06.10.2019
Rote Schuhe
Es war so weit. Heute war es aus. Wir waren ja nicht blöd.
Wie die Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank, gingen wir Mädels aus unseren Büros hinüber in Produktionshalle Eins, wo die Betriebsversammlung stattfinden sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit der Anfang vom Ende sein würde.
Wir alle drei haben am vergangen Wochenende jeweils etwas getan, das im ganzen Leben niemand hätte kommen sehen.
Die alleinstehende Helga hat nach vierzig Jahren der Selbstaufgabe im Vorzimmer unseres Seniorchefs schon mal vorsorglich ihren Schreibtisch geräumt.
Sabine, Mitte Vierzig, verheiratet, Mutter zweier Teenager, hat sich die braunen, schulterlangen Haare abschneiden lassen. Seit der Grundschule hatte sie nie eine andere Frisur. Jetzt trug sie einen silbrig-weiß gefärbten Undercut und ein Piercing in der Augenbraue.
Ich habe mehrere Paar roter Schuhe gekauft. Und, ach ja, einen Kerl aus einer Bar abgeschleppt und die ganze Nacht und den Großteil des folgenden Tages die Art von Sex gehabt, über die man in der Öffentlichkeit nicht spricht. Aber dazu später!
Jede Schafherde brauchte einen Leithammel. Unserer lag leider nach einem Herzinfarkt im Koma. Schon seit etwas länger als sechs Monaten. Der Alte war ein Schatz. Kannte jeden von uns mit Vornamen. "Seine Leute" hat er uns immer genannt. Selten, so einer! Und dann, es war an einem Dienstag Morgen gewesen, direkt nach dem zweiten Kaffee - peng! Eine neue Zeitrechnung begann.
Man setzte uns einen Geschäftsführer vor die Nase. Als ob wir den nötig hätten! Helga, Sabine und ich hatten den Laden im Griff. Zum Glück verbrachte er viel Zeit auf dem Golfplatz und kam uns nur selten in die Quere. Es ist nämlich so: Nur weil man einen Hammel in einen Anzug steckt, ist es noch lange kein Leithammel. Es ist einfach nur ein weiterer Bock in einem Anzug.
Schuld an allem war der Juniorchef, der gleich ankommen musste. Er hat in den USA studiert und Karriere gemacht, wir haben ihn nie gesehen. Aber wir haben ihn gegoogelt. Aalglatter Typ. Eindeutig Alpha-Tier. Überhebliches Grinsen, Trophy-Wife.
Aber gut. Ich verdankte dem Schnösel immerhin das Wochenende meines Lebens! Im übertragen Sinne, natürlich. Würde ich wegen ihm nicht panisch in eine ungewisse Zukunft auf dem freien Arbeitsmarkt blicken, hätte ich mich wohl kaum hinreißen lassen, eine Wildwasser-Rafting-Tour mitzumachen. Ich musste schließlich nicht mehr auf mich aufpassen. Wozu denn bitte noch?! Ich hätte mich anschließend nicht betrunken und ich hätte diesen Wahnsinns-Kerl nicht mit in meine Wohnung genommen. Und mein Bett. Unter die Dusche. Auf den Teppich, den Küchentisch, die Couch oder die Hollywoodschaukel auf meinem Balkon. Gott. Sicher habe ich den ganzen heutigen Tag extrem dämlich gegrinst!
Früher war alles netter. Wir hatten eine Personalabteilung. Jetzt hieß das Human-Resource-Management. Überhaupt hatte die Anzahl der Manager in unserem Unternehmen rasant zugenommen. Sogar unsere Putzfrau hatte eigene Visitenkarten, auf denen "Facility Manager" stand.
Das würde eine Herausforderung für das AMS, so viele Führungskräfte unterzubringen! Wir gingen davon aus, dass der Juniorchef den Standort dicht machte. In Tschechien ließ sich billiger produzieren.
Es wurde ernst. Das, als Kollateralschaden gegoogelte Trophy-Wife, nahm neben dem Hammel auf dem improvisierten Podium Platz, eine Flasche Evian in ihren zarten Fingerchen. Ich setzte mich zwischen Helga und Sabine. In der vordersten Reihe hatten die Arbeiter uns Mädels aus der Chefetage drei Stühle frei gehalten.
Trotz der unsicheren Lage grinste ich immer noch. Das ging einfach nicht weg. Gegen die Ereignisse des vergangenen Wochenendes, war Fifty Shades of Grey eine Gute-Nacht-Geschichte für die Altersgruppe Vier bis Sieben! Nur, dass ich die mit den Ansagen gewesen war! Und roten Lackleder-Stiefeln. Nebenbei hatte sich mit dieser Sache die Anzahl meiner Liebhaber schlagartig verdoppelt!
Nach fast drei Jahren, hatte ich es aber auch echt nötig gehabt! Zwei Jahre, acht Monate und sechzehn Tage, um genau zu sein. So lange war es her, dass ich mich von meinem Freund getrennt hatte. Also, wir uns. Na gut. Er sich.
Ein Raunen ging durch die Halle. Der Boss betrat die Bühne. Der Vorsitzende des Betriebsrats straffte, ob des spärlichen Informationsaustauschs, frei nach dem Motto "Was lange währt wird endlich Wut", seine schmalen Schultern. Auch ich gedachte hoch erhobenen Hauptes dem Unvermeidlichen ins Gesicht zu sehen, beschloss dann aber spontan in meinem Sitz zu versinken.
Holy Shit!
Wenn ich mir den aalglatten Schnösel da oben, ohne Gel in den dunklen Haaren, aber dafür mit Dreitagebart und in Jeans anstatt dem Anzug vorstellte, ohne die Rolex stattdessen mit Handschellen an meinem Bett ...
Überlegen ließ er den Blick über die Anwesenden schweifen, blieb dabei eine Sekunde zu lange an mir und meinen blutfarbenen Stilettos hängen und vergaß seinen Text. Ich sah ihn deutlich Luft holen und überlegte, ob ich etwas zur Auflockerung der Situation beitragen könnte. Zum Beispiel die Nummer wählen, die er mir mit Textmarker auf die Innenseite meines Oberschenkels geschrieben hatte? Oder einfach mal bei seiner Frau durchklingeln und sie zu einer Tasse Kaffee einladen!
Die Betriebsversammlung war nicht gerade ergiebig. Der Hammel ging die Zahlen des letzten Jahres durch. Der Juniorboss stürmte unmittelbar danach aus der Halle in Richtung Fluchtauto.
Da hatte einer schlagartig seine Meinung geändert. Oder es waren nur böse Gerüchte gewesen. Keine Rede mehr von Schließung. Ich persönlich halte sogar eine saftige Gehaltserhöhung für durchaus realistisch!