Trümmerfeld
11. 02.2024
"Preiselbeeren! Preiselbeeren!"
Irritiert stellte Irene die letzte Umzugskiste neben der Haustür ab. "Hörst du das auch? Da ruft andauernd eine Frau nach Preiselbeeren."
Angestrengt lauschte Carolina in die Dunkelheit. "Nicht Preiselbeeren." Kurz schüttelte sie den Kopf. "Preiset den Herrn."
"Ah. Ja." Der Sinn erschloss sich jetzt noch weniger.
Vor dem Nachbarhaus stürmte die kleine Laura auf ihren Vater zu, kaum dass er aus dem Auto gestiegen war.
"Papa? Kannst du ein Bild aufhängen?"
"Hast du gemalt?
"Heute nicht, es ist nicht mein Bild, es gehört der neuen Nachbarin, die findet keinen Nagel, ich habe gesagt du kannst Bilder sehr gut aufhängen, weil du meine immer so schö..."
"Stopp, meine kleine Motte!"
"...schön aufhängst ..."
"Seit wann wohnt da wer?"
"Seit heute, sie heißt Carolina, das Haus hat mal ihrer Oma gehört, Carolina hat eine beste Freundin, die heißt Irene, und sie hat auch ein nettes Lächeln, ich mag sie, aber sie sieht sogar beim Lächeln ein bisschen traurig aus, ihr Leben ist nämlich ein Trümmerfeld, das hat mir Irene gesagt, wahrscheinlich weil sie keinen Nagel für das Bild findet."
"Okay." Lukas musste sich bei dieser Flut an Informationen dann doch ein allzu breites Grinsen verkneifen. Er würde es wohl nicht so schnell in den Feierabend schaffen. Geschweige denn in die Nähe der heiligen Dreifaltigkeit, die dem Duft nach in der Küche auf ihn warten musste: Schweinsbraten, Knödel und Krautsalat von Tante Helga. Und eben die stellte sich ihm resolut in den Weg, als er gerade seinen Werkzeugkoffer aus der Garage geholt hatte.
"Essen ist fertig."
"Ich bin gleich wieder da."
"Papa geht ein Bild aufhängen, bei der Nachbarin, fast hätte sie es ins Wohnzimmer gehängt, dabei gehören Heilige in den Herrgottswinkel, das weiß ich von dir, zum Glück war ich da!", strahlte Laura.
"Ein Heiligenbild?" Tante Helgas Blick verklärte sich noch in der gleichen Sekunde.
"Ja. Der heilige Sebastian."
"Preiset den Herrn!"
"Der Heilige der Jäger und Schützen." Nachdenklich betrachtete Irene das Bild.
"Ich wusste gar nicht, dass du so bibelfest bist", stellte Carolina fest.
"Gegoogelt." Sie grinste breit. "Betest du um Beistand, weil du deinen Exmann doch noch umlegen willst?"
"Anbetungswürdig ist Saint Sebastian auf jeden Fall. Über das andere denke ich noch nach." Nie hätte sie gedacht, dass ihre Ehe sich so schäbig in die Kurve legen könnte. "Ist von Steven Dag. Gefällt es dir?"
"Gefallen?! Ich habe gerade zum Glauben gefunden!"
"Wir werden die Frau direkt zum Rosenkranz einladen", sinniert Tante Helga, während sie hinter Laura und Lukas das alte Häuschen betrat. "Und zum Gebetskreis, denn so viel Hingabe für die sakrale Kunst findet man selten!"
"Aha", sagte Lukas.
Gleichzeitig drehten sich Carolina und Irene um. Was einen schönen Blick auf das Bild zuließ.
Tante Helga brauchte etwas. Dann atmete sie zischend ein, aber nicht mehr aus, packte Laura, hielt ihr die Augen zu und drehte sie um. "Jesus, Maria und Josef!"
"Nein, das ist der heilige Sebastian", erklärte die Kleine ernst.
"Vielleicht ist die Küche doch nicht der richtige Ort dafür", murmelte Lukas.
Es war bereits spät in der Nacht, als Lukas sich aus dem Wohnzimmersessel stemmte. Irene war längst auf der Couch eingeschlafen. Irgendwo zwischen der zweiten und der dritten Flasche Wein.
"Also dann. Danke fürs Aufhängen", sagte Carolina. "Und hoffentlich fängt sich deine Tante wieder."
"Mit einem derart freizügigen Märtyrer hat sie nicht gerechnet. Ich fürchte, ihr Leben ist seit heute ein Trümmerfeld", schmunzelte er.
"Dabei hat sie die anderen Akte noch gar nicht gesehen", kicherte sie.
"Preiset den Herrn, sag ich da nur!" Jetzt lachte Carolina von Herzen. Wie früher, als sie noch Kinder waren. Es gefiel ihm. "Wenn du Hilfe brauchst, wobei auch immer, sag es einfach."
"Du bist lieb. Das werde ich."
"Und Carolina?"
"Hm?"
"Schön, dass du wieder da bist."
Nachtrag: Steven Dags "Saint Sebastian" fiel mir auf einer Auktion ins Auge. Der Künstler hat mehrere Versionen gemalt. Die meisten sind in der Galerie seiner Homepage zu sehen. (Belle-User werden sich dort direkt zurecht finden - es gibt eine Unterwelt ...)