13.10.2019
Scharlachrot
Hanna war nichts anderes übrig geblieben, als Zuflucht unter einer Brücke zu suchen. Es regnete Sturzbäche. Die Mascara verlaufen, den scharlachroten Lippenstift verschmiert, gönnte die junge Frau im seidenen Brautkleid sich einen Schluck aus ihrer bereits halb leeren Champagnerflasche und stolperte in Richtung der tosenden Strömung.
"Hey, Lady. Das ... ist doch keine Lösung."
"Was?" Hanna sah in zwei braune Augen und ein ehrlich besorgtes Gesicht, das von schwarzen Locken eingerahmt wurde. Ein Junge hielt sie am Ärmel fest.
"Na ... Na ja ... Ich ... bin nicht so begabt mit Worten. Aber nichts kann so schlimm sein ... ich meine ... bestimmt wird alles wieder gut!"
So betrunken war die Frau noch nicht, dass sie nicht realisiert hätte, wie das in diesem Moment aussehen musste. "Ist ja nett von dir. Aber ich habe sicher nicht vor heute zu sterben." Die schneeweiße Seide raschelte, als sie sich auf die einigermaßen trockenen Pflastersteine setzte. "Den Gefallen tue ich ihnen nicht."
Der Junge sah sie nachdenklich an. "Hübsches Kleid."
"Alexander McQueen."
"Nein, ich heiße Tim."
"Du doch nicht. Der Designer. Auch'n Schluck? Warte mal, wie alt bist du denn?"
"Fast siebzehn."
"Dann nicht. Kauf dir eine Cola. Was machst du eigentlich hier?"
"Ich wohne hier."
"Hä?!"
"Der Karton da hinten ist meiner."
"Du kannst doch hier nicht ..."
"Fuck, Mist, Scheiße!" Laut fluchend erreichte eine Joggerin den rettenden Unterstand, schüttelte sich genervt Wasser aus Kleidung und ihren kurzen blonden Haaren und blieb verdutzt stehen. "Hanna? Hanna Ebner? Ich bin's! Lissi Siebert! Wir waren zusammen auf der Schule! Während der Sportwoche haben wir uns mit Bärbel und Steffi ein Zimmer geteilt!"
Hanna prostete ihr freudig zu. "So was. Und? Wie geht's dir so?"
"Das könnte ich dich fragen. Wieso sitzt du in einem Hochzeitskleid unter einer Brücke?"
"Hätte vorhin fast geheiratet."
"Aha." Lissi setzte sich im Schneidersitz neben sie. "Blöd gelaufen?"
"Kann man so sagen."
"Mach dir nichts draus. Habe auch schon zwei Ehen vermasselt. Schickes Kleid, übrigens."
"Danke", murmelte Hanna und trank noch einen Schluck.
"Alexander McQueen", erklärte der junge Mann neben ihr.
"Oh. Ja. Das ist Tim. Tim, darf ich dir Lissi vorstellen?", erinnerte die Braut sich an ihre Erziehung. "Tim wohnt hier. Er hat mir vorhin das Leben gerettet."
"Ich dachte, Sie wollten sich nicht umbringen?!", fragte er irritiert.
"Wollte ich auch nicht. Aber das konntest du ja nicht wissen." Entschlossen packte sie ihn an der Hand und zog ihn runter auf den Boden. "Du hast ein gutes Herz."
"Was heißt überhaupt er wohnt hier? Bist du obdachlos?", wandte sich Lissi direkt an den jungen Mann. Der blickte still auf den Fluss. "Was ist das denn für ein Unsinn? Du kannst doch hier nicht wohnen. Wovon lebst du denn?! Hast du Ärger mit der Polizei? Ein Alkoholproblem? Bist du drogensüchtig?"
Er zog die schmalen Schultern hoch. "Nicht jeder der kein Zuhause hat ist gleich kriminell oder ein Junkie! Ich mache jeden Job, den ich kriegen kann, okay? Und hier ist es gar nicht so schlecht!" Letzteres glaubten sie ihm sicher keine Sekunde. Er nahm es ihnen nicht übel. Er glaubte es sich selbst nicht. Dabei fiel ihm ein, dass er sich vor dem Winter dringend einen wärmeren Schlafsack organisieren musste.
Ein Handy vibrierte in dem zierlichen Beutelchen der Braut. "Meine Mutter schon wieder", erklärte diese knapp und drückte den Anruf weg.
"Willst du reden?"
"Da gibt es nicht viel zu sagen. Wir waren seit sechs Jahren zusammen, er ist Prokurist in der Firma meines Vaters, wird sein Nachfolger werden, und ich war der Bonus."
"Aha. Aber?"
"Er hat seit fünf Jahren eine Geliebte und ein Kind, er hat gesagt ich soll mich nicht so anstellen, meine Eltern waren der gleichen Meinung, da bin ich abgehauen." Verständnisvolles Nicken von beiden Seiten. "Und woran hat es bei dir gelegen?"
"Schwer zu sagen", sinnierte Lissi. "Vielleicht hätte ich meinen ersten Mann nicht mit meinem zweiten betrügen sollen."
"Hm. Ja, vielleicht."
"Und den zweiten nicht mit meinem Ex."
"Das könnte es gewesen sein", grinste Hanna und reichte Lissi die Flasche. Tim kicherte in den Kragen seiner abgetragen Jacke. Sah aus, als wäre er nicht der einzige mit Schwierigkeiten.
"Und? Jetzt?", wollte die Joggerin nach einigen Minuten des Schweigens wissen.
"Ehrlich gesagt, habe ich noch keinen Plan. Auf keinen Fall gehe ich zurück! Wie sieht's aus, Tim? Ist dein Karton groß genug für uns beide?" Aufmunternd legte die Frau im Traumkleid den Arm um seine Mitte und zog den Jungen an sich.
"Ähm ... Klar können Sie heute Nacht bleiben. Aber ... ich ... na ja. Ich steh nicht auf ... ältere Frauen."
"Ältere ...", Hanna schnaubte entrüstet. "Ich sollte beleidigt sein! Andererseits könntest du vermutlich mein Sohn sein. Ich wäre der Knaller gewesen, bei Teenager werden Mütter", überlegte sie. "Und überhaupt. Wir wissen wir ja wohl alle, dass du gar nicht auf Frauen stehst."
Tim wurde ein bisschen rot. "Ja. Na ja. Wenn das geklärt ist, Welcome Home!"
"Abgelehnt", schüttelte Lissi energisch den Kopf. "Aus vorhin erwähnten Gründen ist bei mir genug Platz. Kann mir die große Wohnung alleine sowieso nicht leisten."
Hanna nickte. Das war gar nicht so blöd. Wieder vibrierte ihr Handy. Diesmal ging sie ran. "Nein, ich bin fertig mit dir ... Keine Chance ... Nein, nicht die geringste ... Außerdem lebe ich jetzt mit einer Frau zusammen ... Ja, so was kann sich in zweieinhalb Stunden ergeben! ... Klar, ist das mein Ernst. Wir haben sogar schon ein Kind adoptiert ... Du mich auch."
Lissi brach in schallendes Gelächter aus.
"Was für ein Kind denn?", fragte Tim.
"Gott, bist du niedlich", stellte die Blonde fest. Die beiden Frauen erhoben sich und zogen ihn gleich mit hoch.
"Dich, Kleiner!"