Sebastian lag schlaflos in seinem Bett. Sein kleiner Bruder war immer noch nicht zurück. Doch das war nicht das Einzige, das ihn wach hielt. Sobald er die Augen schloss, sah er im Geiste die Szene, die er im Schutz der Dämmerung beobachtet hatte: Jonathan, der Thomas mit solch intensiver Hingabe und Begeisterung erst das Gesicht leckte und sich dann in dessen Arme schob. Thomas, der vor Freude lachend Jonas Fell kraulte und ihn umarmte. Sebastian brauchte keine weiteren Erklärungen, um zu verstehen, was genau zwischen dem Menschen und seinem Bruder vorging. Als Wolf konnte er es riechen.
Seufzend setzte er sich auf die Bettkante und rieb die müden Augen. Wieso hatte er nicht früher verstanden, wie wichtig Thomas für Jonathan war? Er hatte so viele Möglichkeiten dazu gehabt. Spätestens damals, als er seinen Bruder mit einem Kaninchen in den Fängen auf dem Weg zu dem verletzten Menschen getroffen hatte, hätte es ihm doch klar sein müssen: Irgendetwas machte Thomas für Jonathan zu etwas Besonderem.
Steffi, die all diese Vorkommnisse nur aus seinen Erzählungen kannte, hatte beinahe die richtigen Schlüsse gezogen, davon war er inzwischen überzeugt. Sebastian seufzte, als er an ihr Gespräch dachte. Dass er eifersüchtig auf die Zuneigung war, die sein Bruder diesem Menschen entgegenbrachte, hatte sie präzise erkannt, gestand er sich ein. Und auch der Rest ihrer Analyse war bis auf eine einzige Sache korrekt. Oh, wie gerne würde er ihr sagen, dass sein Bruder die von ihr vermutete Art von Anziehung nicht empfand! Doch es war Jonas Geheimnis und er würde sein Versprechen, es für sich zu behalten, auf keinen Fall brechen. Nicht einmal seiner Gefährtin gegenüber. Dabei würde es so Vieles vereinfachen, so viele Spekulationen und Gerüchte unterbinden, die Jonathan insgeheim belasteten.
Er atmete einmal tief durch, nickte entschlossen und hob den Kopf. Jetzt, da er wusste, was der Grund für seine Abneigung gegen Thomas war, fühlte er sich endlich in der Lage, sinnvolle Schritte zu unternehmen. Fakt war: Er würde diesen Menschen nicht mehr loswerden, selbst, falls er kein Kinfolk war. Also musste er jetzt das Beste daraus machen.
Was genau empfand Jona wohl für Thomas? Es fiel Sebastian schwer, ein Wort dafür zu finden. In Wolfsgestalt verstand er es instinktiv, denn Wölfe unterschieden nicht zwischen der Liebe zu Familien- und Rudelmitgliedern, Gefährten oder echten Freunden. Dieses Gefühl zu kategorisieren, in verschiedene Arten zu unterteilen war etwas zutiefst Menschliches.
Sebastian schmunzelte. Warum kümmerte es ihn eigentlich? Er war kein Mensch. Er wusste, wie glücklich es seinen Bruder machte, Thomas gefunden zu haben. Es war das erste Mal, dass Jonathan nicht nur auf sein Umfeld reagierte, sich mit Kinfolk anfreundete, das ohnehin mehr oder weniger Teil seines Rudels war, sondern sich von sich aus bemüht hatte, jemandes Freundschaft zu gewinnen. Und wenn Sebastian fair war, musste er anerkennen, dass Thomas kein übler Kerl zu sein schien, wenn er nicht gerade unerwünschten Besuch abwies. Er war gradlinig und direkt. Eigentlich recht sympathische Eigenschaften.
Leises Pfotengetrappel auf der Treppe verriet, dass Jonathan endlich nach Hause gekommen war. Der Takt seiner Schritte bewies, dass er nach dem langen Besuch bei Thomas gute Laune hatte.
Sebastian lächelte. Er fühlte sich in seine Jugendzeit zurückversetzt: Wenn sein kleiner Bruder allein unterwegs gewesen war, war er immer wach gelegen und hatte auf dessen Rückkehr gewartet, auf leise Schritte auf der Treppe, die ihre Mutter nicht weckten. Erst, wenn er das Knarzen des schon damals alten Bettgestells hörte, war klar, dass der Kleine nicht auf eine nächtliche Unterhaltung bei ihm vorbeikäme.
Wie war es wohl heute? Aufmerksam lauschte er, als Jona die Treppe verließ.
„Du bist wach?“ Jonathan sah überrascht zu seinem auf der Bettkante sitzenden Bruder. „Die Tür war nur angelehnt.“ Er lächelte. „Wie früher.“
„Wie früher.“ Sebastian erwiderte das Lächeln und forderte Jonathan mit einer Geste auf, sich neben ihn zu setzen. Nur sie beide, mitten in der Nacht. Die Situation wirkte unglaublich vertraut. „Wie war’s?“, begann er ihr Brüdergespräch.
Jonathans Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Grinsen. „Es war ... toll. Wir haben unheimlich lange geredet, ganz offen und ehrlich, so wie du und ich. Und ... Wir sind Freunde, Sebastian.“ Sein Grinsen wurde noch breiter und er senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Er findet mich nicht seltsam.“
Sebastian sah ihn verblüfft an. Es dauerte einen Moment, bis er die Sprache wiederfand. „Wie ... Warum hast du es ihm erzählt?“
Jonathan zuckte ausweichend mit den Schultern. „Weiß nicht. Es ... ergab sich einfach.“ Das, was er und sein Freund einander heute Nacht anvertraut hatten, ging nicht einmal seinen Bruder etwas an. Seine eigene Seite der Unterhaltung kannte der zwar, aber sie ergab ohne die Einblicke in Thomas‘ Persönlichkeit wenig Sinn.
„Unsinn.“ Sebastian sah ihn ernst an. „Du hast es nicht einmal Mareike gesagt, Jona, und zwischen euch beide passt nicht mal ein Blatt Papier.“
Dieses Bild brachte Jonathan zum Schmunzeln. „Stimmt schon“, gestand er. Wie sollte er das erklären? „Irgendwie ist er ... hartnäckiger.“ Er runzelte die Stirn, versuchte, das Erlebte in Worte zu fassen, scheiterte aber und seufzte. „Ich kann es dir nicht sagen. Nicht nur, weil ich es gar nicht formulieren kann, sondern auch, weil er mir Sachen erzählt hat, die privat sind, verstehst du?“
Sebastian zögerte. Es fiel ihm sichtlich schwer, zu akzeptieren, dass er nicht mehr erfahren würde, doch dann nickte er widerwillig. „Okay. Aber wie hat er reagiert? Kannst du mir wenigstens das erzählen?“
Der unverhohlen flehende Tonfall seines neugierigen großen Bruders ließ Jonathan auflachen. Er stieß ihm grinsend einen Ellbogen in die Rippen. „Hör auf, wie ein Welpe zu gucken!“ Wie sollte er das erklären? Er entschied sich, seinem Bruder eine Kurzversion der Ereignisse zu liefern „Er hat ... ja, irgendwie gar nicht reagiert. Also, nicht so richtig. Alles, was er dazu meinte, war, das sei doch okay. Und damit war das Thema erledigt.“ Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Als wäre es eine ganz normale Sache.“
Endlich! Instinktiv zog Sebastian ihn in eine feste Umarmung. Beinahe kamen ihm die Tränen, so sehr freute er sich: Sein Bruder hatte jemand anderem als ihm von seiner Asexualität erzählt und war weder auf Ablehnung noch auf Unverständnis gestoßen. Im Stillen leistete er Abbitte für all die negativen Gefühle, die er Thomas entgegengebracht hatte. Dieser Mann hatte es irgendwie geschafft, seinen Bruder endlich zum Reden zu bringen und ihm mit seiner Reaktion zu zeigen, dass er eben nicht „seltsam“ war. Auch, wenn er es noch nicht wusste, hatte er damit Sebastian einen unschätzbaren Dienst erwiesen.
Hoffentlich war er wirklich Kinfolk.
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Trotz der kurzen Nacht war Thomas schon in der Morgendämmerung mit den ersten Liedern der Vögel aufgewacht. Er fühlte sich zwar müde, aber dennoch voll Energie und guter Laune. Er packte fröhlich Melodien summend die wenigen Dinge, die er mitzunehmen gedachte, in seinen Rucksack: ein paar kleine Schnitzereien zum Verschenken, zwei Ersatz-T-Shirts, Unterwäsche, Socken, Zahnbürste und dergleichen. Lachend legte er den Rasierer aus der Hand, als er sich erinnerte, mit welch angewiderten Grimassen Jonathan gestern versucht hatte, den Geschmack seines Rasierwassers wieder loszuwerden. Das sollte nicht noch einmal passieren: Ein Dreitagebart stand ihm auch nicht schlecht.
Beschwingt machte er sich durch die herrlich duftenden feuchten Wiesen auf den Weg hinunter ins Tal.
Am Haus der Brüder empfing Thomas neben einer weit geöffneten Haustür unerwartetes Chaos. Mareike saß am, nein, lag halb auf dem Esstisch, hielt sich den Bauch und lachte so laut, dass man sie bis in den Garten hinaus hörte. Ihr gegenüber saß Sebastian und wischte sich Lachtränen aus den Augen, während Jonathan, der mühsam die Mundwinkel in einer neutralen Position behielt und so tat, als ob er das Ganze hier nicht ebenfalls lustig fände, versuchte, Haltung zu bewahren.
„Darf ich reinkommen?“ Thomas hielt die offene Tür zwar für eine Einladung, ging aber lieber auf Nummer sicher und betrat das Haus erst, als Sebastian ihn immer noch grinsend hereinwinkte.
Die Stimmung im Raum war so gut, dass Thomas‘ Mundwinkel unwillkürlich ebenfalls zuckten. „Was ist denn los?“, erkundigte er sich bei Jonathan, der ihm entgegenkam und ihn begrüßte.
„Hier werden vollkommen frei erfundene Geschichten über einen gewissen Wolf erzählt, der bei seinem ersten Vollmond angeblich so fokussiert auf das Ausgraben eines interessant riechenden Kaninchenbaus war, dass er den Fuchs darin total übersehen hat.“ Seine Augen funkelten vor Vergnügen, während er möglichst beiläufig mit den Schultern zuckte und eine Kopfbewegung in Sebastians Richtung machte. „Er sollte eine alternative Karriere als Welpengeschichtenerzähler in Betracht ziehen.“ Dann legte er eine Hand auf Thomas‘ Schulter und zog ihn lächelnd mit sich zurück zum Tisch. „Es ist noch was vom Frühstück da – du hast doch bestimmt Hunger, oder?“
Thomas schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Welpengeschichten. Ihr habt doch alle einen an der Waffel.“ Nicht, dass ihn das störte. Ganz im Gegenteil. Die Atmosphäre, das Verhalten der anderen und insbesondere die Begrüßung durch Jonathan waren so viel angenehmer und schöner als am Vortag, dass er sich richtiggehend willkommen fühlte. Und das war ein verdammt gutes Gefühl.
Nur Sebastian warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte. Himmel, hatte er etwa schon wieder etwas falsch gemacht? Inzwischen ging ihm diese Rücksichtnahme auf den Leitwolf gehörig gegen den Strich!
Doch er wurde positiv überraschte. „Waffel? Waffeln gibt’s keine, wir haben nur Brötchen da. Setz dich und greif zu. Mit leerem Magen wandert es sich schlecht.“
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Thomas saß pappsatt zwischen Jonathan und Mareike auf dem Sofa, als Mike von einer Einkaufstour im nächsten Baumarkt zurückkehrte und auffordernd in die Hände klatschte. „Na dann, ran an den Speck! Das Zeug ist im Auto – laden wir das mal aus und fangen an, Jonathan!“ Er beugte sich zu Mareike hinunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Und du gehst dir die Gegend zeigen lassen?“
Sie nickte und stand schwungvoll auf, um ihren Freund einmal fest zu umarmen. „Wie lange braucht ihr beiden, sprich, wann sollen wir wieder da sein? Sebastian kommt am frühen Nachmittag von seinen Terminen zurück.“
Mike dachte einen Augenblick nach. „Sechs Stunden dürfte das schon dauern.“ Er zwinkerte Thomas zu. „Bring sie mir pünktlich heim.“
Bevor der etwas erwidern konnte, stieß Jonathan ihm leicht den Ellbogen in die Rippen und beugte sich zu ihm. „Zeig ihr aber nicht zu viel“, raunte er. „Sie erzählt sonst tagelang von nichts anderem mehr!“
Thomas ließ sich vom Grinsen seines Freundes anstecken, auch, wenn er nicht genau verstand, worauf der hinauswollte. Es war aber auch nicht wichtig. Er freute sich einfach, Teil dieser freundschaftlichen Neckereien zu sein.
Mareike streckte ihnen die Zunge raus und forderte ihn mit einer Geste zum Aufstehen auf, der er sogleich Folge leistete. An der Tür drehte er sich noch einmal um und nickte Jonathan und Mike zu. „Sechs Stunden also. Viel Erfolg bis dahin!“ Dann verließ er voll Vorfreude das Haus. Endlich war genügend Zeit, um mehr über die Welt der Werwölfe zu erfahren!