Santa Monica Mountains
Der Abschied von George Freeman fand auf seinen Wunsch hin in aller Stille in seinem engsten Familienkreis statt. Auf dieselbe Art, wie der Multimillionär gelebt hatte, verabschiedete er sich auch von dieser Welt: Still und bescheiden, ohne viel Aufsehen. Roger und seine Mitarbeiter hatten es die ihr eigene professionelle Art verstanden, die Medien weitgehend fernzuhalten und das Anwesen an diesem traurigen Tag durch zusätzliche Security von der Öffentlichkeit abzuschirmen.
Zudem hatte Roger im Namen des Verstorbenen den Wunsch kundgetan, von Beileids-Bekundungen und teuren Blumengestecken Abstand zu nehmen, und stattdessen für die drei Waisenhäuser in Tokio zu spenden, deren Patenschaft FREEMAN ELECTRONICS bereits vor vielen Jahren übernommen hatte.
Gemeinsam mit Matt trat Danielle als eine der Letzten an Georges offenes Grab. Ihre Hand zitterte, als sie die weiße Rose, die aus seinem geliebten Rosengarten in den Santa Monica Mountains stammte, auf den Sarg niederlegte.
„Leb wohl, George“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Du warst einer der besten Menschen, die mir je begegnet sind. In der kurzen Zeit, in der wir uns kannten, warst du wie ein Vater zu mir. Du hast mir beigestanden, als es mir schlecht ging. Mein Leben ist nun wieder in Ordnung, und ich bin glücklich mit Matt. Du hast mir gesagt, ich soll meine Träume leben, und genau das werde ich tun, das verspreche ich dir. Und nun Ruhe in Frieden.“
Als der mahagonifarbene Sarg langsam in die Erde hinabgelassen wurde, griff Danielle haltsuchend nach Matts Hand. Noch vor wenigen Minuten hatte John eine kurze Rede am Grab seines Vaters gehalten. Er hatte sie nicht vorbereitet, sondern einfach ausgesprochen, was er in dieser Stunde des Abschieds fühlte.
Jedes einzelne seiner bewegenden Worte hatte sich in Danielles Gedächtnis eingeprägt:
„...einer meiner Gründe hierher nach Kalifornien zu kommen, war der Wunsch, meinem leiblichen Vater zu begegnen, dessen wahre Identität ich erst kurz vor dem Tod meiner Mutter erfahren hatte. Leider fehlte mir der Mut, ihm persönlich gegenüberzutreten und mich ihm zu offenbaren. Erst durch einen Zufall wurden wir einander vorgestellt. Nachdem ich George persönlich kennengelernt hatte, wurde mir klar, warum meine Mutter ihn so sehr geliebt hat. Er war ein gütiger, ehrlicher und humorvoller Mensch, der sich seinen Wohlstand hart erarbeitet hatte, und der trotz seines Reichtums immer bescheiden und sich selbst treu geblieben war.
Und genauso werde ich dich in Erinnerung behalten, George Freeman.
Ich hätte mir noch etwas mehr Zeit mit dir gemeinsam gewünscht. Wir haben uns gefunden und doch gleich wieder verloren. Aber ich bin dankbar für jede Stunde, die ich noch mit dir gemeinsam verleben durfte. Leb wohl und ruhe in Frieden... Vater!“
*
Sie hatten im Rosengarten Platz genommen.
Danielle saß zwischen Matt und John und erinnerte sich mit bangem Gefühl daran, wie gut sie sich jedes Mal, wenn sie hier zu Besuch gewesen war, gefühlt hatte. Die Ruhe und die klare, von zartem Rosenduft durchwirkte Luft hatten etwas Einzigartiges. Es war, als würden Traum und Wirklichkeit an diesem Ort miteinander verschmelzen. Vielleicht hatte George den Garten genau aus diesem Grund so geliebt. Immer wieder wanderte ihr Blick hinüber zu dem leeren Sessel, in dem er so gern gesessen hatte. Für einen kurzen Augenblick schien es ihr so, als säße er auch heute dort, mitten unter ihnen, unsichtbar, aber allgegenwärtig.
Erst vor wenigen Tagen hatten sie beide auf dieser Terrasse inmitten der prächtigen Rosen gesessen, Limonade getrunken und sich unterhalten. Danielle konnte sich an jede Einzelheit, jedes Wort erinnern, und sie erinnerte sich auch daran, wie diese Umgebung nach einem langen anstrengenden Arbeitstag in der Klinik auf sie gewirkt hatte: friedvoll, beruhigend und wohltuend.
Heute war das anders.
Dieses beklemmende Gefühl, das ihr das Atmen erschwerte, wollte einfach nicht weichen. Sie wusste genau, woran das lag.
Alle Anwesenden wussten es.
Er war nicht mehr da, der Mann, der dieses Haus und diesen herrlichen blühenden Garten mit Leben erfüllt hatte, obwohl er selbst einige schwere Schicksalsschläge hatte hinnehmen müssen. Aber er hatte nie aufgegeben und war sich immer treu geblieben, sich selbst und denen, die ihm etwas bedeuteten.
Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er nicht auf sein Herz gehört, sondern darauf, was andere sagten – damals, als er Irland verließ. Als er sie verließ.
Shannon.
In einen schwarzen Anzug gekleidet trat Roger mit ernstem Gesicht aus dem Haus, einen Aktenordner unter dem Arm, den er auf dem dafür bereitstehenden Tisch ablegte.
Er war ein durch und durch korrekter Mann, der seine Aufgaben als Anwalt und Rechtsberater sehr ernst nahm. Doch alle, die ihn kannten, wussten, dass er in George Freeman mehr verloren hatte, als nur einen Klienten. Die vielen Jahre ihrer Zusammenarbeit hatten die beiden verbrüdert. Zwischen ihnen hatte eine Vertrautheit bestanden, wie man sie nur unter wirklich guten Freunden fand. Roger hatte George Freeman besser gekannt als jeder andere, und Danielle wagte sich kaum vorzustellen, wie es jetzt in ihm aussehen mochte, wo der Augenblick gekommen war, in dem er vor den hier Anwesenden den letzten Willen des Verstorbenen verlesen sollte.
Sie warf Matt einen dankbaren Blick zu, als er beruhigend ihre Hand ergriff. Ihn hier neben sich zu wissen, bedeutete ihr an diesem Tag unsagbar viel.
Roger schlug den Aktenordner auf und entnahm ihm einen großen versiegelten Umschlag. Angespannt räusperte er sich.
Augenblicklich trat Stille ein.
„Wir sind heute hier zusammengekommen, um das Vermächtnis des Mannes zu erfüllen, der uns allen sehr viel bedeutet hat“, begann er mit belegter Stimme. „George hat mich bereits lange vor seinem Tod beauftragt, seinen letzten Willen zu verlesen, wenn es einmal soweit sein sollte.“
Er schluckte und rückte seine Brille zurecht. „Nun ist dieser Tag gekommen, viel schneller, als wir befürchtet hatten. Besondere Umstände haben George jedoch dazu veranlasst, kurz vor seinem Ableben sein Testament noch einmal zu ändern. Ich habe seine Wünsche notiert und im Beisein eines Notars rechtskräftig beglaubigen lassen.“
Er nahm den Umschlag, brach das Siegel und öffnete das Dokument.
Das Schriftstück, das zum Vorschein kam, zitterte leicht in seiner Hand.
„Ich werde nun den letzten Willen von George verlesen“, sagte er so ruhig wie es ihm nur möglich war. Er räusperte sich noch einmal kurz, bevor er vorzulesen begann:
„Wenn mein langjähriger treuer Freund und Rechtsberater Roger Miles diese Zeilen verliest, werde ich nicht mehr unter Euch weilen. Ich danke Gott für die kostbare Zeit, die ich mit Menschen wie Euch teilen durfte. Vielleicht kann ich jetzt auf diese Art etwas von dem zurückgeben, was ich zu Lebzeiten erfahren durfte.
John...
Erst seit heute weiß ich, dass ich einen Sohn habe, den Sohn, den ich mir mein ganzes Leben lang immer von Herzen gewünscht hatte. Diese Tatsache erfüllt mich gerade mit unermesslich großer Freude, aber zugleich auch mit Wehmut, da mir kaum noch Zeit bleibt, das Zusammensein mit dir als meinem Sohn zu genießen. Ich habe dich als einen aufrichtigen und verantwortungsbewussten Menschen kennen- und schätzen gelernt, und auch wenn ich damals noch nichts von unserem verwandtschaftlichen Verhältnis ahnte, habe ich mich doch sofort mit dir verbunden gefühlt. Das Schicksal geht mitunter eigenartige Wege, aber immerhin hat es uns zusammengeführt. Dafür bin ich dankbar.“
Roger machte eine kurze Pause und warf John O`Malley, der mit versteinertem Gesicht dasaß und seinen Worten lauschte, einen bedeutungsvollen Blick zu, bevor er weiterlas:
„Ich vererbe dir, als meinem einzigen Sohn, mein gesamtes Vermögen, sowie mein Anwesen in den Santa Monica Mountains, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass du hier in Kalifornien dein Glück findest.“
John Gesicht blieb unbewegt, nur ein verdächtiges Zucken um seine Mundwinkel verriet, was er in diesem Augenblick empfinden mochte. Danielle sah, wie er nach Kates Hand griff und lächelte still in sich hinein.
Oh ja, manchmal ging das Schicksal wirklich seltsame Wege. In diesem Fall aber war es ein guter Weg, dessen war sie sicher.
Roger rückte erneut seine Brille zurecht.
„Kommen wir nun zum nächsten Punkt des Testamentes, den Mega-Konzern FREEMANN-ELECTRONICS in Tokio und die Filialen in Europa und den USA betreffend:
„Die Firma ist mein Lebenswerk, doch wirklich viel bedeutet hat sie mir nach dem Tod meiner Frau nicht mehr. Roger Miles wird sich als mein Anwalt und engster Vertrauter um den Verkauf des Konzerns kümmern.
Die Hälfte des Erlöses geht in die Krebsforschung, und die andere Hälfte in den Bau des Projektes, das ich Matthew Shelton vorgeschlagen habe, und bei dem ich ihn und seine Firma auch nach meinem Tod unterstützen will. Ich möchte, dass Mr. Shelton das Geld verwaltet und bestmöglich einsetzt, damit der Bau der Klinik und des Gesundheitszentrums zu einem einzigartigen, beispielgebenden Projekt hier an der Westküste wird und der Gesunderhaltung vieler Menschen dient.
Meine einzige Bedingung: Mein Sohn John wird die Klinik als Chefarzt leiten und erhält volles Mitspracherecht bei allen Neueinstellungen und wichtigen Fragen, die das Gesundheitszentrum betreffen.“
„Das ist… unglaublich!“, raunte Matt Danielle fassungslos zu.
Sie nickte nur schweigend, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sich dessen bewusst, dass sich mit Georges letztem Willen Matts finanzielle Probleme rund um das Firmenprojekt in diesem Augenblick in Luft auflösten, drückte sie wortlos seine Hand.
Roger hob den Kopf und blickte in die Runde.
„Der nächste Punkt in George Freemans Testament betrifft Danielle Belling“ verkündete er und las vor:
„Es gibt nur ganz wenige Menschen, denen man vom ersten Augenblick des Zusammentreffens vertraut und von denen man weiß, dass sie einen niemals enttäuschen würden. Du gehörst zu diesen Menschen, Danielle. Ich möchte, dass du unbeirrt deinen Weg weitergehst, und ich werde versuchen, dich auf meine Art auch über meinen Tod hinaus dabei zu unterstützen. Roger Miles wird sich um den Verkauf meiner beiden Privatimmobilien in Paris und London kümmern. Der Erlös geht uneingeschränkt an dich, Danielle. Viel Glück!“
„Oh mein Gott...“, flüsterte Danielle und griff nun ihrerseits haltsuchend nach Matts Hand.
„Er hatte dich wirklich ins Herz geschlossen“, sagte Matt kaum hörbar. „Und glaub mir, keiner versteht das besser als ich.“
Unfähig, etwas zu erwidern, nickte sie und hielt mühsam die Tränen zurück, die in ihren Augen standen.
„Kommen wir nun zu den Marktanteilen der Firma HAMILTON & SHELTON ENTERPRISES, von denen George Freeman erst kürzlich zwei Drittel erworben hat“, ließ sich Roger wieder vernehmen, und erneut richteten sich alle Blicke gespannt auf ihn.
„Ich habe Matthew Shelton als einen seriösen, fähigen und ehrlichen Geschäftsmann kennengelernt. Mister Shelton erhält als Hauptaktionär 20% meiner neu erworbenen Anteile an der HSE und hat somit ab sofort die Aktienmehrheit an der Firma. Die restlichen Anteile gehen zu gleichen Teilen an Danielle Belling als stille Teilhaberin und an einen Teilhaber, den Mr. Shelton innerhalb eines Jahres selbst bestimmen kann. Alle wichtigen Entscheidungen die HSE betreffend haben diese drei Teilhaber fortan gemeinsam zu treffen.“
Danielle spürte, wie Matt neben ihr erleichtert aufatmete. Sein Kampf war also nicht umsonst gewesen. Er würde seine Firma behalten und hatte nun dank George sogar die Mehrheit an Aktien und Stimmanteilen.
„Du hast es geschafft, Matt“, flüsterte sie ihm kaum hörbar zu. „Er hat deine Firma für dich gerettet.“
„Der nun folgende Punkt macht mich etwas verlegen“, fuhr Roger fort und lächelte schwach. „Er richtet sich an mich persönlich. Nichts desto trotz möchte ich den anwesenden Gästen diesen Abschnitt nicht vorenthalten:
„Roger, mein bester Freund, mein Berater, mein gutes und mein schlechtes Gewissen, der Mensch, auf den ich mich immer voll und ganz verlassen konnte: Du sollst fortan an einem Ort leben dürfen, an dem du immer am liebsten deine Freizeit verbracht hast. Ich vererbe dir mein Anwesen auf Santa Rosa Island, in der Hoffnung, dass du dich dort zur Ruhe setzen wirst und dir irgendwann den dicksten Fisch an Land ziehst, den jemals ein Angler in unserer Bucht aus dem Wasser geholt hat.“
Er brach ab und schluckte. „Entschuldigen Sie bitte...“
Mit zitternden Fingern nahm er die Brille ab und wischte sich verstohlen die Augen, bevor er mit belegter Stimme weiterlas:
„Die folgenden Zeilen gelten meiner treuen Haushälterin Teresa, dem guten Geist in diesem Haus. Teresa, Sie haben mich all die Jahre umsorgt und verwöhnt. Ihrer guten Kost habe ich zu verdanken, dass ich mehr als nur ein paar Kilo zuviel mit mir herumgetragen habe. Sie haben mich liebevoll gemahnt, wenn ich mal wieder nicht auf meine Ärzte hören wollte und waren immer sehr geduldig mit mir. Ich möchte, dass Sie, liebe Teresa, das Wohnrecht auf Lebenszeit in diesem Haus haben und Ihre Anstellung behalten, natürlich nur, wenn Sie das selber möchten.“
Teresa schluchzte herzzerreißend und knetete nervös ihr Taschentuch zwischen ihren Fingern.
„Gracias, Mister George!“, flüsterte sie kaum hörbar und bekreuzigte sich, während ihr unablässig die Tränen über die rundlichen Wangen liefen.
Es folgte noch eine kurze Auflistung von Geschäftsleuten sowie einige von Georges Ärzten, die seine Krankheit während der letzten Jahre behandelt hatten und die er mit kleineren Zuwendungen bedachte.
Schließlich verlass Roger den letzten Abschnitt:
„Über alles, was ich in der Kürze der Zeit, die mir hierfür verbleibt, vielleicht übersehen oder vergessen habe, wird mein Sohn John O`Malley entscheiden, gemeinsam mit Roger Miles.
Und nun, meine Freunde, lasst uns Abschied nehmen. Ich erhebe ein letztes Mal mein Glas, leider nur symbolisch, und ich hoffe, dass ich dort, wo ich jetzt hingehe, den Menschen wiederfinde, den ich mein Leben lang geliebt habe. Werdet glücklich, ich werde es auch sein.“
Es war alles gesagt.
Jeder der Anwesenden hatte aus dem Munde von Roger Miles den letzten Willen des Verstorbenen vernommen, aber was vor allem für John und Danielle wichtiger war, als alles, was George verfügt hatte, waren seine stillen, ungesagten Worte zwischen den Zeilen.
Trotzdem sie ihn noch nicht lange gekannt hatten, hatte zwischen ihnen eine tiefe Verbindung bestanden, die sie beide nie vergessen würden.
Tief in ihrem Herzen würde sie weiterbestehen.