Während man den Verletzten vorsichtig auf eine Trage bettete und ins Innere der Notaufnahme brachte, nahm Danielle so gut wie nichts von dem wahr, was um sie herum geschah. Sie konnte nicht denken, sie funktionierte einfach. Wie im Trance verrichtete sie ihre Arbeit. Jeder Handgriff saß, und nur an ihrem versteinert wirkenden Gesicht konnte man erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war.
Matt... Er war es, der hier leblos dalag, mit bleichen Lippen und einer stark blutenden Kopfverletzung. Er hatte nach ihr gesucht und war in diesen Wagen gelaufen, dessen sturzbetrunkener Fahrer soeben von anderen Notärzten und Sanitätern behandelt wurde.
Wie aus weiter Ferne hörte sie die Worte der Ärzte, die Matt untersuchten.
„Verhärtete Bauchdecke lässt auf massive innere Blutungen schließen... umgehend zum Thorax- Röntgen... ein Ultraschall und ein Kopf- CT, um eine Schädelfraktur auszuschließen...“
Das klang insgesamt alles andere als gut.
„Halt durch, Matt... kämpfe! Für dich... Für uns!“, bat sie insgeheim, während sie routinemäßig die Vitalfunktionen des Patienten kontrollierte. Sie nannte die Werte und hängte auf Anordnung des behandelnden Notarztes eine weitere Blutkonserve an.
„Dani...“
Es war ein kaum wahrnehmbares Flüstern, das sie aufhorchen ließ. Doch bevor sie reagieren konnte, hatten die anderen es ebenfalls vernommen.
„Der Patient ist bei Bewusstsein!“ Der Arzt drängte sie eilig beiseite. „Können Sie mich hören, Sir? Wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen? Können Sie Ihre Beine bewegen?“
Danielle trat wieder an den Behandlungstisch heran.
„Matt... hörst du mich?“
Zitternd beobachtete sie, wie seine Augen nach ihr suchten, bevor seine Lider erneut zu flattern begannen. Sie beugte sich schnell zu ihm herunter.
„Hab keine Angst, Liebling, ich bin bei dir“, sagte sie leise und griff nach seiner Hand, bevor sie erneut zur Seite geschoben wurde.
„Schnell, er wird wieder bewusstlos!“ Der Arzt nahm die Spritze, die man ihm reichte und verabreichte dem Patienten das notwendige Mittel. Als die erwünschte Reaktion jedoch ausblieb, galt es, schnell zu handeln.
„Atemstillstand!“, bestätigte eine der Schwestern, und Danielle kam es so vor, als würde auch ihr der Atem stocken, als auf dem Monitor mit durchdringendem Piepton eine Nulllinie erschien.
„Reanimieren“, rief der Arzt und langte nach den Paddles. „Laden auf Dreihundert...“ Ein beängstigendes Summen ertönte.
Der Arzt setzte die Paddles auf die entblößte Brust des Patienten.
„Weg vom Tisch!“, befahl er, damit keiner der Umstehenden in der Eile aus Versehen einen Stromschlag erlitt.
Bei dem unmittelbar darauf folgenden Reanimations-Impuls bäumte sich der Körper des Patienten kurz auf. Die Nulllinie auf dem Monitor blieb.
„Nochmal das Ganze. Weg vom Tisch!“
Es tat Danielle unbeschreiblich weh, zusehen zu müssen, was hier mit Matt geschah. Sie hatte noch nie in ihrem Leben gebetet, doch jetzt brannten ihr die Worte auf den Lippen: „Lieber Gott, hilf ihm! Lass nicht zu, dass er stirbt!“
Als hätte man sie tatsächlich erhört, kündigte das Piepsen auf dem Monitor plötzlich wieder einen Herzschlag an.
Erleichtert atmeten alle auf.
„Intubation-Set!“, verlangte der Arzt und führte dem bewusstlosen Patienten mit geübten Handgriffen einen Sauerstoffschlauch in die Luftröhre ein. „So, und nun ab mit ihm in den OP! Jetzt zählt jede Sekunde!“
*
Long Beach Untersuchungsgefängnis
In dem düsteren kahlen Besucherraum des Untersuchungsgefängnisses von Long Beach gab es nur ein einziges, vergittertes Fenster. Es war winzig und befand sich so weit oben, dass man nicht hindurchsehen konnte. Wozu auch, man würde ja doch nur die deprimierend grauen Mauern erblicken, hinter denen sich der Zellentrakt befand, in dem die Häftlinge einsaßen und auf ihre Verhandlungen warteten.
Untersuchungs-Häftlinge wie Edward Hamilton.
Er saß seiner Frau gegenüber in dem Besucherraum und konnte es nach wie vor nicht fassen, was hier mit ihm geschah. Wie konnte man es wagen, ihn, den einflussreichsten Geschäftsmann in der ganzen Umgebung, einfach so zu verhaften und einzusperren wie einen Kriminellen! Das würde ein Nachspiel haben! Wenn er erst einmal hier raus war...
Er bemerkte Sophias Blicke, die immer wieder wie hilfesuchend hinauf zu dem winzigen Fenster wanderten. Er kannte ihre leicht klaustrophobische Veranlagung und wusste, dass ihr enge, abgeschlossene Räume Unbehagen bereiteten. Es musste sie große Überwindung kosten, hier so ruhig zu sitzen. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Es ging schließlich um seinen Hals, und den wollte er so schnell wie nur möglich aus der Schlinge ziehen, ohne das sein Ruf und seine Existenz allzu großen Schaden nahmen, wenn das überhaupt noch machbar war.
„Sie durchsuchen dein Büro“, flüsterte Sophia leise
„Verdammt!“ Edward knirschte mit den Zähnen. „Woher weißt du das?“
„Matt hat mich heute Vormittag darüber informiert, dass die Staatsanwaltschaft jede Akte umdreht und konfisziert.“ Sie beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. „Werden sie etwas finden, das dich belastet?“
Edward fluchte abermals leise.
„Natürlich nicht“, zischte er.
„So oder so, du solltest dich auf jeden Fall kooperativ verhalten, egal was sie sagen, dann wird Andrew dich sicher bald aus diesem schrecklichen Gefängnis herausholen“, versuchte Sophia ihren Mann zu überzeugen.
„Das will ich ihm aber auch geraten haben“, knurrte er, besann sich jedoch, als er die Angst in ihren Augen sah und griff über den breiten Tisch hinweg nach ihrer Hand.
„Ich bin schneller wieder draußen, als alle glauben.“
„Keinen Körperkontakt!“, bellte der Sicherheitsbeamte, der bisher mit unbeteiligtem Gesicht neben der Tür gesessen hatte. „Besser, Sie gewöhnen sich schon mal daran“, fügte er sarkastisch hinzu.
Edward schluckte die bissige Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter und zog mit einem giftigen Blick auf den Beamten seine Hand zurück.
„Wie meinst du das?“, flüsterte Sophia nach seiner letzten Bemerkung gespannt.
„Sie sind bereit, mich gegen Kaution herauszulassen.“
„Sprechen Sie lauter“, erklang wieder die Stimme des Beamten, der sie nun nicht mehr aus den Augen ließ. Sophia beachtete ihn gar nicht. Ein hoffnungsvolles Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Ist das wahr?“
Er nickte etwas zögernd.
„Ja. Da gibt es nur ein kleines Problem. Diese Geier haben die Kaution verdammt hoch angesetzt.“
„Wie hoch genau?“, wollte Sophia wissen.
Edward warf dem Beamten einen prüfenden Blick zu. Als er sah, dass dieser sie nach wie vor beobachtete, presste er wütend die Lippen aufeinander.
„Viel zu hoch. Ich kann so viel Geld momentan nicht flüssig machen.“
Ungläubig zog Sophia die Augenbrauen zusammen.
„Aber wir haben doch...“
„Schsch“, zischte Edward. „Ich habe einiges investiert, wie du weißt“, erwiderte er ungeduldig. „In die Villa, ins Geschäft... Vor allem ins Geschäft.“
„Und an das Geld kommst du nicht heran?“
„Im Augenblick nicht.“
Sophia sah ihn verzweifelt an.
„Ich könnte meinen Schmuck...“, begann sie nach einem Ausweg zu suchen, doch er unterbrach sie ungehalten.
„Vergiss es, Sophia. Verstehst du denn nicht? Die Summe ist zu hoch! Die wittern eine einmalige Chance, einem angesehenen Bürger etwas anzuhängen, und das wollen sie sich natürlich nicht entgehen lassen.“
„Und nun?“
Der Beamte sah auf die Uhr und stand auf.
„Die Besuchszeit ist um. Kommen Sie, Hamilton, ich bringe Sie in Ihre gemütliche Zelle zurück!“ Unmissverständlich klapperte er mit den Handschellen.
Edward stand auf.
„Geh nach Hause und ruf Matt an“, sagte er schnell. „Er soll sofort herkommen. Noch heute. Er muss mir helfen und die Kaution zahlen, wenn es nicht anders geht, von seinem Privatkonto.“
Sophia schluckte und nickte.
„Bis bald, Liebling!“
Mit brennenden Augen sah sie ihm nach, wie er mit dem Beamten hinter der schweren Eisentür verschwand, bevor sie selbst fluchtartig den ungastlichen Raum verließ.
*
Danielle kam erst wieder richtig zu sich, als sich die großen Flügeltüren, die zum OP führten, mit automatischem Summen hinter ihr schlossen. Sie lehnte sich gegen die kühle Wand und fuhr sich über die schmerzende Stirn.
„Du wirst es schaffen, Matt“, flüsterte sie. „Du musst es schaffen! Für uns!“
Erschrocken fuhr sie herum, als die Türen sich noch einmal öffneten.
Eine der OP- Schwestern sah heraus.
„Gut, dass du noch da bist, Danielle“, rief sie hinter ihrem Mundschutz. „Könntest du bitte versuchen, Doktor O`Malley zu erreichen? Wir brauchen dringend seine Hilfe.“
„Ja, natürlich!“ Danielle überlegte nicht lange. Auf den Piepser wollte sie sich in dem Fall nicht verlassen. Jede Sekunde zählte, hatte der Arzt gesagt.
Mit zitternden Fingern wählte sie Johns private Handynummer.
*
Nach Kates letzten Worten schien die Zeit für Sekunden stillzustehen, während John und sie einander unverwandt anstarrten. Das geschäftige Treiben in dem kleinen Lokal schienen sie überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Es gab nur sie beide.
„Du bist also wirklich wegen mir hergekommen?“, fragte John nach einer kleinen Ewigkeit leise.
Kate schluckte und nickte dann.
„Ja. Ich wollte dich unbedingt wiedersehen, Mall.“
Er dachte daran, wie sehr er lange Zeit unter der Trennung von ihr gelitten hatte und wie schwer es ihm gefallen war, hier ganz neu anzufangen.
„Ist das alles?“, fragte er, nicht ohne Bitterkeit.
„Du weißt ja, dass mir Entschuldigungen nicht sonderlich liegen“, erwiderte sie mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. „Dennoch, ich weiß, ich war dumm und selbstsüchtig. Ich wollte mich nicht binden, weil ich Angst hatte, jede Ehe würde so enden wie die meiner Eltern. Oder wie meine eigene. In einer Katastrophe.“
„Und nun denkst du das nicht mehr?“
Kate hob die Schultern.
„Keine Ahnung. Vielleicht bin ich inzwischen etwas risikobereiter als früher.“
John schwieg noch eine Weile nachdenklich. Er kannte Kate lange genug, um zu wissen, welche Überwindung sie dieses Eingeständnis kosten musste. Doch das aufkommende Glücksgefühl, das sich daraufhin in seinem Inneren ausbreitete, kämpfte gegen den Gedanken an die Enttäuschung, die er empfunden hatte, als Kate ihm damals sagte, sie wolle keine feste Beziehung,
Was, wenn sie nach einer Weile wieder einen Rückzieher machte?
Das würde er nicht noch einmal überleben.
„John?“ Zwei braune Augen blickten ihn fragend an. Sein Vorname klang aus ihrem Munde fremd. Solange er denken konnte, hatte sie ihn immer kumpelhaft „Mall“ genannt, eine Abwandlung seines irischen Familiennamens. Er lächelte etwas gequält.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Kate“, meinte er aufrichtig. „Ich freue mich, dass du hier bist. Aber inzwischen ist ziemlich viel Zeit vergangen. Es hat sich eine Menge verändert.“
„Ist es wegen dieser jungen Krankenschwester?“, forschte Kate vorsichtig.
„Danielle hat damit nichts zu tun.“
„Dann gibt es niemand anderen in deinem Leben?“
John hörte die Hoffnung, die in diesen Worten mitklang.
„Nein, momentan nicht“, sagte er und lächelte. „Das heißt aber nicht, dass ich bereit bin, alte Beziehungen wieder aufleben zu lassen. Die Trennung von dir hat verdammt wehgetan.“ Er sah die Enttäuschung in ihren Augen und griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. „Gib uns einfach noch etwas Zeit.“
Kate atmete tief durch.
„Okay. Das ist mehr, als ich erwarten durfte.“
John lächelte.
„Es ist schön, dass du da bist, Kate“, sagte er leise. „Und es wäre noch viel schöner, wenn du bleiben würdest.“
In diesem Augenblick begann sein Handy zu läuten.
Etwas unwillig über die Störung zog er es aus der Tasche und blickte aufs Display.
„Es ist Danielle“, erklärte er entschuldigend, bevor er das Gespräch annahm. „Was gibt es denn?“ Er lauschte angespannt. „Wer?... Das kann nicht wahr sein... Ein Unfall? Was, so schlimm?... Sie operieren ihn? ... Nein, natürlich nicht… Bleib ganz ruhig, ich bin schon unterwegs!“
„Was ist denn los?“, fragte Kate hastig, als John das Gespräch beendet hatte.
„Es gab einen schweren Unfall, ein guter Freund von Danielle. Ich muss sofort hin, sie brauchen mich im OP.“
„Ich komme mit“, rief Kate kurzentschlossen und sprang auf, während John hastig ein paar Geldscheine für das Essen auf den Tisch zählte.
Eilig verließen sie das Lokal.
*
„Das werde ich Daddy nie verzeihen, niemals!“
Caroline ließ sich auf das breite Bett fallen und presste verbittert die Lippen aufeinander.
Dean, der damit beschäftigt war, seine Sachen in einen der riesigen begehbaren Kleiderschränke zu räumen, hielt lächelnd inne. Caroline hatte ihn nach dem gestrigen Desaster dazu überredet, ihrer Mutter zuliebe das Angebot ihrer Eltern anzunehmen, und den Westflügel der neu aufgebauten Villa zu beziehen. So war Sophia wenigstens nicht allein in dem großen Haus. In Zeiten wie diesen musste eine Familie zusammenhalten.
Caroline schluckte.
Eine Familie? Das war einmal.
Sobald man ihren Vater aus der Untersuchungshaft entließ, und sie zweifelte bei seinen Beziehungen keine Sekunde daran, dass dies sehr bald geschähe, würde sie sich mit Dean ein eigenes Zuhause suchen. Am besten weit weg von ihrem Elternhaus. Sie hatte ein für alle Mal genug von Edwards Eskapaden. Ihre Mutter musste lernen, endlich allein mit ihren Problemen klarzukommen, und ihr jüngerer Bruder Corey lebte schon lange sein eigenes Leben, weil er sich die ständige Kontrolle und Bevormundung nicht ertragen konnte.
„Du solltest dir nicht allzu viel Mühe damit machen“, kommentierte Caroline die etwas linkischen Räumversuche ihres frischangetrauten Ehemannes. „Ich schätze, wir werden nicht lange hier sein.“
Erstaunt hielt Dean inne.
„Wie meinst du das?“
„Sobald mein Vater wieder zu Hause ist, suchen wir uns etwas Eigenes.“
„Aber dieser Westflügel ist doch so groß wie ein eigenes Haus“, gab Dean zu bedenken. „Wir könnten den Zugang zum Haupthaus zumauern lassen, dann sind wir ganz für uns.“
Caroline lachte spöttisch.
„Du kennst meinen Vater schlecht, mein Lieber. Um uns zu kontrollieren, gräbt er sich durch meterdickes Mauerwerk! Du musst mit allem rechnen, sogar mit heimlicher Videoüberwachung! Er ist wie ein Albtraum!“
Dean verzog das Gesicht und sah sich misstrauisch um.
Insgeheim bedauerte er es, dass sie aus Mitchs Haus ausgezogen waren. Dort war es zwar eng gewesen, aber dafür urgemütlich. Aber er war gleichzeitig auch froh darüber, mit Caroline endlich etwas Zeit allein verbringen zu können. Schließlich waren sie verheiratet. Eine Tatsache, die er noch gar nicht so richtig begriffen hatte.
Alles war ziemlich schnell gegangen. Nie hätte er für möglich gehalten, sich so kurz nach seiner Trennung von Chelsea neu zu verlieben. Caroline war wie ein heller Sonnenstrahl in sein Leben geplatzt, als er gerade an einem Tiefpunkt seines Lebens angekommen und am Boden zerstört war. Fast schon hatte er seinen Traum aufgegeben, doch sie hatte ihm völlig selbstlos ihre Hilfe angeboten und zeigte sich von einer Seite, die er von Edwards angeblich so verwöhntem Töchterlein niemals erwartet hätte. Obwohl sie in Reichtum und Wohlstand aufgewachsen war, wusste sie die Werte des Lebens mehr zu schätzen als materielle Dinge, eine Charaktereigenschaft, die sie ganz gewiss nicht aus der Erziehung ihres Vaters resultierte.
Als sie beide nach Carolines Entlassung aus der Klinik gemeinsam über der Abrechnung für das OCEANS saßen und die Kosten für die nach dem Einsturz dringend notwendige Neusanierung des Kellers überschlugen, hatte Dean ihr erzählt, dass ihr Vater in aller Öffentlichkeit damit drohte, ihr privates Konto zu sperren. Sie hatte sehr empört reagiert, denn sie wusste genau, dass ihm das ohne weiteres zuzutrauen war. „Dann heiraten wir eben!“, hatte sie gemeint und zunächst über ihren Einfall gelacht. Als sie jedoch am Morgen danach in seinen Armen aufgewacht war, hatte er sie spontan gefragt, ob sie ihn auch ohne die Drohung ihres Vaters heiraten würde. Und genauso spontan hatte Caroline zugestimmt.
Also besorgten sie sich im Rathaus eine Heiratserlaubnis und flogen heimlich am Tag der Einweihungsfeier nach Las Vegas. Nur ihre beiden Mitbewohner Luke und Robyn, die an diesem Tag zufällig Zeit hatten, wurden in ihre Pläne eingeweiht und standen kurzentschlossen als Trauzeugen zur Verfügung.
Nach ihrer Rückkehr als Mister und Misses Lockwood hatten sich die Ereignisse dann förmlich überschlagen.
Dean schob den kleinen Stapel Shirts unschlüssig von einer Ecke des Schrankfaches in die andere. Er konnte tun, was er wollte, seine paar Sachen verloren sich förmlich in diesem riesigen Teil. Luxus war er nicht gewohnt, sein Zuhause war stets einfach und übersehbar gewesen, und hier hatte man schon seine Not, sich nicht bereits im Kleiderschrank zu verlaufen.
Schließlich resignierte er seufzend, ließ die Shirts achtlos liegen und setzte sich neben Caroline aufs Bett. Liebevoll legte er den Arm um seine junge Frau, denn er spürte, dass die angespannte Situation in ihrem Elternhaus und vor allem das Verhalten ihres Vaters sie trotz allem belastete.
„Komm schon, Schatz, nimm es nicht so schwer. Auch wenn dein Vater ein paar kleine Fehler gemacht hat...“
„Ein paar kleine Fehler?“, schnaubte Caroline erbost. „Dean, mein Vater lügt, kontrolliert und manipuliert, solange ich denken kann, und es ist mehr als verwunderlich, dass man ihm erst jetzt auf die Schliche gekommen ist! Und das nennst du ein paar kleine Fehler?“ Sie schüttelte verbittert den Kopf. „Einer dieser Fehler hätte mich fast umgebracht.“
„Aber das war gewiss nicht seine Absicht, Cary“, beschwichtigte Dean sie. Er konnte sich zwar selbst nicht so recht erklären, wieso er für Edward Partei ergriff. Er hätte doch eigentlich allen Grund zur Schadenfreude, jetzt, wo dieser Mann hinter Gittern saß. Aber Edward war Carolines Vater, und Dean wusste, dass sie ihn trotz allem liebte. „Ich bin sicher, egal was dein Vater auch getan haben mag, es war zum Wohle der Familie.“
Caroline verdrehte die Augen.
„Die Familie! Sei bloß still, ich kann diesen Unsinn nicht mehr hören.“
Dean strich ihr beruhigend über das seidige blonde Haar, und seine Augen blickten nachdenklich.
„Weißt du Cary, in gewisser Hinsicht kann ich ihn sogar verstehen. Ich würde auch alles für meine Familie tun, für meine Frau, meine Kinder.“
Sie horchte auf.
„Kinder? Hast du eben Kinder gesagt?“
Dean nickte.
„Natürlich. Es muss ja nicht sofort sein, aber irgendwann vielleicht, falls du nichts dagegen hast.“
„Nein“, erwiderte sie mit einem energischen Kopfschütteln. „Ich habe nichts dagegen. Ganz im Gegenteil!“
Dean grinste.
„Wunderbar, dann sind wir uns ja einig. Lass uns am besten gleich ein wenig üben.“
Caroline lachte und umarmte ihn.
„Hey, es muss ja nicht alles so schnell gehen wie unsere Hochzeit!“
Er zog sie dicht zu sich heran und suchte ihre Lippen.
„Aber wo wir schon einmal beim Thema sind“, flüsterte er zwischen seinen Küssen, während sie beide rücklings aufs Bett fielen. „Dazu fällt mir gerade eine ganze Menge ein…“
Das Läuten des Telefons beendete abrupt die romantische Stimmung des jungen Paares.
„Na toll, immer im passendsten Augenblick“, knurrte Dean unwillig.
Caroline rappelte sich auf und lächelte entschuldigend.
„Tut mir Leid, Liebling, ich habe Rosita gebeten, mich anzurufen, wenn Mum nach Hause kommt. Eine Sekunde.“
Sie nahm das Gespräch an.
„Rosi? Ja natürlich, sagen Sie ihr bitte, wir kommen gleich hinüber.“
„Was ist los?“, fragte Dean, als sie aufgelegt hatte.
Caroline sah ihn nachdenklich an.
„Rosita sagte, meine Mutter sei eben ziemlich aufgeregt von ihrem Besuch im Untersuchungsgefängnis zurückgekehrt. Anscheinend gibt es Neuigkeiten.“
„Okay.“ Nicht ohne Bedauern stand Dean auf und zog Caroline mit sich hoch. „Dann müssen wir unsere Pläne leider auf später verschieben. Lass uns gehen.“
*
Sophia tupfte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Nervös knetete sie das Tuch in den Händen, während sie Dean und Caroline von ihrem Besuch im Untersuchungsgefängnis und dem Gespräch mit Edward berichtete.
„Ich habe schon zweimal versucht, Matt zu erreichen, aber keiner weiß, wo er sich momentan aufhält. Sein Handy ist ausgeschaltet, und seine Sekretärin sagte nur, er hätte einen dringenden Termin, und es könnte sein, dass er länger unterwegs wäre.“
„Ich fasse es nicht“, entfuhr es Dean. „Ihr seid die reichste Familie der ganzen Stadt und könnt kein Geld flüssig machen?“
„Ich kümmere mich nicht um die finanziellen Angelegenheiten“, erklärte Sophia entschuldigend.
„Dann solltest du vielleicht ab jetzt endlich damit beginnen, Mom“, meinte Caroline vorwurfsvoll. „Schließlich bist du seine Frau und nicht nur schmückendes Beiwerk!“
„Caroline“, rief Sophia empört. „Wie kannst du so etwas sagen!“
„Weil es die Wahrheit ist. Ich habe viel zu lange geschwiegen.“
„Moment mal...“ Dean hob die Hand. „Jetzt ist wirklich nicht die Zeit, sich über Dinge zu streiten, die sich sowieso nicht mehr ändern lassen.“ Er wandte sich an Sophia. „Sie möchten, dass er auf freien Fuß gesetzt wird?“
Sie nickte heftig. „Ja natürlich!“
Dean dachte noch einen Augenblick angestrengt nach, dann lächelte er.
„Na gut. Misses Hamilton. Kann ich mir für eine Stunde Ihren Wagen leihen?“
„Ja, sicher! Er steht in der Einfahrt.“ Erstaunt kramte Sophia die Wagenschlüssel aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. „Und bitte nenn mich Sophia, schließlich bist du jetzt mein Schwiegersohn!“
Er grinste.
„Daran muss ich mich erst gewöhnen… Sophia.“
„Dean, was hast du denn vor?“, rief Caroline überrascht.
„Ich will versuchen, dieser Farce ein Ende zu bereiten“, erwiderte er bedeutungsvoll. „Ich werde deinen Vater aus der Untersuchungshaft herausholen.“
Ungläubig schüttelte Caroline den Kopf.
„Und wie willst du das anstellen?“
Er lächelte vielsagend.
„Lass mich nur machen, ich habe da so eine Idee.“
*
Long Beach Untersuchungsgefängnis
Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde Edward in den Besucherraum geführt. Man hatte ihm nicht gesagt, wer ihn besuchen wollte, aber er rechnete damit, Matt zu sehen. Umso erstaunter war er, als er den Raum betrat und Dean gegenüberstand.
„Was zum Teufel tun Sie denn hier, Lockwood? Wollen Sie sich an meinem Unglück weiden?“
„Hinsetzen!“, befahl der Sicherheitsbeamte streng.
Die beiden Männer nahmen gegenüber Platz.
„Wieso sollte ich mich freuen, wenn Sie hier drin sitzen, Schwiegervater?“, fragte Dean mit einem unschuldigen Lächeln, das Edward genauso zur Weißglut brachte wie diese in seinen Augen unverschämt anmaßende Anrede. „Immerhin gehöre ich jetzt zur Familie, und somit steht auch mein guter Ruf auf dem Spiel.“
„Was wollen Sie?“, zischte der Immobilien-Mogul mit wütend zusammengebissenen Zähnen.
„Ich will Ihnen helfen“, erwiderte Dean, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Ich bin bereit, die Kaution für Sie zu zahlen.“
„Sie?“ rief Edward ungläubig. “Soll das ein verdammter Scherz sein?”
„Ich bin bestimmt nicht bis hierher gefahren, nur um mit Ihnen zu scherzen. Also, wollen Sie nun hier raus oder nicht?“
Edward starrte ihn finster an.
„Matt Shelton wird mir helfen.“
„Wird er nicht“, widersprach Dean. „Er ist verreist, und keiner weiß, wo er sich derzeit aufhält. Nicht einmal seine engsten Mitarbeiter. Sein Handy ist ausgeschalten.“
Edward ballte die Fäuste. Es schien, als habe sich alle Welt gegen ihn verschworen. Sein misstrauischer Blick fiel wieder auf Dean.
„Was hätten Sie denn schon für Sicherheiten zu bieten?“
Dean grinste.
„Dreimal dürfen Sie raten, geschätzter Schwiegervater. Oder glauben Sie ernsthaft, ein Objekt, bei dem der große Edward Hamilton einst fetten Profit gewittert und sich vielleicht sogar die Finger dafür schmutzig gemacht hat, um in seinen Besitz zu gelangen, würde die Staatsanwaltschaft nicht interessieren?“
Edward hielt die Luft an.
„Sie meinen, Sie bieten das OCEANS als Kaution für mich?“
„So ist es.“ Dean konnte förmlich sehen, wie es hinter Edwards Stirn arbeitete und lachte spöttisch. „Oh ja, ich weiß genau, was Sie jetzt denken! Das können Sie allerdings gleich wieder vergessen, denn dieses Mal sollten Sie sich besser damit abfinden, dass wir nach meinen Spielregeln spielen, wenn Sie hier herauswollen.“
Edward schielte nach dem Beamten und stellte erleichtert fest, dass dieser eingenickt war. Mit einem Blick, der dem eines verschlagenen Schakals glich, wandte er sich wieder seinem Schwiegersohn zu.
„Was ist, wenn ich mich nicht an die Abmachung halte?“
„Dann verlieren Caroline und ich das OCEANS“, erwiderte Dean ungerührt und beugte sich langsam vor. Die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt sah er Edward eindringlich an. „Und in dem Augenblick, in dem wir das OCEANS verlieren“, spann er den Faden weiter „verlieren Sie Ihre Tochter. Denn dann werde ich meine Sachen packen und von hier weggehen, sehr weit weg. Und Caroline wird mir folgen, weil uns beide dann nichts mehr in Sunset City hält.“
„Das wird sie nicht“, widersprach Edward grimmig, doch seine Stimme klang bei weitem nicht mehr so sicher.
Dean nickte.
„Oh doch, Edward, das wird sie. Wenn Sie uns nämlich reinlegen, wird sie das letzte bisschen Vertrauen verlieren, dass sie vielleicht noch in ihren Vater hat. Sie wird mir folgen, darauf können Sie Ihre Millionen und Ihren Arsch verwetten. Dann haben Sie am Ende weder das OCEANS, noch eine Tochter.“ Er lehnte sich wieder entspannt zurück. „Also, Sie sehen, mein Lieber, egal, wie Sie es drehen, diesmal sitze ich am längeren Hebel.“
Edward knirschte mit den Zähnen. Er wusste genau, dass Dean Recht hatte. Zum Teufel, der Junge war cleverer als er dachte.
Außerdem war ihm längst klar, dass ihm keine andere Wahl blieb. Er musste auf das Angebot eingehen. Matt war nicht erreichbar, und er selbst hätte zwar die Summe für die Kaution auftreiben können, aber die dafür notwendigen Anrufe konnte er unmöglich vom Gefängnis aus erledigen. Außerdem würde er um nichts in der Welt noch eine Nacht länger als nötig hier bleiben.
„Also gut“, nickte er. „Ich nehme Ihr Angebot an. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich werde gewiss nicht gegen die richterlichen Auflagen verstoßen. Sie können Ihre verdammte Bar behalten.“
„Etwas anderes hatte ich nicht erwartet“, erwiderte Dean gelassen und erhob sich. „Ich werde morgen mit dem Untersuchungsrichter reden und die Sache klären.“
„Morgen?“ Edward wurde blass. „Wieso regeln Sie das nicht gleich heute?“
„Tut mir leid, aber in einer Stunde öffnet das OCEANS, und ich kann es mir nicht leisten, meine Gäste warten zu lassen. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde mich gleich morgen früh persönlich um die Angelegenheit kümmern. Einen schönen Tag noch, Schwiegervater!“
Er gab dem Officer, der erschrocken von seinem Nickerchen hochfuhr, ein Zeichen und verließ mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen den Besucherraum, einen vor Wut schäumenden Untersuchungs-Häftling hinter sich zurücklassend.
*
Nach dem Anruf fühlte Danielle sich wie ausgelaugt, so als habe das kurze Telefonat ihre ganze restliche Kraft gekostet. John war auf dem Weg hierher. Er würde dafür sorgen, dass alles Menschenmögliche getan wurde, um Matt am Leben zu erhalten. Obwohl sie unsagbar erleichtert darüber war, zitterten ihre Knie, und sie kam sich so hilflos vor wie noch nie in ihrem Leben.
Was, wenn Matt die schwere Operation trotzdem nicht überlebte?
Shelby, die Schwester von der Aufnahme, kam den Gang entlang geeilt und riss Danielle aus ihren Gedanken.
„Ach, da steckst du. Ich habe dich schon gesucht. Hier sind die Sachen des verunglückten Patienten. Würdest du sie bitte, bevor du nach Hause gehst, auf der Wachstation abgeben?“
Danielle löste nur mit Mühe ihren Blick von der verschlossenen Tür, die zum OP führte und nickte abwesend.
„Ja, natürlich.“
Shelby sah die tiefe Besorgnis in ihrem Gesicht und legte ihr für einen Moment mitfühlend die Hand auf die Schulter.
„Ist er ein Freund von dir?“
„Ein Freund?“ Danielle schluckte mühsam die aufsteigenden Tränen hinunter. „Matt ist viel mehr als nur ein Freund für mich.“
„Verstehe.“ Die Schwester lächelte verständnisvoll und übergab Danielle die Sachen. „Es hat ihn ziemlich erwischt, was? Aber der wird schon wieder, du weißt doch, er ist in den besten Händen.“ Sie wollte bereits gehen, doch Danielles letzte Worte ließen sie nachhaltig zögern. „Sag mal... Wieso nennst du ihn eigentlich Matt? In den Papieren, die er bei sich hatte, steht ein ganz anderer Name.“
Danielle blickte irritiert auf.
„Was?“
„Ich habe seine Personalien eben in den Computer eingegeben. Der heißt doch überhaupt nicht Matt. Wenn ich mich recht erinnere, ist sein Name Mason. Mason Castillo.“