Um Haaresbreite
15.08.2021
"Leo? Was ist das letzte, an das du dich erinnerst?"
"Bevor ... es dunkel wurde?"
"Ja."
"An Mike. Ich erinnere mich an Mike. Daran wie ... er in meinem Badezimmer stand. An laute Stimmen. An ... das Krachen der Axt auf den Bodenfliesen, mit der er zuvor die Tür eingeschlagen hat."
"Was ist dann passiert?"
"Ich sagte, 'Ich liebe dich'."
Die Frau machte sich Notizen. Überhaupt schrieb sie ständig. Die ganze Zeit. "Was hat er geantwortet?"
"Nichts. Er hat mir mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Dann war ich hier."
"Warum denkst du, hat er das getan?"
Hilflos zuckte der junge Mann mit den Schultern. "Ich schätze ... er hat zum ersten Mal auf mich gehört."
"Wie meinst du das?"
"Grundregel Nummer 1: Setz niemals auf Verlierer."
"Hm." Der Kugelschreiber kratzte unablässig über das Papier. "Wie lange kennt ihr euch schon?"
"Etwa drei Wochen."
Sie nickte ermutigend.
"Er saß eines Abends vor meinem Fenster."
"Erzähl mir davon!"
"Snooze N' U Lose!"
Fast hätte Leo sein Notebook fallen lassen, so sehr war er erschrocken. Im vierten Stock rechnete man nicht unbedingt damit, durch ein offenes Fenster angesprochen zu werden. Schon gar nicht von so nah. Leo hatte es sich unmittelbar unter dem Fensterbrett bequem gemacht, die Seite seines Buchmachers geöffnet.
"Wa...as?!"
"Ich würde auf Snooze N' U Lose setzen." Der Kerl, der es sich auf dem Gerüst bequem gemacht hatte, zeigte grinsend auf den Bildschirm.
"Wieso?"
"Weil es wahr ist."
"Das ist kein Grund. Bei seiner Quote ist zu befürchten, dass der Gaul über seine eigenen Hufe fällt."
"Na ja. Life Is A Beach."
"Bitch."
"Nicht gleich frech werden." Sein unverschämtes Grinsen strafte die Worte Lügen. "Nein. Nummer 12. Life is a Beach. Was ist mit dem?"
"Ach so. Nein, eher nicht. A Shin Chiller sieht gut aus. Lost My Sox aber auch."
"Das ist doch Tierquälerei", seufzte der Mann draußen.
"Pferde gegeneinander laufen zu lassen?"
"Nein. Ihnen solche Namen zu geben!"
Ganz Unrecht hatte er nicht.
"Was machen Sie eigentlich hier im Halbdunkeln?"
"Ich such mein Handy. Hab ich bei der Arbeit irgendwo liegen lassen."
Ein ratloser Blick war Leos Antwort.
"Ich bin Gerüstbauer? Habe das hier aufgebaut? Die letzten Tage?" Seine ausladende Handbewegung sollte wohl bei der Beweisführung helfen.
Richtig. Die Fassade sollte gestrichen werden. "Haben Sie das Handy gefunden?"
"Hat er es gefunden?", fragte die Frau.
"Ja."
"Ihr habt euch im Anschluss öfter gesehen?"
"Am nächsten Abend saß er wieder auf diesem Brett." Auf Leonardos Gesicht stahl sich ein Lächeln. "Und an dem darauf. Und dem darauf ..."
"Buh!"
"Schleich dich nicht so an, verd...! Oh mein Gott! Das ist ja soooo süüü?! Was ist das?!"
"Erstens mal, ich bin 1,90 Meter groß und habe 85 Kilo. Ich kann überhaupt nicht schleichen. Und zweitens, das ist ein Angorakaninchen."
Mike konnte es nicht glauben. Leo hatte das Fellbüschelchen in die Arme geschlossen und ins Herz. Direkt. Ohne Umweg. Innerhalb einer Sekunde. Schockverliebt. Forever.
"Müsstest du nicht kreischend wegrennen?"
"Wieso sollte ich?", fragte Leo abwesend, den Blick versonnen auf das Häschen gerichtet.
"Na wegen deiner ... Dings. Angoraphobie."
"A-gora. Trottel."
"Wollte dich nur aufziehen."
"Hat Max es geschafft?"
"Max?"
"Mein Kaninchen."
"Ich weiß es leider nicht."
"Ah." Er nickte unendlich traurig.
"Du bist in Sicherheit, Leonardo. Weil Mike dich aus dem brennenden Haus getragen hat, hast du überlebt. Um Haaresbreite."
Die Psychiaterin schloss bedächtig ihre Mappe.
"Verzeihung? Sind Sie Leos behandelnde Ärztin?"
Die Mittvierzigerin blickte von ihrem Schreibtisch hoch. "Seit über zehn Jahren. Sie sind Mike."
"Ja." Hilflos trat er von einem Fuß auf den anderen. "Wie geht es ihm?"
"Er wird eine Weile hier bleiben."
"Ich verstehe."
Ruhig sah sie ihn an. Forschend. Mann! Diese Seelenklempner hatten es drauf!
"Es tut mir so leid. Dass ich ihn geschlagen habe, meine ich."
"Nun, die Methode kann ich zwar nicht unbedingt gut heißen, hat ihm aber das Leben gerettet. Das ist es, was am Ende des Tages zählt."
"Er war so furchtbar in Panik und ich hatte keine Zeit."
"Zeit wofür?"
"Ihm zu erklären, dass er mit hinaus kommen muss."
"Es hätte nicht geholfen. Seine Angststörung ist stark ausgeprägt. Sie müssen verstehen, dass er nicht wegen des Feuers in Panik war. Sondern wegen des Gedankens, nach draußen zu müssen. Freiwillig hätte er die Wohnung nie verlassen."
"Ja. Ich fühle mich trotzdem scheiße. Ich möchte es ihm gerne sagen."
"Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Gehen Sie zu ihm." Sie drehte ihren Füller zwischen den Fingern. "Darf ich Sie etwas fragen?"
"Ja?"
"Er hat Ihnen gesagt, dass er Sie liebt?"
"Ja. Das hat er."
"Wie bewerten Sie das?"
"Ich ... weiß nicht. Ich ... glaube ... ich war nur ... der einzige, der da war."
Sie nickte nachdenklich.
"Okay", murmelte er. "Dann, auf Wiedersehen."
"Mike?"
"Ja?"
"Sie sind der einzige, von dem er wollte, dass er da war. Denken Sie darüber nach."