Ein sehr prominenter Vertreter der frühen, herkömmlichen Freibeuter war ein Franzose, der später Peter der Große genannt werden sollte. Dieser Mann gehörte offensichtlich zu jenen Abenteurern, die keine Seeräuber im damaligen Sinne des Wortes waren, sondern er war einer der Männer, die mit der Absicht aus Europa gekommen waren, spanische Besitztümer zu plündern, sei es zu Land oder zu Wasser. Einige von ihnen errichteten eine Siedlung auf der Insel Tortuga. Zu diesem Zeitpunkt trat auch Pierre le Grand in Erscheinung. Er scharte eine Gruppe von Anhängern um sich, doch obwohl er als einzelner Pirat einen guten Ruf genoss, scheint es geraume Weile gedauert zu haben, bis er als Anführer Erfolge verzeichnen konnte.
Das Glück von Pierre und seiner Crew muss sich auf einem ziemlichen Tiefpunkt befunden haben, als sie sich auf einem großen, kanuförmigen Boot unweit der Insel Hispaniola befanden. Insgesamt waren sie neunundzwanzig Männer, und es gelang ihnen einfach nicht, ein geeignetes Schiff zu beschaffen. Sie trieben lange Zeit ziellos umher, in der Hoffnung darauf, ein spanisches Handelsschiff zu sichten, welches sie angreifen und möglicherweise kapern könnten, gleichwohl tauchte ein solches nicht auf. Der Proviant ging langsam zur Neige, die Männer waren hungrig, unzufrieden und murrten. In der Tat ging es ihnen beinahe genauso schlecht wie Kolumbus und seiner Mannschaft kurz bevor die nach einer langen und beschwerlichen Reise über den Atlantik auf Land gestoßen waren.
Als Pierre und seine Männer sich bereits am Rande der Verzweiflung befanden, sahen sie in der Ferne auf dem stillen Wasser ein großes Schiff auftauchen. Dadurch wurden ihre Hoffnungen aufs Neue befeuert. Sie ergriffen die Ruder und zogen in die Richtung des fernen Schiffes ab. Sobald sie nahe genug waren, erkannten sie, dass es sich nicht um ein Handelsschiff handelte, das mit Gold und anderen Reichtümern beladen war, sondern um ein Kriegsschiff der spanischen Flotte - ganz genau, um das Schiff des Vizeadmirals. Das war erstaunlich und entmutigend zugleich, beinahe so, als wenn ein Löwe, der das Herannahen einer Beute hörte, aus dem Dickicht, in dem er sich versteckt hielt, hervorsprang und vor sich nicht einen schönen, fetten Hirsch, sondern einen riesigen, dürren Elefanten erblickte.
Die neunundzwanzig Männer waren extrem hungrig und nicht hinausgefahren, um Kriegsschiffe anzugreifen, gleichwohl waren sie auch nicht hier, um an Hunger und Durst zugrunde zu gehen. Es bestand kein Zweifel daran, dass es auf dem großen, spanischen Schiff reichlich zu essen und zu trinken gab, und wenn sie nicht an Nahrung und Wasser gelangten, würden sie nicht mehr länger als ein oder zwei Tage überleben.
Unter diesen Umständen dauerte es nicht lange, bis Pierre den Entschluss fasste, zu versuchen, das spanische Kriegsschiff zu kapern, wenn seine Männer ihm zur Seite stehen würden. Als er die Frage an seine Mannschaft richtete, schworen alle, dass sie ihm folgen und seine Befehle befolgen würden, solange sie am Leben seien.
Ein mit Kanonen bewaffnetes Schiff anzugreifen, dessen Besatzung sehr viel größer war als ihre kleine Gruppe, sah nach einem Himmelfahrtskommando aus. Dennoch bestand eine kleine Chance, die Spanier auf irgendeine Weise zu überwinden, während sie, wenn sie wieder in die Einsamkeit des Ozeans hinausruderten, jede Möglichkeit aufgaben, sich vor dem Hungertod zu retten. Also paddelten sie stetig auf das spanische Schiff zu.
Die Besatzung des Kriegsschiffs erblickte das kleine Boot weit draußen auf dem Meer. Einer der Matrosen lief daraufhin zum Kapitän, um ihn davon zu zu unterrichten. Die Nachricht interessierte diesen jedoch wenig, war er in seiner Kajüte mit einigen Offizieren gerade beim Kartenspiel beschäftigt. Erst eine Stunde später willigte er ein, an Deck zu kommen und nach dem gesichteten Boot zu sehen, das inzwischen merklich näher gerückt war.
Der Kapitän besah sich selbiges genau und lachte über den Rat einiger seiner Offiziere, die meinten, es wäre gut, ein paar Kanonenschüsse abzugeben und das kleine Boot zu versenken. Er hielt das für ein sinnloses Unterfangen, schließlich wusste er ja nichts über die Leute in dem Boot, und es war ihm auch egal. Dennoch meinte er, wenn sie nahe genug herankämen, wäre es eine gute Sache, sie mitsamt ihres Bootes an Deck zu holen, wo sie dann untersucht und befragt werden könnten, wann immer es ihm passte. Hiernach ging er wieder hinunter unter Deck.
Hätten Pierre und seine Männer die Gewissheit gehabt, dass sie, wenn sie längsseits des spanischen Schiffes gerudert wären, an Deck geholt und verhört würden, hätten sie sich über diese Gelegenheit gefreut. Bewaffnet mit ihren Entermessern, Pistolen und Messern waren sie mehr als bereit, den Spaniern zu zeigen, was für Kerle sie waren. Der spanische Kapitän hätte die hungrigen Piraten hundertprozentig als unangenehme Gesprächspartner wahrgenommen.
Es schien Pierre und seiner Mannschaft in der Tat sehr schwer zu fallen, an Bord des Kriegsschiffes zu gelangen und so zügelten sie Eifer und Begeisterung und warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit, ehe sie sich gänzlich annäherten. Sobald es dunkel genug war, paddelten sie beinahe lautlos auf das große Schiff zu, das nunmehr in der Flaute festhing. Im Boot gab es keinerlei Lichter, weswegen die Leute auf dem Deck des Schiffes weder sahen noch hörten, was auf dem dunklen Wasser um sie herum vor sich ging.
Währenddessen sie weiter auf das Kriegsschiff zusteuerten, befahl Pierre - wie es in den alten Berichten über dieses Abenteuer heißt - seinem Chirurgen, ein großes Loch in den Boden des Kanus zu bohren. Wahrscheinlich erwartete man von diesem, dass er mit seinen Sägen und anderen chirurgischen Instrumenten Schreinerarbeiten verrichtete, wenn es für ihn keine Aufgaben im Rahmen seines regulären Berufs gab. Jedenfalls machte er sich an die Arbeit und bohrte geräuschlos das gewünschte Loch.
Dieses bemerkenswerte Vorgehen zeigt die Verzweiflung der Piraten. Sie standen vor einer großen, schier unlösbaren Aufgabe, die sie nur durch absolute Kompromisslosigkeit bewältigen konnten. Sollten Pierre und seine Leute bei dem geplanten Angriff auf zu starken Widerstand seitens der Spanier stoßen oder einer von ihnen Angst bekommen und versuchen, sich in das Boot zurückzuziehen, dann wäre alles verloren. Pierre beschloss daher, es jedermann unmöglich zu machen, zu fliehen. Sollten sie das spanische Schiff nicht erobern können, würden sie sterben.
Alldieweil der bereits halb mit Wasser überflutete Kahn die Bordwand berührte, ergriffen die Piraten jedes Seil und jeden Vorsprung, den sie zu fassen bekamen. Sie kletterten hinauf, als wären sie neunundzwanzig Katzen, sprangen über die Reling und stürzten sich auf die Matrosen, die sich gerade an Decke befanden. Die waren völlig perplex, hatten sie doch weder etwas gesehen noch gehört, und nun standen sie plötzlich wilden Individuen mit Entermessern und Pistolen gegenüber!
Einige der Besatzungsmitglieder schauten über die Bordwand, um zu sehen, woher die seltsamen Besucher gekommen waren, aber sie erkannten nichts, denn das Boot war inzwischen auf den Meeresgrund gesunken. Mit einem Mal überkam sie eine abergläubische Furcht, sie glaubten ernsthaft, dass die geheimnisvollen Besucher vom Himmel gefallen wären. Ein anderer Ort existierte aus ihrer Sichtweise ja nicht. Die Matrosen machten keinerlei Anstalten, sich zu verteidigen. Stattdessen stürzten sie voller Angst unter Deck und versteckten sich, ohne Alarm auszulösen.
Der spanische Kapitän spielte noch immer Karten. Die Geschichtsschreibung sagt nicht, ob er gewann oder verlor. Doch überraschend mischte sich ein Neuankömmling in das Spiel ein. Es war Pierre le Grand - und der spielte seinen Trumpf-Ass aus.
Mit einer großen Pistole in der Hand forderte er den spanischen Hauptmann auf, sich zu ergeben. Der edle Kommandant blickte sich um. Jeweils ein Pirat hielt jedem der Offiziere am Tisch eine Pistole an den Kopf. Der Kapitän warf seine Karten weg. Pierre und seine Männer hatten gewonnen.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Als die Piraten sich über das Schiff verteilten, machte sich die verängstigte spanische Crew - soweit es ihr möglich war - aus dem Staub. Einige, die versuchten, ihre Waffen zu ergreifen, um sich zu verteidigen, wurden rücksichtslos niedergestreckt oder erschossen, und als die Luken für die unter Deck geflüchteten Matrosen sicher verschlossen waren, durfte sich Pierre le Grande Kapitän und neuer Eigentümer des großen Kriegsschiffs nennen.
Es ist ziemlich sicher, dass die Piraten zur Feier ihres Sieges als Erstes ein üppiges Mahl zu sich nahmen. Anschließend segelten sie triumphierend über die Gewässer, von denen sie noch wenige Stunden zuvor befürchtet hatten, dass sie ihr nasses und kaltes Grab werden würden.
Dieser höchst bemerkenswerte Erfolg Pierres veränderte selbstredend seine Lebensumstände sowie die seiner Männer. Zugleich bewirkte er noch eine weitaus größere Veränderung im Werdergang und möglicherweise auch im Charakter des Franzosen. Pierre war nun ein sehr reicher Mann. Desgleichen verfügten auch all seine Gefolgsleute über ausreichende Geldmittel. Das spanische Schiff war hinlänglich mit Proviant bestückt. Dazu befanden sich an Bord größere Mengen an Goldbarren, die nach Spanien hätten verschifft werden sollen. In der Tat hatten Pierre und seine Crew satte Beute gemacht.
Nun wisst ihr alle, dass vernünftige Piraten und Menschen, die zufrieden sind, wenn sie genug haben, in allen Lebensbereichen überaus selten sind. Aus diesem Grund ist es nicht wenig überraschend, dass der kühne Seeräuber, dessen Geschichte ich hier erzählt habe, unter Beweis stellte, dass er den Titel Peter der Große, den ihm seine Gefährten gaben, in gewisser Weise verdiente.
Peter der Große segelte mit seiner Beute an die Küste von Hispaniola und ließ alle Spanier, deren Dienste er nicht wünschte, an Land gehen. Die übrigen zwang er, seinen Männern bei der Arbeit auf dem Schiff zu helfen. Anschließend machte er sich unverzüglich auf den Weg nach Frankreich, wo er sich komplett von der Seeräuberei zurückzog und als wohlhabender und freier Mann niederließ.