08.09.2019
Blutsbande
Menschen machen aus Liebe die seltsamsten Dinge. Wie Nick, zum Beispiel. Vor drei Wochen hat er ein Pferd gekauft, obwohl er panische Angst vor großen Tieren hat.
Er ist mir gleich aufgefallen, als er damals ankam. Ich habe ihn beobachtet, als er mit der Maklerin über das Grundstück spaziert ist und es hat mich nicht gewundert, als er gute zwei Wochen später mit dem Haustürschlüssel zurück gekommen ist. Fünf Jahre ist das her.
Nick ist vor etwas weggelaufen: Seinem Leben. Seinen Eltern mit ihren unerfüllbaren Erwartungen und ihrem Gerede von Blutsbanden und den gesellschaftlichen Verpflichtungen, die mit diesen einher gingen. Aber nützen einem Blutsbande, wenn keine Liebe da ist? Er lief weg vor seiner siebzig Stunden Woche und seiner Frau, die das alles toll fand.
Ein einziges Mal ist sie hier aufgetaucht. Kurz nach seinem Einzug. Wollte sehen wie er lebt, hat sie gesagt. Und dass sie sich den Weg in diese Einöde gespart hätte, hätte sie gewusst, dass es nichts zu sehen gibt.
So, als wäre das hier nichts.
Dabei ist es ein gemütliches, kleines Haus mit Garten und Blick ins Tal, das uns gehört.
Mit mir hat die Dame nie ein Wort gesprochen. Sie hat mich aufmerksam gemustert, leicht angewidert das Gesicht verzogen und zu ihm gesagt, sie hätte geglaubt, er hätte mehr Geschmack. Ich wäre doch sehr gewöhnlich.
Als sie weg war, hat Nick mich in die Arme genommen und mir versichert, ich sei etwas ganz Besonderes. Da habe ich gewusst, dass ich für immer bei ihm bleiben will. Es war eine gute Entscheidung. Mir fehlt nichts, mit ihm bin ich glücklich.
Lange Zeit gab es nur ihn und mich. Und jetzt gehört auch dieses hellbraune Pferd mit der weißen Mähne zu unserem Leben, das im Reitstall ein Stück die Straße runter, genüsslich vor sich hin frisst. Viel mehr hat es im Moment nicht zu tun, denn seinem Besitzer bricht kalter Angstschweiß aus, wenn er nur an das Tier denkt.
Nick hat im Sommer einen Nebenjob in einem kleinen Sportgeschäft. Wenn er am frühen Nachmittag heim kommt, bin ich schon hier. Ich warte auf ihn. Wir essen gemeinsam und dann geht er in seine Werkstatt um zu arbeiten. Er macht hier aus Holz all diese kleinen Spielsachen, die er direkt verkauft oder manchmal auch auf einem Markt. Es macht ihn nicht reich, sagt Nick. Aber glücklich.
Er sagt es, doch es ist nicht ganz die Wahrheit. Ich sehe es jeden Tag in seinen Augen. In der Art, wie er lächelt. Ich kenne ihn gut. Der Gedanke kam mir schon früh, aber seit einigen Monaten bin ich sicher. Seit dem Tag, an dem Anne mit ihrer Tochter in die kleine Einliegerwohnung der Nachbarin gezogen ist. Anne ist richtig lieb. Aber sie redet wenig. Das Kind gar nicht. Es mag Pferde sehr gerne. Oft steht es mit seiner Mutter am Zaun und sieht den anderen Kindern zu, deren Eltern sich Reitstunden leisten können. Anne kann das nicht oft.
Jeder hat vor irgend etwas Angst. So wie Nick, sobald er vor seiner gutmütigen Stute steht. Das Mädchen hat das auch gleich gemerkt. Es hat sich nicht darüber lustig gemacht. Nur gelächelt und ihm geholfen. Da hatte er die gute Idee, ihr sein Pferd fürs Erste zu überlassen, denn so ein Tier braucht Bewegung. Und jemanden, der sich traut es anzufassen.
Die Mutter ist über ihren Schatten gesprungen und hat es erlaubt. Weil sie ihre Tochter liebt und sie das Pferd. Jetzt steht Nick jeden Tag mit Anne am Zaun und gemeinsam sehen sie der Kleinen beim Reiten zu. Seine Augen strahlen und sein Lächeln hat jede Traurigkeit verloren. Wenn er Anne dabei beobachtet.
Ich bin der Meinung, dass Blutsbande nicht schaden. Solche, die man mit dem Herzen knüpft. Ich denke, Nick ist dabei das zu tun. Da sehe ich darüber hinweg, dass er die Sache vielleicht geplant und ein bisschen geflunkert hat. Wir wissen schließlich beide, dass die Stute nie dazu da war, an seiner Angst vor großen Tieren zu arbeiten. Machen wir uns nichts vor. Das wird nichts mehr.
Menschen machen aus Liebe die seltsamsten Dinge. Ich finde es gut. Aber was verstehe ich schon davon? Ich bin nur eine Katze. Noch dazu eine sehr gewöhnliche.