03.11.2019
Sternenhimmel
"Pia!" Aufgeregt stoppte Lorena ihr Fahrrad und starrte hinüber zur Eingangstür eines Autohauses. "Schau! Da ist er!"
Die beste Freundin hielt ebenfalls an und folgte besorgt ihrem Blick. "Da ist wer?"
"Na ... er!"
Oh, dieser Mann! Sie waren fünfzehn gewesen, als er an einem klirrend kalten Wintermorgen zum ersten Mal in die gleiche Regionalbahn gestiegen war, die auch Lorena und ihr Bruder Elias zur Schule nahmen. Millionen Sterne über ihnen, aber dieser Kerl überstrahlte sie alle. Von der Sekunde an, war nichts mehr gewesen wie zuvor.
Mehr als drei Jahre war das her. Der sportliche Dunkelhaarige mit den tiefblauen Augen hatte damals noch eine andere Frisur gehabt. Kürzer und ein bisschen frech. Inzwischen band er seine Haare zusammen. Outfit und Tasche waren lässig gewesen, heute zog er eher unauffälligere und elegantere Sachen vor. Hatte T-Shirts gegen Hemden getauscht und Jacken gegen Mäntel. Als ob das nötig gewesen wäre. Er sah einfach in allem umwerfend aus!
Und diese samtweiche Stimme, dieses hinreißende Lächeln! Zum Dahinschmelzen. Dazu war der Mann auch noch unglaublich nett. Gerade vor zwei Wochen, hatte er einer Schwangeren den Kinderwagen mitsamt Töchterchen in das Abteil gehoben. Echt peinlich, wie die Frau ihn dafür angehimmelt hatte. Diese Schlampe! Die hatte ja offensichtlich schon einen Mann!
Pia begriff sofort. "Geh doch mal zu ihm hin, Lore!"
"Spinnst du? Was soll ich sagen?!"
"Dir fällt schon was ein!"
"Ich glaube nicht."
Die Freundin schüttelte den Kopf. "Das ist die Gelegenheit! Er ist praktisch alleine!"
"Ja, schon. Aber ..."
"Noch ein paar Wochen, dann haben wir den Abschluss in der Tasche. Du, da ist nichts mehr mit Regionalbahn zur Schule. Da ist U-Bahn zur Uni. Und Mr. Perfect fährt da nicht mit. Mensch! Letzte Chance!"
Ja, dann wäre das hier vorbei. Nach so langer Zeit. Nach so viel hoffen, ihn am nächsten Morgen wieder lächeln zu sehen. Vielleicht sogar einen zufälligen Blick von ihm einzufangen. Und dann glückselig nach der vertrauten Hand neben sich zu greifen, wenn es geschehen war. Oder voller Kummer, wenn nicht.
Nach so vielen Stunden, in denen die Gespräche sich nur um ihn gedreht hatten. Ihn, der schöner war als der Sternenhimmel. Nach so vielen Schmerzen und so unendlich tiefer Sehnsucht, die sich doch nie erfüllen würde. Wie oft war Lorena dann Abends zu ihrem Zwillingsbruder Elias unter die Decke geschlüpft. Zu ihm, dessen Seele der ihren so nah war, dass es keiner Bitte bedurfte. Fest in den Arm genommen zu werden, half immer. Ein bisschen wenigstens.
"Was kann denn schon passieren?", fragte Pia. "Gar nichts!", beantwortete sie die Frage gleich selbst.
"Ich weiß nicht." leicht zittrig strich Lorena sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht.
"So kann es nicht weitergehen, das weißt du selbst. Komm, trau dich." Aufmunternd drückte die Freundin ihre Hand. Pia hatte Recht. Lorena atmete tief durch. Mit weichen Knien ging sie auf den Mann zu, der inzwischen alleine neben einem dunklen Wagen stand und dabei in Papieren blätterte.
"Wollen ... Sie ... sich ein Auto kaufen?"
Irritiert sah er auf und nach einem Augenblick des Innehaltens erhellte sich sein Gesichtsausdruck. Erkannte er sie?
"Habe ich gerade getan", lächelte er ein bisschen unruhig, denn seine Blicke schweiften dabei ab, als würde er hinter ihr nach etwas suchen. Oder jemandem. Lorena meinte einen Moment lang grenzenlose Enttäuschung in seinem Gesicht zu sehen, als er sich ihr wieder ganz zuwandte.
"Und ... fahren Sie mit dem dann zur Arbeit?"
"So ist es gedacht." Einigermaßen besorgt musterte der schöne Mann inzwischen das furchtbar nervöse Mädchen. Mit glühenden Wangen blinzelte sie ihn schüchtern an.
"Es ist nur ..."
"Ja?"
"Weil ..." Hilfesuchend schaute sie sich zu ihrer Freundin um, die energisch nickte. "Tu es für Elias", formten ihre Lippen.
Jetzt, oder nie!
"Weil ... Also, weil ... Sie werden meinem Bruder das Herz brechen, wenn Sie nicht mehr Zug fahren."
Wie vom Donner gerührt stand der schöne Mann mit den blauen Augen da und sah den beiden jungen Mädchen auf ihren Fahrrädern hinterher. Lautlos segelten Blätter zu Boden, die seine zitternden Finger nicht mehr halten konnten.
"Alexander?" Die Stimme seiner Schwester Viktoria drang aus weiter Ferne zu ihm durch. "Hey! Brüderchen!" Schlanke Finger schnippten vor seinem Gesicht. "Hast du einen Schlaganfall?"
"Was?"
"Ich sagte gerade, du kannst morgen eine halbe Stunde länger schlafen. Mit dem Auto brauchst du nicht so lange zur Arbeit."
"Nein", flüsterte er.
"Nein?"
"Morgen", schüttelte Alexander den Kopf, fing an zu lachen, so überglücklich, dass ihm dabei Tränen seine Wangen hinunter liefen, umarmte sie, hob sie hoch und wirbelte sie ausgelassen durch die Luft, "nehme - ich - die - Bahn!"