Müde stapfte Anton durch das Dickicht. Am letzten Donar im Oktomas hatte er noch ordentlich schuften müssen, während sein Vater mit Feinaar fischen ging. Es war schon spät und das Tageslicht begann sich bereits zu verabschieden, während er hier durch das Gestrüpp latschen durfte. Und das alles nur, weil die Beiden scheinbar die Zeit vergessen hatten und noch immer nicht zum Abendessen zurück gekommen waren.
Wie lange konnte es schon dauern, bis Feinaar seinen Vater überzeugt hatte, Ajanelle zur Frau zu nehmen...
Beim großen Licht, in den letzten Tagen war es so offensichtlich gewesen, dass sich etwas zwischen Ajanelle und Feinaar verändert hatte.
Zufällig hatte er sogar mitbekommen, wie seine Mutter seinen Vater darum gebeten hatte, dass er sich Feinaar auf irgendeine Art und Weise zur Seite nehmen würde.
Anton musste grinsen, die Beiden dachten doch tatsächlich keiner wüsste irgendetwas und hatten ein schlechtes Gewissen, bisher noch keinem von ihrer Liebe erzählt zu haben.
Dabei wussten doch alle Bescheid. Na ja, Ajadaka vielleicht nicht. Wobei er sich nicht sicher war, ob sie es wirklich nicht wusste oder einfach nur ignorierte.
Ein knackender Ast ließ ihn herumfahren und er sah gerade noch wie eine Gestalt hinter einen Baum huschte. Eine Gestalt mit braunen Haaren und dem Gewand seiner Schwester Ajanelle, dachte er schmunzelnd.
Grinsend drehte er sich um und ging weiter, nur um zwei Schritte später wieder herum zu wirbeln und Ajanelle dabei zu ertappen, wie sie sich gerade wieder hervorgewagt hatte.
„Kannst es wohl nicht mehr abwarten zu erfahren, was Papa zu dir und Feinaar sagt, na Schwesterherz?“, meinte Anton belustigt über ihren geschockten Ausdruck so erwischt worden zu sein.
„Ich weiß nicht wovon du sprichst, Anton“, versuchte Ajanelle sich zu retten, während sie, mit bewusst gleichgültigem Gesichtsausdruck, zu ihm aufschloss.
„Ach, und wieso bist du dann hier?“
„Ich will nur sichergehen, dass du es dir nicht später nicht auch noch bequem beim Fischen machst und ihr Männer unter euch dann Mama und das Abendessen vergesst.“
„Tatsächlich?“, fragte Anton glucksend, wobei er sich kaum noch das Lachen verkneifen konnte.
„Was hast du denn gedacht?“, raunte Ajanelle und stellte eine wütende Miene zur Schau.
Das war dann doch zu viel des Guten und Anton musste lauthals loslachen. Ajanelles Miene wurde noch finsterer, bis sie es schließlich nicht mehr aushalten konnte, an ihm vorbei ging und voraus lief. Immer noch lachend folgte Anton ihr.
Sie waren kaum zwanzig Zort voran gekommen, als sie das erste Mal von einem unnatürlichen Rascheln aufgeschreckt wurden.
„Was war das?“, fragte Ajanelle
„Keine Ahnung“, antwortet Anton nur. Er war normaler Weise nicht all zu schreckhaft. Aber die Sonne verschwand nun immer schneller. Bald würde es komplett dunkel sein. Man sollte sich so nah an der Grenze nie zu lange im Dunkeln in den Wäldern aufhalten. Ganz zu Schweigen davon, dass er nun auch noch auf seine kleine Schwester aufpassen musste.
„Lass uns weitergehen“, forderte er seine Schwester auf und kämpfte sich weiter durch die dichten Sträucher.
Beim nächsten Rascheln erklärte er Ajanelle nur, sie solle weitergehen, während er sich immer schneller durch das Dickicht kämpfte.
Ein knackender Ast hinter ihnen, sorgte schließlich dafür, dass seine Schwester sich an seinem Mantel festhielt und ihm einen Schauder über den Rücken lief. Irgendwas war hinter ihnen, aber durch die dicht stehenden Sträucher und das schwindende Licht ließ sich nichts erkennen. Da kam ihm eine Idee. Er packte seine Schwester und hetzte vorwärts.
Sie waren inzwischen fast am Ende der Sträucher, er würde sich mit Ajanelle hinter einem der großen Bäume verstecken, die bald folgen würden.
Kaum aus dem Dickicht raus, zog er seine Schwester noch zehn Zort weiter und sprang dann hinter den nächststehenden Baum zu seiner Linken. Ohne Worte bedeutete er Ajanelle zu schweigen und gemeinsam warteten sie ab, ihre Blicke auf das Dickicht gerichtet.
Zunächst tat sich nichts. Bis plötzlich eine kleine Gestalt aus den Sträuchern sprang und sich hinter dem nächst besten Baum versteckte.
„Beim großen Licht!“, flüsterte Ajanelle entrüstet.
Anton fasste sich nur ungläubig an den Kopf. Er wollte schon hervor treten, als seine Schwester ihn zurück hielt.
„Warte nur einen Moment. Sie soll mal zu spüren kriegen, was sie die ganze Zeit mit uns gemacht hat“, bat sie ihn und er musste schmunzeln.
Ja, wieso denn auch nicht? Dachte er im Stillen, als die Gestalt bereits an ihnen vorbei rannte.
Fast im gleichen Moment sprang Ajanelle hervor und schrie: „Hey!“
Anton und seine Schwester wurden durch ein lautes Aufkreischen belohnt und konnten sich zu ihrem Vergnügen noch anschauen, wie die Gestalt regelrecht in die Luft sprang.
„Bist du denn vollkommen verrückt? Weißt du eigentlich was du uns für einen Schrecken eingejagt hast, hinter uns durch die Büsche zu schleichen?“, schrie Ajanelle ihre jüngere Schwester an.
„Du bist doch nur neidisch, dass er dich vor mir entdeckt hat!“, meinte Ajadaka nachdem sie sich vom Schrecken erholt hatte und streckte die Zunge raus.
„Dir fehlt wohl gesunder Menschenverstand, um zu erkennen wie gruselig es ist, wenn irgendwas, dass du nicht sehen kannst, hinter dir im Wald herum schleicht!“, plusterte sich Ajanelle auf.
„Das sagt ja die Richtige! Wer ist denn bitte vor mir, im Wald, Anton hinterher geschlichen?!“, rechtfertigte sich Ajadaka.
Und da geht das Gezeter schon wieder los, dachte Anton. Konnten sich seine kleinen Schwestern denn nie vertragen?
Während sich seine Schwestern gegenseitig anschrieen, blickte er zur Sonne und musste zu seiner Besorgnis feststellen, dass sie schon beinahe vollständig verschwunden war. Ihnen würde nur noch etwa eine halbe Stunde bleiben, bis es stockfinster war.
„Du hast doch keine Ahnung, wie man am besten durch den Wald schleicht. Du willst dich ja...“
„Ach, halt doch die Klappe. Wir haben dich nur nicht gesehen, weil du so klein bist!“
„Ich werde auch noch größer werden!“
„Ruhe jetzt!“, rief Anton und brachte seine Schwestern damit zum Schweigen.
„Wir haben nur noch eine halbe Stunde, bis es ganz dunkel ist. Die brauchen wir auch in etwa, um zurückzukommen und wir sind noch immer nicht am Fluss. Also beeilen wir uns besser. Haltet die Klappe und versucht mit mir Schritt zu halten. Los jetzt!“, drängte Anton und lief schnellen Schritts voraus.
Plätscherndes Wasser, das mit donnernder Lautstärke an ihm vorbei floss, weckte ihn auf. Tageslicht fiel stechend in seine halb geöffneten Augen und sorgte zusammen mit seinem dröhnenden Schädel dafür, dass er sich stöhnend an den Kopf fasste. Nach und nach nahm das Plätschern des Flusses eine angenehmere Lautstärke an, was sein Kopf dankbar registrierte. Doch nicht nur sein Kopf, sondern sein ganzer Körper schmerzte. Vorsichtig drehte er sich von der Seite auf den Rücken und biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Feinaar brauchte einen Moment ehe ihm klar wurde, wo er sich befand. Über ihm ragte die Felswand auf, von der er sich und diese bösartige Kreatur gestoßen hatte und dem gegenüber verlief der kleine Fluss, der eigentlich das Ziel ihres Ausflugs gewesen war. Es glich einem Wunder, dass er, trotz des vier Zort tiefen Falls, nahezu unversehrt geblieben war.
Ein Husten ließ ihn herumfahren. Daton lag mit dem Rücken auf einem großen Felsen und rührte sich nicht. Wenn er angestrengt lauschte, meinte Feinaar leisen, röchelnden Atem zu vernehmen. Er wollte zu ihm eilen, doch die Vorsicht ließ ihn innehalten und zunächst nach irgendeiner Art Waffe Ausschau halten.
Einen Zort vor ihm fand er einen spitz zulaufenden Splitter des Felsgesteins, hob ihn auf und näherte sich langsam Datons Körper.
Konnte Daton wieder er selbst sein? Unsicher ging Feinaar Schritt für Schritt näher heran.
„Feinaar?“, fragte Daton mit zittriger Stimme als Feinaar schließlich zu ihm trat.
„Ja“, antwortete er nur. Datons Blick war ungewöhnlich starr zum Himmel gerichtet. Vermutlich war sein Rückgrat gebrochen. Der rechte Arm lag im merkwürdigen Winkel auf dem Felsen und ein feines Blutrinnsaal lief ihm aus dem Mundwinkel.
„Wieso?“, fragte Daton und der tieftraurige Unterton ließ Feinaar erschaudern. Was konnte er sagen? Wie sollte er das jemals erklären...?
„Wieso... wolltest du mich umbringen?“, erklang seine Stimme erneut zunächst traurig, nur, um dann plötzlich spöttisch zu klingen.
Voller Entsetzen beobachtete Feinaar wie Datons Gesicht sich ihm zuwandte und zu einer schadenfrohen und grausamen Fratze verzog. Wie vom Donner gerührt stand er da und war keines klaren Gedankens fähig, während das Wesen aus grausiger Kehle lachte und gackerte. Er kam gerade wieder zu sich und wollte zurückweichen, doch da war es schon zu spät.
Blitzschnell riss das Monstrum plötzlich Datons Oberkörper hoch und ein Arm flog zu Feinaars Kehle, packte mit übermenschlicher Kraft zu und begann sie zu zerquetschen. Verzweifelt versuchte Feinaar sich zu befreien, konnte sich aber aus dem Griff nicht lösen.
In seiner Verzweiflung holte er aus und stieß den Felsensplitter in Datons ehemaligen Körper, doch das Monstrum hielt ihn noch immer gepackt. Hastig riss Feinaar den Splitter heraus. Er holte Schwung und ließ den Splitter erneut niederfahren als plötzlich ein helles weißes Licht aufleuchtete.
Die Hand an seiner Kehle verschwand und Feinaar wollte schon keuchend um Luft ringen, nur um plötzlich zu merken, dass er gar keine Schmerzen an seiner Kehle verspürte.
Verwirrt blinzelte er und versuchte die Situation zu begreifen. Vor ihm schwebte die kleine Flöte, die er sonst immer an einer Schnur um den Hals trug, in der Luft und strahlte ein pulsierendes, weißes Licht aus.
In seiner Rechten hielt Feinaar den Felssplitter, der nun in Rot getaucht war und Datons Körper lag auf dem Felsen in genau der gleichen Position, wie er ihn vorgefunden hatte.
Der einzige Unterschied war, dass jetzt ein breites Loch in Datons Bauch klaffte und sein Atem immer rasselnder klang.
„Was... ?“, setzte Feinaar verwirrt an und beobachtete wie das Blut langsam aber stetig aus Datons Wunde quoll.
Du musst töten! Wir müssen töten!
Feinaar zuckte regelrecht zusammen, als die Stimmen plötzlich in wildem Geschrei zurückkehrten.
Das Monster muss vernichtet werden! Es wird nicht weiter morden!
Wie zur Bestätigung huschte in genau diesem Moment wieder ein Schatten am Rande seines Bewusstseins vorbei.
Ja, er musste dieses Wesen vernichten. Aber wohin war es verschwunden?
Es liegt vor dir! Du musst töten! Wir müssen töten!
Du musst vernichten! Wir müssen vernichten!
Vor ihm? Dort lag nur Datons Körper... Feinaar wollte sich gerade umschauen als Datons Körper hochschnellte.
Er konnte nur zusehen, wie das Monstrum in Datons Körper ihn erneut an der Kehle packte und zu würgen begann.
Du musst töten! Wir müssen töten!
TÖTE!
VERNICHTE!
LEBE!
BEWAHRE!
Feinaar wollte schon seinem Instinkt folgen und erneut zustechen als alles vor ihm mit einem Mal zu flimmern begann. Geschockt nahm er wahr, wie er plötzlich wieder frei mit erhobenem Arm und der vor ihm schwebenden und leuchtenden Flöte vor Datons daliegendem Körper stand.
„Was passier hier?“, entfuhr es Feinaars Lippen.
Du musst töten! Wir müssen töten!
TÖTE!
VERNICHTE!
LE...
Erschallte es wieder in seinem Kopf, bis seine Flöte mit einem Mal heller erstrahlte und dann wieder in das schwächere, pulsierende Leuchten überging. Von da an blieben die Stimmen stumm und in Feinaar keimte ein schrecklicher Verdacht.
„Die Stimmen... sie gehören nicht zu mir...“, dachte er völlig fassungslos laut vor sich her. „Sie haben mir Dinge gezeigt, die nicht stimmen... Ich... Daton... Daton!“
Der Gedanke an Daton riss ihn aus seiner Schockstarre. Daton lag vor ihm. Mit einem Satz war er bei ihm, ließ den Felsensplitter zu Boden fallen und seine Flöte hörte auf zu leuchten und fiel ihm zurück auf die Brust.
„Daton, kannst du mich hören?“, verzweifelt nahm Feinaar die schreckliche Wirklichkeit in sich auf. Er hatte Daton, im Glauben das Monster zu bekämpfen, angegriffen und schwer verletzt. Die Bauchwunde blutete stark und auch seine panisch darauf gepressten Hände vermochten die Blutung nicht zu stoppen. Hilflos sah er zu, während sich jeder röchelnder Atemzug Datons wie ein Dolchstoß in sein Herz fraß.
Daton suchte Feinaars Blick, fand ihn und hielt ihn fest. Feinaar starrte in diese blauen Augen und fand dort keine Wut oder Angst. Was er sah, schockierte ihn weit mehr. Es war Mitleid.
Hörbar zog er den Atem ein, als er erkannte, dass ihm dieser Mensch noch immer nicht mit Hass auf sein Handeln antwortete.
Datons Brust hob und senkte sich im ungleichmäßigen Rhythmus. Während Datons Lebensfunke in seinen Augen in Erscheinung trat und zu verblassen begann.
Mit röchelndem Atem setzte Daton zu sprechen an: „Was... was hat man dir nur angetan?“
Feinaar wollte antworten. Doch die Anspannung in Datons Körper fiel bereits in sich zusammen. Ein letztes Mal atmete er aus, der Lebensfunke in seinen Augen erlosch und dann lag Daton still da.
Geschockt stand Feinaar vor dem Menschen, der selbst in seinen letzten Momenten noch Mitleid für seinen Mörder empfunden hatte. Der Esiew begann zu zittern.
Was sollte er Ajanelle erzählen?
Wie konnte er überhaupt jemanden erklären was hier geschehen war?
Er hatte Daton auf dem Gewissen. Die Tatsache ließ sich nicht leugnen. Was sollte er bloß tun?
Erzähle ihnen, dass ihr überfallen wurdet!
Die Stimmen hatten zu ihm zurückgefunden!
Mörder aus Wulvenien sind es gewesen!
Nein! Er musste hier weg!
Du bist unschuldig! Du wirst...
Das Gezeter der Stimmen wurde jäh beendet, als seine kleine Flöte erneut kurz aufleuchtete und das Licht dann langsam abebbte.
Behutsam zog sich Feinaar das Band mit seinem einzigen Schatz über den Kopf. Die kleine Flöte war ein Geschenk gewesen und hatte ihn gerettet, hatte seinen Verstand befreit. Nun lag sie warm in seiner Hand. Warm in seinen blutigen Händen. Nein, nicht warm. Warm war das Blut, dass ihm noch immer von den Händen troff.
Wir sind auf deiner Seite! Verbanne uns nicht!.
Er hatte die kleine Flöte nicht verdient.
Wir wollen dir nur helfen! Höre auf uns...
Wieder pulsierte die Flöte kurz im weißem Licht und die Stimmen verstummten wie zuvor.
Nein, bei Allem was er getan hatte, hatte er so einen Schatz wirklich nicht verdient. Von nun an würde er selbst gegen diese Stimmen ankämpfen. Wenigstens wusste er endlich, was er bekämpfen konnte.
Danke großes Licht, du hast mich wahrhaft gerettet, dachte er bedrückt und warf die hölzerne Flöte in den Fluss.
Feinaar blickte ihr noch kurz hinterher, wie sie von der Strömung erfasst wurde und wandte sich dann gegen die Fließrichtung nach Norden. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Um Ajanelle zu beschützen, würde er alles tun. Er durfte nicht das Risiko eingehen, dass er die Kontrolle über sich selbst noch ein weiteres Mal verlor. Zu erst musste er sicher sein, dass er gegen die Stimmen in seinem Innern ankämpfen konnte.
Er liebte Ajanelle so sehr... Es tat ihm in der Seele weh, sich von ihr abzuwenden, doch es war nötig.
Feinaar wusste nicht wie Ajanelle eines Tages reagieren würde, wenn er zurück kam und ihr alles beichtete. Vielleicht war sie dann schon an einen anderen Mann vergeben...
Angewidert schüttelte er sich. So durfte er nicht denken. Aber selbst wenn sie noch immer auf seine Rückkehr warten sollte, würde sie ihm seine Taten vergeben können?
Die Schuldgefühle fraßen sich bereits immer tiefer in seine Seele und doch musste er sie ertragen. Das war er Daton schuldig.
Mit einem tiefen Atemzug straffte er sich und sammelte Entschlossenheit. Dann setzte er sich in Bewegung und rannte in den flachen Wassern des Flusses nach Norden.
Er würde meditieren und sich selbst wieder finden. Den Kampf um seinen Verstand würde er gewinnen. Und dann... dann würde er zurückkehren...
Er würde Ajanelle wieder sehen!
Ja, er würde zurück finden...