22. 04. 2020
Himmelblau
Vroni blickte der Deutschstunde an diesem Montag Morgen äußerst motiviert entgegen. Das zehnjährige Mädchen zog das himmelblaue Heft mit dem fertig geschrieben Aufsatz aus der Schultasche und öffnete es.
Die Aufgabenstellung hatte wie folgt gelautet:
a) Sprich mit deiner Familie und Menschen aus deinem Umfeld. Bitte sie, dir einen Ratschlag mit auf den Weg zu geben, der dir in deinem Leben von Nutzen sein kann.
b) Ziehe deine eigenen Schlüsse daraus.
c) Verwende die wörtliche Rede. Achte auf die Satzzeichen.
d) Denk daran, Synonyme für "sagen" zu benutzen. Beispiele, siehe Buch S. 157/2
"... möchte uns jemand seinen Text vortragen?", beendete die Lehrerin eben ihre Ansprache. Mehrere Hände schnellten in die Höhe. "Veronika!? Bitte!"
Guter Dinge stellte das Mädchen mit den blonden Zöpfen sich vor die Tafel und begann zu lesen.
'Buch Seite 157/1. a) Sprich mit deiner Familie und Freu...'
"Ähm, Vroni, es gibt keine Punkte für mehr Worte."
"Okay."
'Als erstes habe ich meinen Bruder gefragt ob er einen Rat hat, der mir helfen kann. Er hat geknurrt, er rät mir sofort aus seinem Zimmer zu verschwinden, weil mir sonst nie wieder einer helfen kann.
Dann habe ich den Papa gesucht. Er hat mir sein Handy gegeben und gemeint, ich soll für den Mist Onkel Rudi anrufen, dem ist eh fad. Das habe ich gemacht. Onkel Rudi war sich sicher, dass es eine schlechte Idee ist, sturzbesoffen auf einen Laternenmast zu klettern. Ich soll das nicht auch versuchen.
Dann hat die Mama voll mit dem Papa geschimpft, weil er mich mit dem dauerbekifften Totalversager telefonieren hat lassen.
Der Papa hat gesagt, die Mama ist schon den ganzen Tag unerträglich. Aber ich soll mir keine Sorgen um sie machen. Frauen mit leichtem Übergewicht leben nämlich länger, als die Männer die sie darauf ansprechen.'
"Du solltest aber auch die wörtliche Rede verwenden", unterbrach die Pädagogin.
"Kommt gleich", nickte ihre Schülerin.
'Dann bin ich zur Mama in die Küche gegangen. Sie hat gesagt, "Heirate nie."
"Da war's."
"Ja, Ähm .... sehr schön. Weiter, bitte."
'Deshalb habe ich gedacht, dass es eine gute Idee ist, als nächstes Tante Vera zu fragen.
Tante Vera hat lange mit mir geredet. Sie hat gesagt, wenn ich einen Mann kennenlerne, der mich versteht, der Stil hat und toll aussieht, der höflich, gebildet und kultiviert ist, darf ich ihm auf keinen Fall meinen besten Freund vorstellen. Dann hat sie mich an den Schultern gepackt, geschüttelt und geschnieft: "Erspare - dir - diesen - Kummer!" Dann hat sie ... '
"Ähm...."
"Ich verstehe es auch nicht."
'... Dann hat sie sich mit einer Flasche Rum in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen.
Am Nachmittag ist die Mama mit mir und meinem Bruder zu unseren Großeltern gefahren. Dort habe ich Oma nach einem hilfreichen Rat gefragt. Sie hat sich sehr gefreut. Sie hat mir erklärt, wie man unterschiedliche Flecken von überall rausbekommt.
Opa habe ich aus aktuellem Anlass (siehe oben) gebeten, mir das Geheimnis einer langen Ehe zu verraten. Es sind diese vier Worte: "Du hast recht, Schatz."
Wo ich schon dort war, habe ich auch gleich Uroma gefragt. Sie ist die Mama meiner Oma und wohnt auch im gleichen Haus, aber unten.
Uroma ist schon sehr alt. Mein Bruder sagt, sie riecht nach Tod. Opa hat gemurmelt, das wäre schön. Die Mama hat ihn ganz böse angeschaut und gesagt, das ist nicht der Tod, das ist 4711. Opa hat geantwortet, er weiß nicht, wo der Unterschied ist.
Uroma hat angestrengt nachgedacht. Dann hat sie gemeint, dass es besser ist im Leben eigene Erfahrungen zu machen, als auf irgendwelche senilen Deppen zu hören.
Ich brauchte aber noch welche, weil mein Aufsatz sonst zu kurz geworden wäre. Also bin ich als letztes mit dem Rad zu meinen anderen Großeltern rüber gefahren. Den Eltern von meinem Papa.
Oma hat gesagt, dass man Gott dankbar sein soll für alles was man hat. Opa sagt, er ist für gar nichts dankbar, er hat alles selbst bezahlt.
Mein eigener Schluss ist, dass mein Bruder ein Volltrottel ist.
Ende.'
"Ähm ... Vielen Dank, Veronika. Das war sehr ... Ähm ..."
"Ja, oder?", strahlte das Mädchen und sprang begeistert zurück zu seinem Platz.