Alle hielten den Atem an. Auch Lotte. Das Ganze hatte was Glamouröses. Was Aufregendes! Alleine die Atmosphäre in diesem sündhaft teuren Restaurant - ein Wahnsinn!
Jedes Tuscheln verstummte, als der Bräutigam das Parkett betrat und mit dem hinreißendsten Lächeln der Welt die Hand nach seiner Liebsten ausstreckte.
Herzrasen.
Plötzlich war alles wieder da. Ganz so, als wäre es gestern gewesen. Der warme Sommerabend, an dem Robert in Lottes Leben getreten war. Die erste Verabredung im Park. Der erste Kuss. Die erste gemeinsame Nacht.
Es war perfekt. Na gut. Fast. Denn leider war es nicht ihre Hand, auf die der umwerfendste aller Männer soeben einen zarten Kuss hauchte. Es war die, ihrer besten Freundin Anastasia. In einem Traumkleid, mehr schwebend als gehend, strahlte sie mit den Kronleuchtern um die Wette.
Tosender Applaus brandete unter den versammelten Gästen auf. Was für ein wunderschönes Paar. So toll, dass einem übel werden konnte. Zum Kotzen.
Nein, Lotte war nicht neidisch. Da stand sie drüber. Abgeklärt. Pragmatisch. Erwachsen. Wie es sich unter Freunden gehörte, freute sie sich für die beiden, die glückselig in den Hafen der Ehe gesegelt waren. Oder versuchte es zumindest. Freude, Freude, Freude. Während sie, Liselotte Roth, sich fühlte, wie Treibgut nach der Schneeschmelze. Angeschwemmt am Rand des Lebens.
"Sie sind wie füreinander geschaffen", seufzte just in diesem Moment die Mutter der Braut in ihre Richtung. "Und du, meine Liebe?" Oh, dieser mitleidige Blick. "Noch immer kein geeigneter Heiratskandidat in Aussicht?"
Nee. Nicht mehr.
Die leere Sektflasche auf dem Badewannenrand schaute desillusioniert auf das Elend herab, das seit Stunden schluchzend in nur noch lauwarmem Wasser vor sich hin dümpelte. Das Leben ging weiter. Auch ohne Rob, der Lotte noch vor wenigen Monaten den Himmel auf Erden versprochen hatte. Sie musste sich zusammenreißen! Und würde es auch!
Viel zu früh, und mehr als nur ein bisschen zu laut, wurde sie am Sonntagmorgen vom Klingeln an ihrer Tür geweckt. Ein anhaltend schriller Ton.
"Lieselotte!", tönte es aus der Gegensprechanlage. "Hier ist deine Mutter!"
Natürlich. Wieso nicht?! Wenn schon eine Axt im Rücken, dann aber auch gleich mit ordentlich Schwung!
"Kind, du siehst verheerend aus", begrüßte die elegante Frau ihre Tochter.
"Dir auch einen schönen guten Morgen, Mama."
"Ungeachtet deiner vollkommen inakzeptablen Erscheinung", die Ältere scannte sie pikiert, "muss ich dich bitten, dich umgehend reisefertig zu machen. Du wirst noch heute von deiner Tante erwartet."
"Von wem?"
"Der Schwester deines Vaters! Sie hatte einen Unfall. Du wirst dich während der nächsten beiden Wochen um ihren Buchladen kümmern."
"Was?!" Sofort war Lotte hellwach. Zumindest im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Ein popeliger Laden in einem Provinznest? "Wieso ich?!"
"Weil das dein Beruf ist."
"Mutter, ich habe vergleichende Literaturwissenschaften studiert."
"Davon spreche ich doch gerade."
"Ich habe einen Doktorti..."
"Das brauchst du mir nicht zu sagen, meine Liebe. Dein Vater und ich haben diesen Unsinn finanziert!" Energischen Schrittes machte die Frau sich auf den Weg in die Küche. "Und was haben wir jetzt davon? Wenn du wenigstens verheiratet wärst! Aber nein. Nicht mal Enkelkinder willst du uns gönnen!"
Genervt sah Lotte auf ihr Handy. Eine Sprachnachricht. Von Robert. "Lotte." Er klang verzweifelt. "Ich habe einen Fehler gemacht. Baby, ich muss dich unbedingt sehen."
"Eine deiner Freundinnen hat eben einen äußerst gut situierten Rechtsanwalt geheiratet", fuhr die Mutter fort. "Wie heißt sie noch gleich?"
"Anastasia", murmelte Lotte und verfluchte sich noch in der selben Sekunde dafür, sich einen Themenwechsel gewünscht zu haben, den sie prompt geliefert bekam.
"Hast du wenigstens das Diät-Handbuch gelesen, das ich dir geschickt habe?"
"Ich geh dann mal packen."
Alles war besser als das hier. Auf, zu neuen Ufern!