"Sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!" Lissy rückte ihrem Freund die Krawatte zurecht. Seit zwei Jahren waren sie nun zusammen, da war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie ihren Liebsten vor den Eltern nicht mehr hatte verheimlichen können. Heute Abend war die junge Frau zum Abendessen nach Hause zitiert worden, und zwar in Begleitung.
"Ach, komm schon. So spießig können die doch gar nicht sein!"
"Du hast ja keine Ahnung", murmelte sie.
Während er fröhlich beschwingt auf die Klingel an Lissys Elternhaus drückte, wirkte sie, als wäre sie auf dem Weg zum Scheiterhaufen.
Eine sehr kleine, uralte Dame in einem fliederfarbenen Kostüm, das weiße Haar hochgesteckt und das liebenswerteste Grinsen im Gesicht, das Sam je gesehen hatte, öffnete die Tür.
"Urli!", rief seine Liebste überrascht aus. "Sam, das ist meine Uroma Amalia!"
"Urli, ich freue mich so!" Man sah Lissy an, wie glücklich sie war. "Ich wusste gar nicht, dass du heute auch kommst."
"Na hör mal, ich muss mir doch deinen Mann ansehen, Kleine", zwinkerte die Seniorin. "Außerdem wollte ich dich nicht mit diesen Spießern alleine lassen", setzte sie verschwörerisch nach. "Erzähl, mein Junge", forderte sie Sam sogleich auf. "Was machst du so?"
"Ich studiere Musik."
"Schlagzeug, wie wir erfahren haben?" In der Frage von Lissys Vater war die deutliche Missbilligung nicht zu überhören.
"Ein Musiker!", Die Uroma schlug begeistert ihre Hände zusammen. "Ihr müsst wissen, ich hatte 1964 eine Affäre mit einem Cellisten."
Sam grinste bis über beide Ohren.
"Schön wie die Sünde, dieser Mann!", seufzte Amalia.
In einem hilflosen Versuch das Thema zu wechseln, sprach Lissys Mutter ein anderes an. "Wie unsere Tochter uns mitgeteilt hat, gedenken Sie beide zusammenzuziehen? Wie stellen Sie sich das v..."
"Seid ihr sicher, Kinder?", wurde die Frau von der Älteren unterbrochen. "So eine Fernbeziehung hat was für sich, das könnt ihr mir glauben", grinste sie verschmitzt. "Hält die Liebe jung!"
"Ja, Urli? Ist das so?", wollte Lissy wissen.
"Oh ja! Ihr trefft euch in einer romantischen Hütte am Waldrand. Die Zeit füreinander ist gestohlen. Jenseits des Alltags, gehört sie nur euch beiden." Uromas Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz. "Ihr esst nicht. Ihr schlaft nicht. Alles was ihr tut, ist euch leidenschaftlich zu lieben. Immer und immer wieder. Im Morgengrauen trinkt ihr erschöpft dampfend heißen Tee. Die roten Emailtassen bleiben achtlos im Schnee stehen, auf dem Bänkchen neben der Tür, wenn ihr euch voneinander verabschiedet. Er steigt in seinen Wagen, du in deinen, ..."
"Ferdinand", meinte Lissys Mutter pikiert zu ihrem Mann, "deine Großmama schwelgt wieder in Jugenderinnerungen."
"Quatsch!", grätschte Amalia dazwischen. "Der hat meine Jugend nie gesehen! Da war ich doch längst verheiratet." Sie nahm einen großzügen Schluck aus ihrem Weinglas. "Wisst ihr, ich habe einen zahmen Trottel zum Mann genommen und feurige Liebhaber gehabt! Beim nächsten Mal würde ich es umgekehrt machen."
"Glaubst du, das wäre besser?", fragte Lissy vergnügt.
"Nein, aber anders."
Sie hatten es hinter sich gebracht. Endlich waren sie alleine auf dem Balkon der jungen Frau, schauten in die winterliche Schneelandschaft und tranken heißen Tee. "Lissy? Ich muss dir was sagen." Sam klang sehr feierlich.
"Dass es schade ist, dass wir keine roten Emailtassen haben? Habe ich mir auch gerade gedacht."
"Unbedingt. Sollten wir besorgen. Zum achtlos stehen lassen", flüsterte der junge Mann seiner Liebsten ins Ohr. "Auch eine dazu passende Kanne. Aber da ist noch etwas."
"Ja?"
"Ich stehe total auf deine Uroma."
Die junge Frau prustete los. "Sie mag dich auch."
"Eben. Ich spüre so was. Da ist was Besonderes zwischen uns und du solltest das sehr ernst nehmen. Ich will einfach nur, dass du weißt, ich habe Optionen!"
"Meine Uroma? Nur zu. Sag mir nachher, wie es für dich war!"
"Ey", konterte er, "was im betreubaren Wohnen passiert, das bleibt auch im betreubaren Wohnen, klar? Amalia wäre direkt meine zweite Wahl, ich zieh das durch, ich schwör's, wenn ..."
"Wenn?"
"Na ja", murmelte er plötzlich ungewohnt kleinlaut, während er ein Schächtelchen aufklappte, in dem sich ein glänzender, goldener Ring befand. Ein Rätsel, wo er es hergezaubert hatte. "Wenn du nicht auf sie hörst und vielleicht doch lieber einen zahmen Trottel heiraten möchtest."