über der Operationsnarbe oberhalb der Stirn trug, Blut sickerte.
Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis Dr. Pares, gefolgt von einem Assistenzarzt und zwei Schwestern ins Zimmer gestürzt kam.
„Was ist passiert?“, fragte er atemlos, während er begann, den Patienten vorsichtig zu untersuchen. Danielle rückte beiseite und nannte ihm die viel zu niedrige, unregelmäßige Pulsfrequenz.
„Als ich hereinkam, wollte sich Misses Cortez gerade verabschieden. Mason ist wohl etwas zu schnell aufgestanden, ihm wurde schwindlig, und bevor eine von uns etwas tun konnte, stürzte er“, erklärte sie mit einem warnenden Seitenblick auf Marina, die nervös auf ihrer Unterlippe kaute. „Er ist mit dem Hinterkopf auf der Bettkante aufgeschlagen.“
„Verdammt!“, fluchte Pares und gab dem Assistenzarzt ein Zeichen. „Aufs Bett mit ihm!“ Gemeinsam hoben sie Mason hoch und legten ihn vorsichtig auf dem Bett ab. „Schließt ihn an den Monitor an“, befahl Pares und wandte sich kurz an Danielle. „Sie haben genau richtig gehandelt. Bitte bringen Sie Misses Cortez jetzt nach draußen.“
Danielle nickte und half Marina aus dem Sessel hoch.
„Kommen Sie!“
Als sie Masons Krankenzimmer verlassen hatten, brach Marina fast zusammen. Nur mit Mühe half ihr Danielle bis zum Wartebereich.
Schnell holte sie der Schwangeren ein Glas Wasser und setzte sich dann zu ihr.
„Na, besser?“
Marina konnte nicht antworten. Die Tränen, die sie bislang so mühsam zurückgehalten hatte, bahnten sich jetzt ihren Weg.
Danielle nickte verständnisvoll.
„Weinen Sie, das erleichtert“, sagte sie leise.
Schluchzend lehnte Marina ihren Kopf an Danielles Schulter.
„Danke“, brachte sie unter Tränen mühevoll heraus.
Da saßen sie nun, die ehemalige und die zukünftige Misses Matthew Shelton und bangten gemeinsam um das Leben des Mannes, der ihnen bisher so unendlich viel Kummer bereitet hatte.
*
„George?“
Matt saß da wie erstarrt, unfähig sich zu rühren.
„Hallo Matthew!“
George Freeman, höchst zufrieden darüber, dass ihm die Überraschung gelungen war, kam mit einem breiten Grinsen auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Ich erwähnte doch erst kürzlich, dass mir Ihre Firma sehr imponiert.“
Mühsam überwand Matt sein Erstaunen, erhob sich rasch und begrüßte zuerst seinen Gast und danach Roger Miles, der diesem gefolgt war.
„Darf ich Ihnen meinen Anwalt und guten Freund Michael Donovan vorstellen?“
Die Herren machten sich miteinander bekannt.
„Wir haben ja bereits telefoniert, Herr Kollege“, erinnerte sich Roger, und Michael nickte freundlich.
„Bitte, nehmen Sie Platz.“
Sichtlich erleichtert darüber, sich eine Verschnaufpause gönnen zu können, ließ sich George Freeman in einen der bequemen Ledersessel fallen.
„Ein imposantes Gebäude, die HSE“, stellte er fest und nahm einen tiefen Schluck von dem Mineralwasser, das Elisabeth unmittelbar nach Erscheinen der Besucher eilig hereingebracht hatte. „Zum Glück hat das Ding einen sehr geräumigen Fahrstuhl.“ Er zog sein Taschentuch heraus und tupfte sich die Stirn ab. Roger warf ihm einen besorgten Blick zu, sagte jedoch nichts.
„Nun, mein Lieber.“ George sah den jungen Mann vor sich freundlich an und nickte vielsagend. „Ich habe neulich, als Sie und Danielle bei mir waren, nicht umsonst so viele Fragen über die Firma gestellt. Das Unternehmen hat einen guten Ruf, zumindest bis zu Edward Hamilton Verhaftung, und ehrlich gesagt, es gefällt mir, mit wieviel Courage Sie versuchen, etwas zu retten, was allein vom logischen Standpunkt aus eigentlich nicht mehr zu retten ist.“
„Wie sind Sie so schnell an Edwards Anteile gekommen?“, fragte Matt, der sich einigermaßen von seinem ersten Schrecken erholt hatte, interessiert. Sein Gefühl sagte ihm, dass er es mit einem neuen Teilhaber weitaus schlechter hätte treffen können. Vermutlich hatte George Freeman nicht vor, ihm oder der Firma Schaden zuzufügen. Fragte sich nur, was der alte Mann mit dieser Teilhaberschaft bezweckte. Schließlich kam er ja aus einer völlig anderen Branche.
„Ich habe einen cleveren Anwalt, müssen Sie wissen“, unterbrach der Geschäftsmann Matts Gedanken und lachte. „Roger ist immer auf dem Laufenden, sogar nachts, wenn er nicht schlafen kann, lässt er die Finger nicht vom Aktienmarkt! Dementsprechend schnell können wir reagieren, wenn uns etwas interessant erscheint.“
Matt nickte, während ihm mit einiger Mühe sogar ein Lächeln gelang.
„Und darf ich fragen, wie Sie sich Ihre Teilhaberschaft im Einzelnen vorstellen, George? Wenn Sie alle Anteile aufgekauft haben, und laut meiner derzeitigen Informationen haben Sie das, dann gehört Ihnen mehr als die Hälfte der Firma, und somit haben Sie ab sofort das Sagen.“
„Keine Sorge, mein Junge“, erwiderte Freeman etwas schweratmig. „Selbst, wenn ich die Aktienmehrheit der HSE besitze, so möchte ich, dass Sie weiterhin uneingeschränkt der Boss sind. Ich habe nicht vor, Ihnen durch meine Unwissenheit in der Immobilienbranche unnötig das Leben schwer zu machen. Dafür werden bestimmt schon genug andere Leute sorgen. Ich beabsichtige lediglich einen geeigneten Treuhänder einzusetzen, der sich jedoch die meiste Zeit im Hintergrund hält und nur bei wichtigen firmeninternen Entscheidungen sein volles Stimmrecht wahrnimmt.“
´Das wäre zu schön, um wahr zu sein´, fuhr es Matt durch den Kopf. ´Wo ist der Haken? Es gibt doch bei solchen Sachen für gewöhnlich immer einen Haken!´
„Und wer ist dieser Treuhänder?“, fragte er vorsichtig.
„Das werden Sie zu gegebener Zeit erfahren. Haben Sie bitte noch etwas Geduld. Aber ich versichere Ihnen, es wird jemand sein, der in keiner Weise gegen Ihre Interessen arbeiten wird.“
„Tun Sie das Danielle zuliebe?“ Matt konnte nicht umhin, diese Frage zu stellen.
George lachte.
„Zugegeben, Ihre zukünftige Frau ist einer meiner Gründe, Ihnen zu helfen. Aber bei weitem nicht der einzige. Meine anderen Gründe nannte ich Ihnen bereits. Mir imponiert Ihr Geschäftssinn, Ihr Mut und Ihre Ehrlichkeit. Sie können versichert sein, dass ich vor gewissen Transaktionen immer ausreichende Erkundigungen einziehe. Heutzutage kann sich keiner leisten, die Katze im Sack zu kaufen.“ Er lächelte voller Überzeugung. „Sie haben einen beneidenswert guten Ruf in der Geschäftswelt.“
Matt erwiderte sein Lächeln.
„Danke George. Ich glaube, mit Ihrer Hilfe werde ich in der Lage sein, die Firma und die damit in Zusammenhang stehenden Projekte weiterzuführen.“
George tauschte einen kurzen Blick mit seinem Anwalt.
„Weil Sie es gerade erwähnen... Das Hauptprojekt der HSE ist doch momentan der Bau dieser gewaltigen, umfangreichen Ferienanlage?“
„Ja, ganz recht.“
„Nun, bevor wir die Verträge unterschreiben, die uns zu gleichberechtigten Partnern macht, muss ich Ihnen sagen, dass ich es nicht unbedingt gut heiße, wenn diese Ferienanlage weitergebaut wird.“
Matt zog erstaunt die Stirn in Falten.
„Darf ich fragen, was Sie daran stört?“
„Natürlich. Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich würde das Projekt boykottieren, aber nach reichlicher Überlegung halte ich es für unsinnig, ausgerechnet hier so einen Spielplatz für die Reichen und Schönen zu erbauen. Ich hätte eine andere Idee, deren Umsetzung in der momentanen Bauphase durchaus noch möglich wäre.“
Matt lehnte sich zurück und sah George Freeman abwartend an.
„Nur zu, George. Bis zum offiziellen Beginn der Vorstandssitzung haben wir noch etwas Zeit. Lassen Sie hören, was für einen Vorschlag Sie haben. Vielleicht lohnt es sich, ihn anschließend öffentlich zu diskutieren!“
*
Es war dunkel...
Nein, nicht ganz, da war ein Licht, es leuchtete auf, dann verschwand es. Da war es wieder, heller, größer, gleißender. Es blendete, ein riesiger Scheinwerfer, direkt vor ihm.
„Da ist er ja wieder. Er blinzelt“, hörte er eine bekannte Stimme dicht an seinem Ohr. „Mason? Können Sie mich hören? Öffnen Sie die Augen!“
Er wollte etwas sagen, doch es kam nur ein Krächzen aus seiner Kehle, die wie ausgetrocknet schien. Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er zwang sich die Augen zu öffnen. Zuerst war alles verschwommen, das grelle Licht des Scheinwerfers erwies sich als kleine Taschenlampe, mit deren Hilfe man die Reaktion seiner Pupillen auf Licht getestet hatte. Jetzt, da sie aus war, konnte er erste Umrisse im Zimmer erkennen. Und ein Gesicht, dicht über ihm...
„Mason? Erkennen Sie mich?“
Er versuchte zu schlucken und nickte.
„Doktor“, formten seine Lippen mühsam. „Doktor Pares.“
Ein zufriedenes Nicken war die Antwort. Dann die Frage, die ihn erleichtert aufseufzen ließ.
„Möchten Sie etwas trinken?“
Das Wasser, das kurz darauf seine Lippen benetzte, seine ausgetrocknete Mundhöhle erreichte und seine Kehle hinunter rann, belebte ihn neu.
´Jetzt weiß ich, warum Wasser Leben bedeutet´, dachte Mason und schluckte dankbar. Sofort fühlte er sich besser. Suchend blickte er sich im Zimmer um.
„Wo ist sie… Marina?“
„Sie erinnern sich also daran, dass Sie Besuch hatten?“ Dr. Pares atmete erleichtert auf, als Mason nickte.
„Ja. Sie war hier. Was ist passiert?“
„Nun, Danielle sagte mir, dass Sie wahrscheinlich zu schnell aufgestanden sind und ihnen schwindlig geworden sei“, erklärte der Arzt. „Daraufhin sind Sie gefallen. Sie sind mit dem Kopf aufgeschlagen und waren eine Weile bewusstlos.“
Mason zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.
Danielle war hier gewesen? Eigenartig, daran konnte er sich nicht erinnern.
Aber an Marina erinnerte er sich umso besser. Marina... Wahrscheinlich würde ihm heute keiner glauben, dass er sich damals tatsächlich in Matts Frau verliebt hatte. Sie war so sanft und so hübsch. Und nun war sie schwanger. Von ihm? Es konnte fast nicht anders sein. Warum sonst hatte sie plötzlich so heftig reagiert?
Er versuchte sich aufzusetzen, doch ein unvermittelt einsetzender furchtbarer Kopfschmerz hinderte ihn zunächst daran.
„Sie sollten noch etwas liegen bleiben“, mahnte Dr. Pares.
„Wo ist sie?“, wiederholte Mason beunruhigt.
„Sie wartet draußen.“
Erleichtert ließ er seinen schmerzenden Kopf zurück in die Kissen fallen.
„Ich fürchte, ich habe ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt“, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. „In ihrem Zustand sollte man nicht erschrecken.“
„Sie wissen also, dass sie schwanger ist?“
„Ja.“
Er wusste auch, dass er mit ihr darüber gestritten hatte, ob er der Vater des Kindes sei, und dass sie ihn zurückgestoßen hatte, aber das behielt er für sich.
„Das Baby muss von mir sein“, überlegte er stattdessen laut. „Wir hatten uns bereits getrennt, das heißt, sie wollte mich verlassen, da waren wir noch einmal zusammen.“
Dr. Pares beobachtete ihn aufmerksam.
„Hat Marina Ihnen das erzählt?“
„Nein, das weiß ich...“ Mason stutzte und sah seinen Arzt mit großen Augen an. „Das weiß ich!“, wiederholte er fast ungläubig, und plötzlich begannen seine Augen zu glänzen. „Doc! Ich erinnere mich daran, an Marina, an unsere gemeinsame Zeit in Europa und...“ Seine Miene verfinsterte sich schlagartig wieder „Und an unseren hässlichen Streit am Ende. Meine Güte, ich war furchtbar gemein zu ihr!“
Dr. Pares legte ihm erfreut seine Hand auf die Schulter.
„Sie erinnern sich? Das ist fantastisch!“
„Ja“, erwiderte Mason nachdenklich. „Fantastisch. Fragt sich nur, ob meine restlichen Erinnerungen auch so fantastisch sein werden.“
„Sie sollten sich erst einmal ein wenig ausruhen“, meinte Dr. Pares zufrieden. „Geben Sie Ihrem Gedächtnis Zeit, alles nach und nach zu reproduzieren. Und vor allem, regen Sie sich nicht unnötig auf.“
Mason nickte erschöpft. Mit seiner gesunden Hand tastete er über den frischen Verband an seinem Kopf.
Dr. Pares sah seinen fragenden Blick.
„Durch den Sturz ist die Operationsnarbe an einer Stelle ein wenig aufgeplatzt. Aber kein Grund zur Sorge, das heilt schnell wieder zu. Wir haben, während Sie schliefen, bereits ein CT gemacht, und ich kann Ihnen versichern, dass alles sehr gut aussieht. Ihr Kopf hat keinen weiteren Schaden genommen.“
Mason versuchte zu lächeln.
„Kann ich Marina sehen?“
„Ich würde vorschlagen, dass wir das auf morgen verschieben. Sie sind erschöpft, und denken Sie daran, Misses Cortez ist es auch.“
„Ja, das Baby“, murmelte Mason mit bereits schweren Augenlidern. „Dem Baby darf nichts geschehen.“
Kaum hatte sein Arzt den Raum verlassen, schlief er bereits tief und fest.
An diesem Nachmittag verließ Dr. Pares höchst zufrieden die Klinik. Alles deutete darauf hin, dass sein Patient langsam, aber sicher sein Erinnerungsvermögen zurückerlangte. Er war sich nur noch nicht im Klaren darüber, ob sich die Gedächtnisblockade in Masons Gehirn durch das unvermutete Wiedersehen mit Marina Cortez, oder vielmehr durch den darauffolgenden Sturz gelöst hatte, oder ob der Patient nach der schweren OP einfach zu traumatisiert gewesen war, um Erinnerungen zuzulassen.
Aber das würde er anhand seiner Studien vielleicht noch herausfinden. Wichtig war, dass Mason sich an alles erinnerte. Und noch wichtiger würde sein, ihm zu helfen, mit diesen Erinnerungen umgehen zu können, denn das, was er in der Vergangenheit getan hatte, war alles andere als angenehm.
Der Arzt atmete tief durch.
Mason würde jemanden brauchen, mit dem er über alles reden konnte.
Und William Pares würde gern dieser „Jemand“ sein. Wenn das alles hier irgendwann vorbei war, würde er ein Buch über Kraniotomie schreiben und darin seine neu gewonnenen Erkenntnisse und die Erfahrungen mit Mason Shelton veröffentlichen. Diese Aufzeichnungen könnten entscheidend dazu beitragen, die Medizin auf dem Gebiet der Gehirnchirurgie einen gewaltigen Schritt nach vorn zu bringen.
*
Lange, nachdem die Vorstandsmitglieder der HSE den Sitzungssaal verlassen hatten, saß Matt noch immer in seinem Chefsessel und starrte gedankenverloren auf den unerledigten Papierkram, der vor ihm auf dem Tisch lag. Nun endlich war bekannt, wer Edwards Aktienanteile erworben hatte, doch er wusste noch immer nicht so recht, was er davon halten sollte. Zugegeben, Freemans Pläne, was die Ferienanlage betraf, waren nicht die Schlechtesten, im Gegenteil, sie gefielen nicht nur ihm sehr gut, auch die meisten der Vorstandsmitglieder hatten sich lobend dazu geäußert.
George Freemans Konzept war klar und einfach: Er wollte statt des Ferienobjektes eine Klinik mit Kurzentrum bauen, und die umliegenden kleineren Medical Points aus Sunset City und Huntington darin integrieren.
Eine größere Klinik hier in der Gegend war lange überfällig, denn das Medical Center war viel zu klein und das Huntington Memorial alt und renovierungsbedürftig.
Allerdings würden diese Planänderungen das finanzielle Budget bei weitem übersteigen, und Matt wusste nicht, in wieweit er sich dahingehend auf den neuen Firmenpartner verlassen konnte. War es George wirklich ernst mit dieser Sache?
Aber er war sich sicher, dass George Freeman ihn im Grunde seines Herzens sehr gern mochte, und er fragte sich des Öfteren insgeheim, wie es möglich war, dass ein so cleverer Geschäftsmann wie er trotz seines Reichtums und seines jahrzehntelangen Erfolges und auch trotz seiner schweren Krankheit, die ihn in vielerlei Hinsicht handikapte, so bodenständig und umgänglich geblieben war und sich zudem eine recht gute Menschenkenntnis bewahrt hatte. Daran konnte sich so mancher Subunternehmer ein Beispiel nehmen.
Trotzdem hatte sich Matt eine gewisse Bedenkzeit erbeten.
Er musste seine Investoren informieren und konnte nur hoffen, dass diese sich auf Grund der Planänderungen nicht umgehend von dem Projekt zurückziehen würden. Außerdem wollte er noch einmal in aller Ruhe über alles nachdenken, und vielleicht war es auch gut, später noch einmal mit George Freeman allein und persönlich über das Ganze sprechen, bevor er eine endgültige Entscheidung traf.
Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.
Elisabeth steckte den Kopf durch den Türspalt.
„Falls Sie mich heute nicht mehr brauchen, würde ich sehr gerne...“
„Ja, gehen Sie nach Hause, Liz“, unterbrach er sie und nickte ihr freundlich zu. „Es war ein langer Tag.“
„Stimmt. Aber ein sehr erfolgreicher.“
„Das wird sich erst noch zeigen.“
„Wissen Sie schon, wie Sie sich entscheiden werden?“
„Um ehrlich zu sein, nein, ich bin noch nicht sicher.“
Elisabeth lächelte etwas gequält und nickte dann.
„Wie auch immer, ich weiß, Sie werden das Richtige tun, Matt. Bis morgen.“
„Bis morgen, Liz.“
Matt sah auf die Uhr.
Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Danielle in der Klinik anzurufen und ihr von den Neuigkeiten zu berichten. Doch er verwarf den Gedanken wieder. In gut zwei Stunden würde sie sowieso zu Hause sein. Vielleicht war es besser, ihr alles bei Kerzenschein und einem gemütlichen Abendessen zu erzählen.
Der Gedanke daran zauberte sofort ein Lächeln auf seine Lippen. Oh ja, ein romantischer Abend zu zweit war genau das, was er nach diesem Tag brauchte.
Lächelnd griff er zum Telefon, das genau in dieser Sekunde zu klingeln begann.
Erstaunt nahm er den Anruf an und meldete sich.
„Hören Sie gut zu, Mann“, knurrte eine unbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung. „Richten Sie Ihrem Geschäftspartner aus, wenn er nicht binnen achtundvierzig Stunden persönlich seine Schulden bezahlt, schicken wir ihm sein Töchterlein... Und zwar stückweise!“
„Wer spricht denn da?“
„Nun, sagen wir mal so - alte Geschäftsfreunde von Mr. Hamilton, die sich nicht gern für dumm verkaufen lassen. Mr. Hamilton wird genau wissen, an wen er sich wenden muss, wenn Sie ihm erzählen, was ich Ihnen gerade gesagt habe.“
„Aber... Edward Hamilton befindet sich momentan nicht mehr in Sunset City. Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält!“
„Dann finden Sie es doch einfach heraus, Mr. Shelton! Ansonsten... Nun ja, wie gesagt, bis jetzt geht es Miss Hamilton noch recht gut. Aber das kann sich sehr schnell ändern, denn unsere Geduld hat Grenzen.“
„Hören Sie, was auch immer Edward getan hat, lassen Sie bitte seine Tochter aus der Sache heraus, Sie hat mit all dem nichts zu tun!“
„Tja, so ist das im Leben, manchmal müssen die Kinder für die Schulden ihrer Eltern geradestehen.“
„Schulden?“, rief Matt und atmete tief durch. „Hat Edward Schulden bei Ihnen? Wenn es nur darum geht, werde ich sie für ihn begleichen. Sagen Sie mir, wieviel er Ihnen schuldet!“
„Nein, so läuft die Sache ganz sicher nicht. Wir wollen ihn, Edward Hamilton.“
„Aber ich sagte Ihnen doch bereits...“
„Wir melden uns wieder bei Ihnen.“