◇◇◇
Der nächste Morgen begann überraschend harmonisch. Ashley, die von Natur aus Frühaufsteherin war, hatte lange vor Steve, der sowieso erst spät in einen unruhigen Schlaf gefunden hatte, das Bett verlassen, geduscht und war hinunter gegangen, um das Frühstück vorzubereiten.
Als Steve erwachte, roch er bereits frischen Kaffeeduft. Für einen Moment war er verwirrt, dann stand auch er auf, schlüpfte in seine Jogginghose, zog ein T -Shirt über und ging die Treppe hinunter.
Ashley hatte den Frühstückstisch auf der Veranda gedeckt.
„Hey, hey ...“, sagte er und lächelte seiner Frau zu.
„So einen Service bin ich gar nicht mehr gewöhnt.“
Er setzte sich und streckte sich. Ashley goss ihm eine Tasse Kaffee ein und schob sie zu ihm hinüber.
„So ein herrliches Wetter“, schwärmte sie. „Ich kann mich zwar nicht gerade beschweren, aber so traumhaft war es in New York nicht.“
„Wie war es denn überhaupt?“, fragte Steve und versuchte, ernsthaftes Interesse aufzubringen. Irgendwie musste er seine etwas aus den Fugen geratene Welt wieder gerade rücken. Zumindest musste er es VERSUCHEN.
Es ... ging einfach nicht anders. Er musste sich zusammen reißen.
Im Moment fiel ihm das nicht mal allzu schwer.
Ashley begann in allen Einzelheiten von ihrem New York Trip zu erzählen. Dabei warf sie mit Namen von Restaurants, Mode Labels, Designern und Geschäftspartnern nur so um sich. Steves Geduld wurde auf eine schwere Probe gestellt, denn er bemerkte wieder einmal, dass er mit dieser Branche einfach nichts anfangen konnte. Dennoch bemühte er sich, ihr zuzuhören, stellte Fragen und lachte pflichtschuldig bei den Anekdoten, die sie zum Besten gab, ohne den Witz dabei recht zu verstehen. Alles in allem war es sein verzweifelter Versuch, zur Realität zurückzufinden ...
Amy erwachte von dem hellen Sonnenlicht, welches in Faiths Zimmer fiel. Samstag! Keine Schule, keine Pflichten. Sie setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und belastete vorsichtig den rechten Fuß. Hm.
Vorsichtig stand sie auf und humpelte zur Zimmertür. Es ging einigermaßen. Supi. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf Faith, die noch fest zu schlafen schien. Sie kam ganz gut zum Bad und wieder zurück und humpelte dann zum Fenster.
Es schien wieder ein wunderschöner Tag zu werden. Sie warf einen Blick in den Garten und dann wanderte ihr Blick automatisch zum Nachbarhaus hinüber.
Einen Moment stockte ihr der Atem. Ihr war noch nie bewusst geworden, dass man von Faiths Zimmer direkt auf die Terrasse des Nachbarhauses blicken konnte. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie einfach nie darauf geachtet hatte ... nur heute saßen dort Steve Collins und seine Frau. Beim Frühstück. Mit gemischten Gefühlen blickte Amy hinüber.
„He, Amy ... aber nicht, dass du noch zum Stalker wirst!“, hörte sie plötzlich Faiths lachende Stimme. Erschrocken fuhr sie zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Faith mittlerweile aufgewacht war.
„Was gibt’s denn da spannendes zu sehen?“, fragte Faith neugierig, sprang aus dem Bett und trat zu Amy ans Fenster.
Drüben auf der Terrasse sahen sie Steve und Ashley, ganz offensichtlich bei einem entspannten Frühstück und scheinbar in ein Gespräch vertieft. Ab und zu lachte Steve auf. Dann nahm er die Kaffeekanne und goss seiner Frau eine Tasse Kaffee ein. Kurz darauf legte sie ihm ein halbes Brötchen auf den Teller und er lächelte zu ihr hinüber. Kurz, was Amy und Faith sahen, schien geradezu das Sinnbild einer glücklichen Ehe.
Faith blickte zu Amy hinüber. Mit großen Augen betrachtete sie die scheinbare Idylle am nachbarlichen Frühstückstisch. Dann sah sie Faith an. Der Ausdruck in ihren Augen gab Faith einen Stich. Ihr fiel nichts ein, was sie ihrer Freundin sagen konnte. Sie tat ihr einfach nur so unendlich leid.
Glücklicherweise klopfte es in diesem Moment an ihrer Zimmertür. „He Mädels, seid ihr schon wach? Kommt ihr runter frühstücken?“, hörten sie Coles Stimme.
Faith ging zur Tür und öffnete sie. Coles dunkler Schopf guckte um die Ecke. „Guten Morgen! Amy, was macht dein Fuß? Soll ich dir helfen?“
Amy brachte ein Lächeln zustande. „Nein danke, Cole, aber es ist schon viel besser heute Morgen“, versicherte sie.
„Das freut mich. Kommt ihr dann? Ich geh schon mal runter.“
Faith schloss die Tür hinter ihm. Dann wandte sie sich wieder zu Amy um.
„Kommst du?“, fragte sie leise. Amy nickte entschlossen. Irgendwie musste es weitergehen.
Am Nachmittag des gleichen Tages nahm sich Steve seine E - Gitarre und überprüfte sie oberflächlich, bevor er sie in die Schutzhülle zurückpackte und dann Richtung Tür ging, wo bereits eine schwarze Umhängetasche, vollgestopft mit Notenheften und Notizen, stand.
Ashley lehnte mit verschränkten Armen neben der Haustür und sah ihrem Mann leicht amüsiert dabei zu, wie er sich die Tasche umhängte.
„Und du willst jetzt tatsächlich ernsthaft zu dieser ... Schulband Geschichte ... da gehen?“ fragte sie überflüssigerweise. Steve spürte einen Anflug von Gereiztheit.
„Ashley, was soll das? Das weißt du doch genau!“ Er schob sich an ihr vorbei. „Bis später.“
„Bis später. Meinst du, die Kleine kommt auch?“ „Wen meinst du?“, fragte er ungeduldig.
„Na die Kleine. Amelie oder so. Das Gesangswunder.“
Steves Blick wurde hart. Das war nun wieder ganz die Ashley, zu der er absolut keinen Zugang mehr fand und über die er sich ärgerte.
„Sie heißt Amy“, knurrte er knapp. „Und nein, ich glaube nicht, dass sie kommt. Allein schon wegen ihrem Fuß …“
„Ach ja ... die arme Kleine ist ja …“ Steve wandte sich ruckartig um, so dass Ashley tatsächlich für einen Moment zusammenzuckte. Von seiner Höhe von 1,91 m blickte er auf sie runter. „Schluss jetzt! Spar dir deine Kommentare. Ich weiß nicht was das soll. Bis später.“
Damit wandte er sich ab und ließ sie in der Haustür stehen. Als er gerade in sein Auto steigen wollte, sah er Cole aus dem Nachbarhaus kommen. „He, Cole, komm rüber, ich nehm dich mit“, rief er ihm zu. Cole hob den Daumen und stieg zu ihm ins Auto. Gemeinsam fuhren sie zum College.
„OK, hier proben wir immer“, sagte Cole und schob die Tür zum Probenraum auf. Adam, Ben und Mr. Garcia waren schon da und Cole und Steve wurden von Adam lautstark begrüßt. Ben wirkte etwas mürrisch und fummelte an seiner Gitarre herum. Mr. Garcia kam weitaus gelassener als Adam, aber nicht weniger erfreut mit breitem Grinsen auf die beiden zu. „Steve ... wie schön dass Sie tatsächlich zu uns gestoßen sind. Zunächst einmal: Hier in der Band nennen wir uns alle beim Vornamen und duzen uns. Ich hoffe, das ist OK. Wie du es außerhalb der Band mit deinen Schülern hältst, bleibt dir selbst überlassen. Also, ich bin David.“
Steve strahlte. „Das ist absolut OK!“
Steve sah sich um. Der Raum war ziemlich groß. Auf der einen Seite des Raumes war eine Art Podest gebaut worden, von einigen Schülern und früheren Bandmitgliedern, wie Adam ihm bereitwillig Auskunft gab. Darauf standen ein Schlagzeug, ein Keyboard, Verstärker und Gitarrenständer, mit und ohne Gitarren, außerdem ein Mischpult. Unter der Decke war eine Leiste mit Lampen und Scheinwerfern angebracht. Steve pfiff beeindruckt durch die Zähne.
„Wow, ihr seid hier aber wirklich super ausgestattet.“
Er stellte seine Gitarre auf einen der leeren Gitarrenständer und blickte sich weiter um. Im anderen Bereich des Raumes gab es eine Sitzecke um einen Couchtisch gruppiert, auf welchem Notenblätter, Gitarrenhefte und ähnliches verstreut lagen, außerdem gab es einen großen Tisch mit Stühlen, auf dem einige Tassen und Gläser standen, neben denen eine aufgerissene Tüte Kekse lag.
Adam folgte Steves Blick und grinste. „Kreative Pausen müssen auch mal sein.“
Steve nickte zustimmend und zwinkerte Adam zu. An der Seite des Raumes stand ein Highboard, auf dem ein Wasserkocher und eine Kaffeemaschine standen. An den Wänden hingen Bilder und Poster. Alles in allem war es eine gelungene Mischung zwischen Probenraum und Gemeinschaftsraum und Steve fühlte sich sofort wohl.
„Manchmal bestellen wir uns auch Pizza hierhin“, erzählte Adam weiter, dem es nicht entgangen war, dass Steve sich wohl zu fühlen schien.
„Ja, und GANZ AB UND ZU machen wir hier auch Musik“, kam Cole auf den Punkt.
„Ich würde sagen wir setzen uns erst mal zusammen und checken aus, ob wir einen gemeinsamen Nenner finden, wie wir loslegen. Ist ja sozusagen für uns alle ein völliger Neustart.“
Kurz darauf saßen alle Bandmitglieder auf der Sitzgruppe und diskutierten miteinander. Eine halbe Stunde später begaben sie sich an ihre Instrumente und begannen, sich vorzubereiten, die Gitarren einzustimmen, die Lautstärke zu regeln, die Keyboardstimme einzurichten. Um Steve den Einstieg etwas zu erleichtern, hatten sie beschlossen, mit einem von ihm mitgebrachten Song zu starten, welchen er vor Jahren mit ehemaligen Bandkollegen selbst geschrieben hatte. Steve hatte bereits die Gitarre um den Hals hängen und stellte sich das Mikrophon ein. Dann wandte er sich den anderen zu und grinste etwas verlegen.
„OK ... einen Probelauf um in den Rhytmus zu kommen?“
Er spielte ein paar Akkorde.
Zehn Minuten später spielten sie zusammen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Steve hatte keine sensationelle, aber eine einprägsame und angenehme Gesangsstimme und vor allem überraschte er alle - sich selbst zugegebenermaßen auch - mit seiner Power.
Immer neue Songs und Rhythmen probierten sie aus. Mehr als einmal blicken sich Adam und Cole überrascht an. Wer hätte das für möglich gehalten?
Nachdem sie ihre Probe beendet hatten, entschieden sie spontan, den gelungenen Auftakt mit einem gemeinsamen Pizza Essen ausklingen zu lassen. In bester Laune packten sie ihre Instrumente weg.
Während sie dann etwas später am Tisch saßen, Pizza aßen, sich unterhielten, diskutierten und viel lachten, ging es Steve plötzlich durch den Kopf, wie ... wie schön es wäre, wenn Amy tatsächlich auch Teil der Band wäre und sie beide dadurch in diesem ungezwungenen Rahmen regelmäßig zusammen sein könnten. Zusammen Musik machen, reden, lachen ...
Über mehrere Stunden hatte er es nun erfolgreich geschafft, den Gedanken an Amy vollständig in den Hintergrund zu schieben - doch nun war er wieder präsent und der eher zufällige Gedanke wurde zu einer mühsam unterdrückten Sehnsucht.
Bestürzt stellte er fest, dass das Kartenhaus, das er bemüht gewesen war, wieder aufzubauen, erneut einzustürzen drohte. Die Realität hatte ihn wieder eingeholt.
Nun, zumindest hatte er etwas gefunden, wo er sich leidenschaftlich ausleben konnte und was er insgeheim wohl auch lange vermisst hatte - und ihm war egal, was Ashley davon halten würde. Vielleicht konnte ihm die Musik über sein Gefühlschaos hinweghelfen.
Er hoffte es.
In den folgenden Tagen sahen Amy und Faith Mr. Collins nicht häufig - außer natürlich im Unterricht. Nach ihrer letzten Begegnung mit Steve hatte Amy etwas Angst vor dem kommenden Montag gehabt. Wie würde er sich verhalten? Wie würde sie reagieren? Aber Steve war im Unterricht gleichermaßen freundlich und korrekt zu ihnen wie zu allen anderen Schülern und Schülerinnen und nahm außerhalb des Unterrichts keinen näheren Kontakt zu ihnen auf, ohne dass es jedoch den Anschein erweckte, er würde ihnen aus dem Weg gehen oder den Kontakt sogar zu vermeiden versuchen. Er war einfach ... korrekt. Weder Amy noch Faith hatten eine Vorstellung davon, wie viel Selbstdisziplin das Steve kostete.
Seit er am Samstagabend von der Bandprobe nach Hause zurück gekommen war, herrschte kühle Höflichkeit zwischen ihm und Ashley.
Das Wetter hatte sich etwas eingetrübt und die beiden beschäftigten sich damit, sich endgültig einzurichten und die noch fehlenden Arbeiten im Haus zu erledigen. Mochte die Stimmung zwischen den beiden auch nicht zum besten stehen, so plante Ashley doch weiter an der Einweihungsfeier und Steve wurde himmelangst, wen sie alles einladen und was sie alles organisieren wollte. Immerhin bezog sie großzügigerweise nach wie vor die jungen Umzugshelfer und auch Familie Smith in ihre Gästeliste mit ein und hatte ihnen gegenüber auch schon Andeutungen gemacht, ansonsten wäre Steve wohl drauf und dran gewesen, sich von der ganzen Aktion zurückzuziehen.
Was Steve wirklich Freude machte, war die Musik und er fragte sich, wieso er sich so lange davon hatte abhalten lassen. Er war Adam regelrecht dankbar, dass er diese Aktion ins Rollen gebracht hatte.
Der ersten Bandprobe waren bereits einige weitere gefolgt und Cole berichtete zuhause voller Begeisterung davon. Faith hätte für ihr Leben gern mal die Nase in den Probenraum gesteckt. Eine solche Begeisterung war eher untypisch für ihren Bruder.
Am Donnerstag der darauf folgenden Woche hatte sich das spätsommerliche Wetter wieder zurückgemeldet und Amy und Faith saßen wieder einmal bei einem Kakao unter ihrem Baum. Die Stimmung zwischen den beiden war allerdings etwas angespannt, was sehr selten vorkam.
„Amy, ich verstehe, dass du den Fuß noch etwas schonen musst. Aber deswegen kannst du doch mal wieder mit zum Training kommen. Leichte Dehnübungen können wirklich nicht schaden, außerdem kannst du zumindest zugucken und dir schon ein bisschen die Figuren einprägen und ...“
„Nein“, sagte Amy und ihr Gesicht war eine Mischung aus Trotz und Verzweiflung.
„Amy... hör mal zu ...“
„Nein, jetzt hörst du mir mal zu, Faith!“
Amys Stimme wurde lauter und energischer und überrascht blickte Faith ihre Freundin an.
„Ich will mich nicht streiten, aber ich komme nicht mit zum Training. Und ... ich werde auch nächste und übernächste Woche nicht kommen.“
„Was soll das heißen?“, funkelte Faith ihre Freundin an.
„Dass ich nicht mehr zurück komme!“, sagte Amy mit fester Stimme. „Vielleicht sollte das so sein …“ Sie deutete auf ihren Fuß.
Faith schnaubte.
„Nein, wirklich, Faith ...“ Der Trotz wich aus Amys Gesicht und ihr Ton wurde flehentlich.
„Faith, du bist meine beste Freundin. Hast du denn wirklich nie gemerkt, dass ich mich nicht richtig wohl fühle im Team?“
Faiths Gesichtsausdruck war immer noch ärgerlich.
„Wegen Skyler!“, begehrte sie auf. „Aber du kannst sie doch nicht einfach so gewinnen lassen! Ich hab dir immer gesagt, du musst …“
In Amys Augen traten plötzlich Tränen. „Faith, ich bin nun mal nicht so wie du. Und im Moment ... ich hab einfach nicht die Kraft und den Nerv auf diesen dauernden Kampf und all die Demütigungen. Ich kann es einfach nicht! Ich bin froh, wenn ich überhaupt mit mir selbst klar komme! Du weißt, was ich meine…“
Faith schwieg. War sie vielleicht wirklich gerade etwas egoistisch?
„Bitte, versteh mich doch. Wenn nicht du, wer dann?“
Der Ausdruck in Faiths Gesicht hatte sich völlig gewandelt, als sie nun Amys Hände nahm. Doch ehe sie etwas sagen konnte, trat jemand zu ihnen an den Tisch. Überrascht sah Faith auf. Es war Steve.
Amy blickte ebenfalls auf. Einen Schlag lang schien ihr Herz auszusetzen, als sie Steve erkannte. Schnell entzog sie Faith ihre Hände und wischte sich hastig die Tränen ab. Steve hatte gelächelt, als er an den Tisch getreten war, doch als er Amys Gesicht sah, verwandelte sich sein Lächeln in Besorgnis. Instinktiv nahm er Amys Hand und sein Blick suchte ihre Augen, doch Amy hielt den Blick gesenkt.
„Amy ... was ist los?“, fragte er leise, aber mit soviel Wärme in der Stimme, dass Amy nun doch den Kopf hob und seinen Blick erwiderte.
Doch dann schüttelte sie den Kopf, entzog diesmal Steve ihre Hand und wischte sich wieder über die Augen.
„Nichts“, murmelte sie mit einem leichten Lächeln. „Wir hatten nur einen kleinen... Streit.“
Bittend sah sie zu Faith hinüber.
„Ihr?“, fragte Steve mit gerunzelter Stirn und sah zu Faith hinüber. Sie nickte. Er fühlte Amys Verlegenheit und ging zu ihrer großen Erleichterung nicht näher darauf ein. Einen Moment zögerte er noch, dann wandte er sich Faith zu.
„Ich hab euch zufällig hier sitzen sehen, Faith, und wollte dich bitten, Cole und auch Adam und Ben schon mal Bescheid zu sagen, dass bei mir die Samstagsprobe ausfallen muss. Gerade im Unterricht wusste ich es noch nicht, aber meine Schwester hat sich mit ihrer Familie für das kommende Wochenende angesagt. Und das ist mir wichtig.“
Faith nickte. „Natürlich, Mr. Collins, ich sag Bescheid.“
„Das ist nett von dir, danke schon mal.“
Er verharrte noch einen Moment bei ihnen am Tisch und warf noch einmal einen prüfenden Blick zu Amy hinüber. Dann hob er zögernd die Hand und strich ihr einmal kurz über die Haare. Sie sah zu ihm auf. Er erwiderte ihren Blick kurz und sah dann zum Baum hinauf. „Ein Blatt“, sagte er leise und etwas gepresst, nickte den Mädchen noch einmal zu und verließ ihren Tisch.
Die Mädchen sahen sich an. Faith hatte leuchtende Augen. „Oh mein Gott, wie süß war das denn? Ein Blatt ...“
Amy war zu verwirrt, um etwas zu sagen. Immer und immer wieder diese Verwirrung.
Immer und immer wieder das Gefühl, ihr Herz bliebe gleich stehen. Sie seufzte.
Faith sah Steve Collins nach und ergriff als erste wieder das Wort.
„Amy ... tut mir so leid wegen gerade. Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Aber es macht mich unheimlich traurig, wenn du aufhörst.“
„Ich weiß“, sagte Amy leise.
„Aber natürlich respektiere ich deine Entscheidung. Ach Mann ...“ Faith seufzte leise.
Wieder schwiegen die beiden. Faith kämpfte mit sich, etwas anzusprechen, was ihr schon länger auf der Seele lag. Aber vielleicht war jetzt der richtige Moment.
„Vielleicht finde ich mal etwas anderes, wo ich hingehöre“, meinte Amy nachdenklich.
Das war Faiths Stichwort.
„Du Amy ... ich will ja jetzt kein neues Fass aufmachen oder so und bitte reg dich nicht auf“, begann sie vorsichtig und verdrehte so drollig die Augen, dass Amy lächeln musste.
Sie war froh, dass ihre kleine Auseinandersetzung beendet war und Faith ihren Entschluss respektiert hatte. Genau genommen war sie mehr als erleichtert, denn sie hatte nicht recht gewusst, wie sie es Faith beibringen sollte. Schließlich hatte Faith sich wirklich dafür eingesetzt, Amy ins Cheerleader Team zu bekommen und hatte immer hinter ihr gestanden. Trotzdem war sie froh, dass dieses Kapitel jetzt vorbei war.
Also schaute sie ihre Freundin neugierig an. „Oh nein, was schwebt dir jetzt vor?“, fragte sie mit ähnlich drolligem Augenaufschlag.
„Du darfst mich nicht direkt abschmettern, nachdem du mir gerade den Schock meines Lebens verpasst hast und aus dem Team raus bist“, sagte Faith ernst. „Versprich mir das!“
Amy sah sie fragend an. „Raus mit der Sprache!“
Faith atmete tief durch.
„Also gut. Ich wollte es sowieso noch mal ansprechen und jetzt sieht die Sache auch noch mal anders aus, wenn du nicht mehr im Team bist und kein Training mehr hast.“
Amy verdrehte die Augen. „Faith! Was?“
„Bitte Amy, überleg dir doch noch mal, ob du es nicht einfach mal probieren willst ... in der Schulband.“
Amy wurde blass und lehnte sich zurück. „Bist du wahnsinnig, Faith? Mit Ste..., mit Mr. Collins in einer Band?“
Faith beugte sich vor und sah Amy eindringlich in die Augen. Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. „Gerade deshalb, Süße“, sagte sie leise. „Gerade deshalb!“
Amy stöhnte auf.
„Na wunderbar, Faith. Meine Gefühle fahren drei mal am Tag Achterbahn, ich weiß schon gar nicht mehr, wer ich bin, was ich will ... und dann soll ich ihm mehrmals die Woche ... so nah sein? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“
„Doch!“, sagte Faith leidenschaftlich und blickte Amy weiterhin eindringlich an.
Amy war überrascht von dem Ernst und der Leidenschaft, die ihn Faiths Stimme lag. Offensichtlich schien sie sich wirklich Gedanken gemacht zu haben. Ihr wurde warm ums Herz. Das tat so gut. Aber was...
„Hör mir bitte zu“, sprach Faith weiter. „Ich habe viel, sehr viel über ...euch nachgedacht. An den Tatsachen, dass er dein Lehrer und verheiratet ist, können wir nichts ändern.“
„Eben!“, warf Amy leise ein. Verdammt, warum tat es immer wieder so weh?
„Schsch ...“, brachte Faith sie zum Schweigen. „Aber genau so wenig kannst du was daran ändern, was du für ihn empfindest, richtig?“
Amy schwieg.
„Jedes Mal, wenn ihr euch zufällig seht oder miteinander sprecht, bist du völlig durch den Wind. Klar. Aber Amy, gerade weil es so ist, wie es ist... vielleicht hilft es dir, wenn ihr euch regelmäßig seht, dass du deine Gefühle für ihn irgendwie in den Griff bekommen kannst.“
Stille.
Die beiden Mädchen hatten gar nicht bemerkt, dass sich das Gelände geleert hatte und sie nur noch alleine unter dem Baum saßen. Die nächste Schulstunde hatte schon längst angefangen.
„Süße. Du wirst nie bekommen, was du dir wünschst.“
Faiths Stimme war voller Mitleid und ihre Worte versetzten Amy einen Stich. Tränen rollten über ihre Wangen. Faith sah es und ihre Stimme wurde zittrig.
„Es ist einfach unmöglich, das wissen wir beide. Und ... Scheiße, das tut mir so leid!“
Auch über Faiths Gesicht lief nun eine Träne.
„Aber nimm, was du bekommen kannst: Zeit mit ihm.
Lernt euch kennen. Und wie ich schon sagte, vielleicht hilft dir das, mit dem allen umzugehen. Vielleicht ... hilft es auch ihm!“
Amy sagte immer noch nichts, die Tränen rannen ihr weiter über die Wangen.
„Keiner kann dich zwingen, Amy. Ich weiß auch nicht, ob ich Recht habe. Aber ich weiß, dass sich deine Gefühle nicht ändern werden. Und eben weil du ihn nie ... SO haben kannst - nimm dir was du kriegen kannst, genieße die Stunden, die ihr zusammen sein könnt. Außerdem weiß ich, dass du Musik liebst. Genießt DAS zusammen, was ihr zusammen haben KÖNNT.“
Minuten verstrichen, dann stand Amy plötzlich auf und ging auf Faith zu. Diese stand auch auf und nahm Amy in die Arme, die nun weinte. So tapfer hatte sie in den letzten Wochen immer wieder gekämpft, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch nun, wo Faith so offen die Tatsachen ausgesprochen hatte, konnte sie sich nicht länger zurück halten.
Zärtlich drückte Faith ihre beste Freundin an sich und nahm Anteil an ihrem Kummer. Immer wieder fuhr sie ihr mit der Hand über den Rücken, bis Amys Schluchzen langsam weniger wurde.
Im Mathematikunterricht bei Mr. Perry sah Adam sich verstohlen um. Er konnte sich nicht erklären, wo Faith und Amy abgeblieben waren. In der Pause hatte er sie gerade eben noch gesehen. Schwänzen war so völlig untypisch für die beiden, besonders für Faith.
Adam konnte nicht wissen, dass die beiden gerade ihr inniges Band der Freundschaft erneuert und noch verstärkt hatten. Und solche Momente hielten sich nun einmal nicht an Stundenpläne.
Genau so wenig wie sich die wahre Liebe an irgendwelche vom Menschen erschaffenen Vorschriften und Normvorstellungen hielt.